October 31, 2010

Mörderische Logik christlicher Vorstellungswelten



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 96-105) "Ihr habt den Teufel zum Vater" + Vom mörderischen Blut des "Erlösers" ...

Vertieft man sich in die geschichtliche Entwicklung und Natur des kirchlichen Antisemitismus, stößt man irgendwann auf das Saatbeet, aus dem die Vorstellungen erwuchsen, welche die Täter des Holocaust erfüllten.
Eine entsprechende Darstellung kann man um vier Hauptthemen gruppieren.
(Siehe Goldhagen, "Hitlers willige Vollstrecker", S. 45-105, zu einer ausführlichen Darstellung dieser Fragen. Meisterhaft und originell schildert die Entwicklung des christlichen Antisemitismus und dessen Fortsetzung nach der Reformation in Form des katho. Antisemitismus Carroll in Constantine's Sword.)

Erstens: Die christliche Vorstellung, das Judentum sei überholt, oft auch "Substitutionstheorie" genannt, hielt daran fest, mit der Erfüllung der jüdischen Messiasprophezeiung durch Jesus habe eine neue, eine christliche Ära begonnen, die die des nunmehr anachronistisch gewordenen Judentums ablöste. So wie das Judentum zum Christentum geworden war, sollten die Juden zu Christen werden. Weil die Weigerung der Juden, der christlichen Forderung nach Aufgabe ihres Judentums nachzukommen, die christlichen Behauptungen unausgesprochen, aber grundlegend herausforderte, und weil diese Herausforderung von dem einstmals auserwählten Volk Gottes kam, wurde die Herabsetzung der Juden für das Christentum zu einer zentralen Angelegenheit.
Wenn die Juden, das Volk Gottes, die Göttlichkeit Jesu und seiner Kirche ablehnten, war entweder Jesus nicht göttlich und die Kirche im Irrtum, oder das Volk war von Gottes Pfad abgekommen.
So lässt das Johannes-Evangelium Jesus zu den Juden sagen:

"Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes.
Ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid." (Joh 8:47)

Wenn nicht aus Gott, woher dann?
Johannes zufolge erkennt Jesus die wahre Identität und Natur der Juden und spricht:

"Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit, denn es ist keine Wahrheit in ihm."
(Joh 8:44-46)

Dass die Juden zu jedem Frevel fähig seien, auch dem, dem Teufel zu dienen, diese Ansicht verbreitete sich im Mittelalter über ganz Europa.
Dieses angebliche Bündnis mit dem Teufel begründete man mit der Ausgangslüge, die Juden hätten Jesus ermordet, und alle Juden, tituliert als "Christusmörder", seien bis in alle Ewigkeit für dieses Verbrechen verantwortlich.
Carroll schreibt (S. 59), historisch habe das Christentum zwar lebende Juden als ein negatives Anderes benötigt, gegen das man die wahren christlichen Behauptungen geltend machen konnte, aber

"Ersetzung implizierte die Beseitigung des Ersetzten.
Diese Auffassung sollte zur Judenmission und zu Vertreibungen führen, und letztlich sollte sie mit dem versuchten Völkermord auf ihren perversen Kern reduziert werden."

Zweitens: Der christliche Antisemitismus ist vollkommen unabhängig davon, wie Juden wirklich sind.

"Die uralte so genannte 'Judenfrage' war ein Problem der Christen und wird es bleiben, Ausgeburt einer ignoranten christlichen Fantasie." (Carroll S. 250)

Es ist eine offensichtlich falsche Behauptung, dass Vorurteile von denen ausgelöst werden, die man hasst oder für hassenswert hält, seien es Juden, Schwarze, Schwule oder Frauen – in diesem Fall eben Juden.
(Eine solche Behauptung ist ihrerseits ein typischer Ausdruck des Vorurteils, das sie zu erklären vorgibt.)
Für den Antisemitismus und andere Vorurteile sind deren Träger verantwortlich sowie die Gesellschaften und Kulturen, die ihnen diese Vorurteile beibringen.
Die meisten Antisemiten haben, solange man zurückblickt, nie einen Juden kennen gelernt (man denke an all die europäischen Gebiete, aus denen die Juden vor Jahrhunderten vertrieben wurden, der Antisemitismus sich aber dennoch bis in diese Zeit gehalten hat), und doch haben sie lebhafte, oft dämonische Vorstellungen von Juden, die ihnen aus der Vorstellungswelt ihrer Kultur und Religion vermittelt wurden.
Die Antisemiten sind auf wirkliche Juden nicht angewiesen, um zu Vorurteilen über sie zu kommen.

Drittens: Kennzeichen des Antisemitismus ist ein direkter, wenn auch verwickelter Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Taten. Aus dem grundlegenden christlichen Dogma der Substitutionstheorie entwickelten sich, durch den Ausgangsvorwurf des Christusmords mit einem unerschöpflichen Vorrat an emotionalem Treibstoff versorgt, im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Spielarten des Antisemitismus, die zwar miteinander verwandt waren, jedoch in den Einzelheiten ihrer Dämonologie oft voneinander abwichen.
Und in Abhängigkeit von der jeweils herrschenden christlichen Lehre und den gesellschaftlichen und politischen Umständen entstanden daraus unterschiedliche Eliminationsstrategien. Das christliche Credo der Ablösung des Judentums war im Hinblick auf das Handeln multipotent, d.h., je nach den Umständen konnten unterschiedliche Programme zur Ausschaltung der Juden daraus abgeleitet werden, weil es für die christliche "Judenfrage" mehrere denkbare Ausschaltungslösungen gab: Vertreibungen, Pogrome, Zwangstaufen, Ghettoisierung und umfassende mörderische Angriffe. Einen direkten Zusammenhang zwischen antisemitischen Überzeugungen und antisemitischen Taten gibt es sicherlich nicht, weil daran auch andere gesellschaftliche, kulturelle und speziell politische Faktoren beteiligt sind, doch legen bestimmte Ansichten über Juden, wenn sie von politischen Führern aktiviert und kanalisiert werden, ihren Trägern sicherlich bestimmte Handlungsweisen nahe.
Was den Antisemitismus betrifft, genügte es oft, bei Führern und gemeinem Volk den Wunsch zu wecken, die unter ihnen lebenden Juden loszuwerden, bisweilen mit tödlicher Gewalt.

Auch sollte klar sein, dass der Antisemitismus allein kein Programm des systematischen Massenmords hervorbringt. Diejenigen, die leugnen wollen, dass der kirchliche Antisemitismus oder der Antisemitismus der gewöhnlichen Deutschen einen nennenswerten oder überhaupt einen ursächlichen Anteil hatten am Zustandekommen des Holocaust, behaupten, dass, wenn die eine oder andere Spielart des Antisemitismus für das Zustandekommen des Holocaust entscheidend gewesen wäre, der Holocaust oder etwas Ähnliches längst vorher oder in anderen antisemitischen Ländern hätte eintreten müssen. Das ist eine offenkundig falsche Argumentation. Sie vernachlässigt die erwiesene Tatsache, dass für die Verwirklichung eines umfassenden Massenmordprogramms zwei Faktoren notwendig sind, von denen jedoch keiner für sich allein hinreichend ist: eine politische Führung, die den Massenmord in die Wege leitet und organisiert, und Menschen, die bereit sind, diese Entscheidungen umzusetzen.
Ist der eine Faktor (eine stark antisemitische Bevölkerung) gegeben, nicht aber der andere (weil die politische Führung es aus welchem Grund auch immer ablehnt, sich auf eine systematische Ausrottungspolitik einzulassen), kommt ein umfassendes Massenmordprogramm nicht zu Stande. In der Neuzeit sind diese beiden Faktoren nur in Deutschland und dann in einigen seiner Satellitenstaaten zusammengetroffen.

Vorstellungen, römisch-universal kodifiziert


Das vierte wichtige Merkmal des Antisemitismus ist demnach die Neigung der Antisemiten zur Gewalt gegen Juden, ja sogar zum Massenmord. Die Kirche nahm eine Haltung ein, die für die Juden in physischer und sozialer Hinsicht und für sie selbst in lehrmäßiger und moralischer Hinsicht katastrophal war. Sie empfahl, die Juden nicht anzugreifen, und zwar auf der Grundlage einer auf Augustinus zurückgehenden Vorstellung, die erstmals unter Papst Gregor I. in verschiedenen Proklamationen kodifiziert wurde, darunter Sicut Judaeis aus dem Jahr 598: Danach sollten die Juden zwar nicht vernichtet werden, sondern rechtlichen Schutz erhalten, allerdings mussten sie erhebliche Einschränkungen und Benachteiligungen erdulden, wie es jenen geziemt, die die Kirche ablehnen.
Derselben Kirche fiel es jedoch immer wieder schwer zu verhindern, dass die von ihr selbst unter ihren Anhängern erzeugte Woge des Zorns gegen die Juden die schwachen Dämme ihrer förmlichen Gewaltverbote sprengte.

"Tausend Jahre lang," schreibt Carroll, "sollte das zwanghaft wiederkehrende Muster dieser Ambivalenz bei Bischöfen und Päpsten auftauchen, die Juden in Schutz nahmen, aber vor ausdrücklich christlichen Pöbelhaufen, die Juden auf Grund dessen, was Bischöfe und Päpste über die Juden gelehrt hatten, umbringen wollten."

Die schwachen Hemmimpulse der Bischöfe und Päpste "mussten versagen", sobald "Juden auch nur daran zu denken wagten, sich wirtschaftlich oder kulturell oder in beiderlei Hinsicht zu entfalten," (Carroll S. 219, 248 und Trachtenberg, "The Devil and the Jews", S. 7) oder wenn Christen die Schuld an Naturkatastrophen und gesellschaftlichen Missständen aus unerfindlichen Gründen den dämonisierten Juden anlasteten. Ein solcher, bereits erwähnter Fall ereignete sich Mitte des 14 Jh.s zur Zeit der Pest, als Christen vor allem in dt. Territorien die Juden von rund 350 Gemeinden, darunter so bedeutende Zentren wie Mainz, Trier und Köln, ausrotteten. Diese mörderische Logik, dass Päpste und Bischöfe Katholiken davon abhalten mussten, das zu befolgen, was Päpste und Bischöfe ihnen eingeschärft hatten, war auch in den 30er und 40er Jahren des 20. Jh.s wirksam. Der Papst und die meisten Bischöfe schauten zu, als die Deutschen und ihre örtlichen Helfer von denen viele den auf die Kirche zurückgehenden Antisemitismus verinnerlicht hatten – die Juden aus einem katho. Land nach dem anderen, aber auch aus nichtkatho. Ländern deportierten und ermordeten. Diesmal machten sie nicht einmal den Versuch, sie in Schutz zu nehmen.

Wie Carroll zeigt, steht für all das das allerheiligste und das zentrale Symbol des Christentums, das Kreuz. Das Christentum entwickelte sich aus einer Religion, die das Leben Jesu feierte, in eine Religion, die auf seinen Tod fixiert ist, mit allen Konsequenzen (eine zufällige Wendung, welche die katholische Kirche und andere christliche Kirchen umkehren könnten).
Die verheerendste Konsequenz war die christliche Fixierung auf das Volk, das angeblich die Kreuzigung veranlasste, wodurch das Kreuz gleichzeitig zu einer Waffe gegen die "Christusmörder" wurde. Die Ursache dieser uralten, aus christlicher Ignoranz geborenen "Judenfrage" ist, wie Carroll bemerkt (S. 250),

"so offenkundig, dass wir sie als solche kaum wahrzunehmen vermögen, und dabei war sie die ganze Zeit da. Ein fehlgeleiteter Kult des Kreuzes ist in dieser Geschichte allgegenwärtig, von der Milvischen Brücke [wo Konstantin 312 in der Nacht vor einer siegreichen Schlacht um die Oberherrschaft im Römischen Reich ein Kreuz am Himmel sah und daraufhin dem Christentum den Weg zur Staatsreligion ebnete] bis Auschwitz."

Die Kreuzzüge waren Kriege des Kreuzes, die Jerusalem der Herrschaft der Muslime entreißen sollten, doch die ersten Opfer des Ersten Kreuzzugs im Jahr 1096 waren – vollkommen logisch – Juden, die Juden von Mainz.
Ein jüdischer Chronist fängt die vernichtende Logik des Antisemitismus ein:

"Und sie sprachen einer zum anderen: 'Sehet, wir ziehen nach einem fernen Lande, ziehen dahin, um mit den Königen des Landes Krieg zu führen, wir wagen unser Leben, um all jene Nationen, die nicht an den Gekreuzigten glauben, zu töten und zu zertrümmern – um wie viel mehr verdienen es die Juden, die ihn umgebracht und gehängt haben!' So wiegelten sie alle Enden und Ecken gegen uns auf, beschlossen und sprachen: 'Entweder müssen die Juden sich zu unserem Glauben bekehren oder sie werden vertilgt sammt Kind und Säugling!' Sie setzten ein Zeichen des Kreuzes an ihre Kleider, die Fürsten sowohl wie das Landvolk."
(Zitiert nach Adolf Neubauer und Moritz Stern, "Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge", Berlin 1892, S. 169. Siehe auch Carroll S. 237.)

Die Entwicklung des Kreuzes zu einem antisemitischen Symbol und einer antisemitischen Waffe lässt sich vom christianisierten Römischen Reich Konstantins über die mittelalterlichen Kreuzzüge bis in die jüngste Zeit verfolgen, und sie gipfelt darin, dass einige Katholiken letzthin versucht haben, Auschwitz durch Ansiedlung eines Nonnenklosters und Aufstellung eines riesigen Kreuzes "zu entjuden".
Seit Konstantin das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches machte, also fast zwei Jahrtausende lang, stand das Kreuz für die Ermordung Jesu, und unausgesprochen verwies es auf die Juden als seine angeblichen Mörder. "Auf mannigfaltige Weise," schreibt Carroll, "war das Kreuz selbst in diese Kampagne einbezogen worden [...] und nun sollte jedes Kreuz in der westlichen Christenheit zu einer unfehlbaren Verkündigung eben dieser Lehre werden." (S. 277, siehe auch S. 191, 196 und 202.)

Angesichts der zahlreichen historischen Fälschungen und Verleumdungen über Juden in der christlichen Bibel (siehe Teil III), wenn es um Juden geht, einschließlich der expliziten, falschen und unmoralischen Behauptung, alle jüdischen Zeitgenossen Jesu und ihre Nachkommen seien für seinen Tod verantwortlich, ist es nur allzu wahrscheinlich, dass viele Christen weiterhin Juden für den Tod Jesu verantwortlich machen werden. Das Matthäus-Evangelium erfindet eine Szene, in der das ganze jüdische Volk die Kreuzigung Jesu verlangt und schreit "Ans Kreuz mit ihm!", die Schuld bereitwillig auf sich nimmt und wegen dieser Schuld bereitwillig einen Fluch über seine eigenen Nachkommen ausspricht:
"Da rief das ganze Volk
[nachdem Pilatus erklärt hatte, am Blut dieses Menschen unschuldig zu sein]:
Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matthäus 27:15-26)
Hier ist der paradigmatische Vorwurf der Kollektivschuld allen Juden bis in alle Ewigkeit als unauslöschlicher Stempel aufgedrückt, obwohl das jüdische Volk Jesus nicht getötet hat und in keinem Sinne für seinen Tod verantwortlich war. Es waren die Römer, die die Entscheidung trafen, ihn zu töten, und die ihn auf typisch römische Art durch Kreuzigung hinrichteten.

Es ist angesichts dieser unbestreitbaren Tatsachen die Frage gestellt worden, warum sich die katholische Kirche und andere christliche Kirchen, wenn sie in dem Drama um den Tod Jesu die Rolle eines kollektiven Bösewichts zu besetzen hatten, nicht auf die Römer und deren Nachkommen – die heutigen Italiener – konzentriert haben. Doch Rom war zu der Zeit, als die Evangelien verfasst wurden, die Supermacht der westlichen Welt, und Italien sollte zur Basis für die katholische Kirche werden und die meisten ihrer Würdenträger liefern, während die Juden das schwache und verwundbare Volk waren und das schwache und verwundbare Volk geblieben sind, dessen Tradition sie sich anzueignen suchten und von dessen Gott sie sagten, er sei nun ihr und ausschließlich ihr Gott. Die katholische Kirche hat zwar 1965 endlich erklärt, es sei falsch, die Juden von heute für den Tod Jesu verantwortlich zu machen, und seitdem den expliziten Antisemitismus großenteils aus ihrer Lehre, ihrer Theologie und ihrer Liturgie entfernt, doch das Kreuz, das zentrale und höchst beziehungsreiche Symbol des Katholizismus, wird zusammen mit dem aus der Bibel abgeleiteten antisemitischen Schmähwort "Christusmörder", wie Caroll argumentiert, wohl auch künftig Antipathie gegen Juden hervorrufen.

Diese kurze Analyse des Antisemitismus der katho. Kirche kann nicht die ausführliche Darstellung ersetzen, die es in zahlreichen Versionen gibt. (Carrolls Darstellung in Constantine's Sword ist flüssig, voller eindrucksvoller Erkenntnisse, treffender persönlicher Reflexionen und besticht durch Präzision und Klarheit. Als weitere Beispiele siehe Malcolm Hay, "Europe and the Jews – The Pressure of Christendom Over 1900 Years", William Nicholls, "Christian Antisemitism – A History of Hate", Northvale, N.J., 1995 und James Parkes, "Antisemitismus", München 1964.) Ich will sie hier nicht noch wiederholen, so sehr sie es auch verdient, in christlichen Kulturen immer wieder erzählt zu werden. Nur so viel: Der ehemals gesamteuropäische Antisemitismus, den ein Gelehrter beschreibt als einen "Hass, der so unermesslich und abgrundtief, so intensiv ist, dass man vergeblich um Verständnis ringt," und in dessen Gefolge es zu zahlreichen Angriffen mit dem Ziel der Ausschaltung kam, bis hin zu Gewalttaten, die an Völkermord grenzten, dieser Antisemitismus verschwand nicht einfach mit der Aufklärung und der Moderne, doch ging er in einigen Ländern und bei bestimmten Gruppen allmählich zurück. Die Kirche indes verbreitete ihn weiterhin systematisch, während sich daneben eine neue, abgeleitete, rassistische Form des Antisemitismus zu entwickeln begann.

Die wurde vor allem, wenngleich nicht nur im Deutschland des 19. Jh.s populär, wo die christliche Litanei der emotional wirkungsvollen judenfeindlichen Vorwürfe durch ein neues, pseudowissenschaftliches Rassenprinzip verschärft wurde, ergänzt durch neue, zeitgemäße Bezichtigungen – Bezichtigungen, deren sich übrigens christliche wie rassistische Antisemiten gleichermaßen bedienten.
Der christliche Antisemitismus hatte sich stets der Sprache und den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit angepasst und mit neuen antisemitischen Vorwürfen auf politische und wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen reagiert.
# Die moderne Welt war das Zeitalter der Nationen, also sagte man den Juden nach, sie unterminierten die Einheit der Nation.
# Es war das Zeitalter des sich industrialisierenden Kapitalismus, also sagte man den Juden nach, sie zögen die Fäden und beuteten ganze Volkswirtschaften aus.
# Es war das Zeitalter der Säkularisierung, also sagte man den Juden nach, sie griffen das Christentum und die Moral im Allgemeinen an.
# Es war das Zeitalter wachsender Forderungen nach politischer und wirtschaftlicher Teilhabe und Gerechtigkeit einschließlich marxistischer Forderungen, also sagte man den Juden nach, sie hetzten die Menschen zu politischer Destabilisierung und Revolution auf.

Die uralte christliche Sicht der Juden als Urheber von allerlei Übeln machten sich rassistische Antisemiten instinktiv zu Eigen, vor allem in Deutschland. Deutschsein wurde verschmolzen mit Christentum, wodurch Jüdischsein zum bösen Anderen wurde, nicht nur für die Christenheit, sondern auch für Germanien. Das Christentum überlieferte den modernen rassistischen Antisemiten eine wirkungsvolle Dämonologie, eine heftige emotionale Abneigung gegen Juden und ein Bild des Juden als des finsteren Anderen, der unaufhörlich das Gute mit Stumpf und Stiel zu zerstören sucht, wobei als Stumpf im Falle Deutschlands das deutsche Volk betrachtet wurde.

Das ganze 19. Jh. hindurch und bis weit ins 20ste hinein, die 30er und 40er Jahre eingeschlossen, verbreitete die katholische Kirche in Veröffentlichungen und Predigten weiterhin antisemitische Lügen und Hassparolen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie mit dem, was rassistische Antisemiten sagten und forderten, weitgehend übereinstimmen konnte, auch wenn sie gewöhnlich nicht die Ansicht der Rassisten teilte, dass die vermeintliche Bösartigkeit der Juden angeboren sei, denn dann hätten Juden durch Übertritt zum Christentum und Taufe nicht erlöst werden können. Für das gemeine Volk, das kein Ohr für die feinen Nuancen des antisemitischen Schlachtrufs hatte, wiederholten und verstärkten die schrecklichen Vorwürfe und Hassparolen des einen Antisemiten (des religiösen, etwa der katholischen Kirche) nur die schrecklichen Vorwürfe und Hassparolen des anderen Antisemiten (des rassistischen, etwa des Nationalsozialisten). Dass sich die "den Juden" verteufelnden Anschuldigungen der Antisemiten nicht hundertprozentig deckten, sondern – im übertragenen Sinne – nur zu 90 Prozent, machte ihren antisemitischen Anhängern nichts aus.

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