October 13, 2010

Durchdachte Weltordnungspolitik



Reinhard Marx 2008: Das Kapital

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S. 180) Die Förderung der Familie als wichtigste soziale Gemeinschaft des Dialogs, des Unterhalts, des gegenseitigen Beistands und des Zusammenlebens muss als elementare Querschnittsaufgabe aller Politik anerkannt werden. Im Hinblick auf die in unserer Gesellschaft so herausragend wichtige Erwerbsarbeitssphäre bedeutet das: Nicht die Familie muss arbeitsgerecht werden, sondern die Arbeitswelt muss familiengerecht werden. Sonst droht uns eine "im Erwerbsstreben sterbende Gesellschaft", wie es der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof einmal sehr treffend formuliert hat.

S. 181) Allein in den deutschen Sozialversicherungen wurden 2006 rund 450 Milliarden Euro umgesetzt.
Rechnet man alle Sozialleistungen zusammen, dann kommt man auf ein Sozialbudget von rund 700 Milliarden Euro. Das sind knapp 100 Milliarden Euro mehr als das Bruttoinlandsprodukt, das 2006 von Indien mit seinen 1,1 Milliarden Einwohnern erwirtschaftet worden ist. Die Sozialleistungsquote in Deutschland, also das Verhältnis der Sozialausgaben zum bundesdeutschen Bruttoinlandsprodukt, betrug 2006 30,3 Prozent.

S. 182) Im Jahr 2006 haben die Deutschen nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler durchschnittlich 51 Prozent ihres Einkommens als Steuern und Abgaben an den Staat abgeführt, 2007 sogar rund 53 Prozent, wobei hier allerdings auch die Abgaben an die gesetzliche Sozialversicherung eingerechnet sind.
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt betrug die Abgabenlast 2006 in Deutschland knapp 40 Prozent.

S. 183) Mein sozialethisches Denken ist von der kirchlichen Soziallehre geprägt, die seit jeher Solidarität und Subsidiarität gleichermaßen als "Baugesetze der Gesellschaft" (O. von Nell-Breuning SJ) versteht.
Das ist für mich nach wie vor ein guter, menschenfreundlicher und vernünftiger Ansatz. Einerseits werden Kreativität, Eigenverantwortung und die Freiheit der Menschen und damit auch der Markt und die Wettbewerbsordnung bejaht. Aber es werden auch solidarische gesellschaftliche Strukturen und ein starker, dem Gemeinwohl verpflichteter Staat gefordert.



S. 185 f.) Politikinstrument Armut: wie man durch die Armen alle regiert

Veränderungen beginnen in den Köpfen. Wir alle müssen dazu beitragen, mentale Blockaden überwinden zu helfen. Wir deutschen Bischöfe sprechen deshalb in unserem Impulstext Das Soziale neu denken aus dem Jahr 2003 auch von einer "Entwicklungspolitik für ein entwickeltes Land", "wohlweislich," wie Bundespräsident Horst Köhler, diesen Text aufgreifend, in seiner Antrittsrede am 1.Juli'04 vor dem Deutschen Bundestag konkretisierend gesagt hat, "Entwicklung, nicht Abriss oder Abbau, Entwicklung als Umbau."
Nach dem Prinzip der Beteiligungsgerechtigkeit muss bei der Fortentwicklung der solidarischen gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen die Sorge um die bislang von aktiver Teilnahme Ausgeschlossenen und an den Rand Gedrängten unserer Gesellschaft im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Gemäß der Option für die Armen muss gefragt werden, wie vor allem ihre Situation nachhaltig gebessert werden kann.
Und ich möchte noch einmal ganz klar sagen: Es geht dabei nicht nur um ökonomische Existenzsicherung, also die rechtliche Garantie eines sozialen Minimums. Sondern es geht darum zu erreichen, dass jeder Mensch in unserer Gesellschaft, wirklich jede und jeder Einzelne, die tatsächliche Chance erhält, in einer sozial anerkannten Rolle aktiv am dem Leben dieser Gesellschaft etwas beizutragen.
Deswegen stehe ich auch den Konzepten eines "Grundeinkommens ohne Arbeit" skeptisch gegenüber.



S. 187) Die Chefrhetoriker

Und damit dieser ethische Maßstab nicht ins Leere läuft und die bloße "Gerechtigkeitsrhetorik" durch eine "Teilhaberhetorik" ergänzt wird, haben wir deutschen Bischöfe in unserem Text "Das Soziale neu denken" einen Vorschlag gemacht: Wir fordern einen "Sozialstaats-TÜV", der die Aufgabe haben soll, die soziale Entwicklung im Land kontinuierlich zu beobachten bzw. zu bewerten und die Regierung in sozialpolitischen Fragen zu beraten. [...] Wirtschaftliche Stabilität ist unbestreitbar wichtig, soziale Stabilität aber mindestens genauso.


S. 190) Übrigens: In Deutschland war die Arbeitslosenversicherung 1927 unter der Verantwortung eines katholischen Priesters eingeführt worden: Heinrich Brauns, der von 1920-28 Reichsarbeitsminister war.


S. 193 f.) Ich bin der festen Überzeugung, dass wir auch heute einen solchen politischen Aufbruch benötigen. Wir brauchen einen New Deal, eine Neuverteilung der Karten! Wir brauchen einen neuen "Gesellschaftsvertrag".
Ganz ähnlich hat es vor kurzem der Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio geschrieben:
"Heute haben sich viele Proportionen verschoben, und damit stellt sich die Frage neu, was wir einander schulden und was Gegenseitigkeit unter geänderten Bedingungen wohl sein kann." ("Was schulden wir einander?" S. 32)
Denn auch heute fühlen sich viele Menschen den anonymen Kräften des globalen Marktes hilflos ausgeliefert, und es verbreitet sich die Meinung, dass es nicht mehr gerecht zugeht in Wirtschaft und Gesellschaft.



S. 194 f.) Ohne den Staat geht es nicht

Auch Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann verkündete, er glaube angesichts der Dimension der Krise nicht an die Selbstheilungskräfte des Marktes, und forderte die Regierungen auf zu "mutigen Schritten" zur Stabilisierung des Systems auf. Das sind ganz neue Töne, nachdem man in den letzten zehn, zwanzig Jahren jegliche Form von "Staatsinterventionismus" kritisiert und die Politik aufgefordert hatte, sich endlich aus der Wirtschaft herauszuhalten, von der sie einfach nichts verstehe.
Angesichts des unglaublichen, nahezu kollektiven Versagens der hochbezahlten Manager der Finanzindustrie, das zu der wohl größten Krise seit der großen Depression der 1930er Jahre geführt hat, wird uns jedoch abermals deutlich: Ohne den Staat geht es nicht. Ich hoffe, dass das nicht so schnell vergessen werden wird, wenn die derzeitige Krise erst einmal überwunden ist. Ich hoffe, dass v.a. auch in den USA die Einsicht reift, dass die Globalisierung der Märkte von einer durchdachten Ordnungspolitik begleitet werden muss.



S. 202 f.) Projekt Bürgerarbeit (analog zur Eingliederung von Behinderten in Arbeit)

Auch der durch die Hartz-Gesetze auf die Erwerbslosen verstärkt ausgeübte wirtschaftliche Druck und die 2007/08 boomende Konjunktur haben nichts daran ändern können, dass es weiterhin mehr als eine Million sogenannte "Langzeitarbeitslose" gibt (Stand Juli'08), also Menschen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung sind.
Mehr als 600.000 der Betroffenen sind sogar bereits länger als zwei Jahre arbeitslos.
Diese frustrierenden Erfahrungen haben die Aktion Arbeit Anfang 2007 dazu veranlasst, die Initiative zu ergreifen und mit einem Diskussionspapier an Experten und Akteure des Arbeitsmarktes und der Arbeitsmarktpolitik heranzutreten. Auf dessen Grundlage fanden offene und intensive Gespräche mit Vertretern der Gewerkschaften, der Kammern, der Wissenschaft, der Politik und der Agentur für Arbeit statt.
Als eine meiner letzten Amtshandlungen als Bischof von Trier konnte ich der Öffentlichkeit Anfang 2008 noch das Ergebnis dieses Konsultations- und Dialogprozesses vorstellen: ein Positionspapier zur Arbeitsmarktpolitik.
Darin wirbt die Aktion Arbeit für eine Neubelebung des sogenannten Dritten Arbeitsmarktes. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip soll dieser aber nur eine Auffangfunktion haben. [...]
Die Grundidee ist, dass es sinnvoller und v.a. auch gegenüber den Betroffenen verantwortlicher ist, Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu subventionieren. Was die konkrete Ausgestaltung angeht, kann man von den Erfahrungen mit dem Integrations-Arbeitsmarkt für behinderte Menschen profitieren, wie er vom Sozialgesetzbuch vorgesehen ist. In diesem Bereich zeigt sich auch, dass es sehr wohl möglich ist – wenn der entsprechende politische Wille vorhanden ist – selbst Menschen mit z.T. ganz erheblichen und multiplen Leistungshemmnissen in Arbeitsabläufe zu integrieren. Umso mehr muss es doch möglich sein, auch Menschen mit weniger tiefgreifenden Leistungshemmnissen an der Arbeitsgesellschaft zu beteiligen.



S. 206) religio – religere (immer wieder lesen) oder religare (rückbinden in Frömmigkeit)

Bildung ist zunächst ein "Grundnahrungsmittel". Und das gilt gleich in mehrfacher Hinsicht. Bildung dient zunächst der individuellen Entfaltung. Von Geburt an sind wir mit der Fähigkeit begabt, zu lernen, uns weiter zu entwickeln, zu den Menschen zu werden, die wir letztlich sein wollen und die wir von Gott her sein können und sollen. [...] Aus der Bindung zu Gott, der religio, erwächst dem Menschen die Erkenntnis von Würde und Freiheit. [...] Zum Dritten dient Bildung der sozialen Entfaltung [...] Erst als vierten Punkt würde ich nennen, dass Bildung auch der ökonomischen Entfaltung des Einzelnen und der Gesellschaft dient.


S. 207) Kirche stärkster Bildungsträger der Zivilisationsgeschichte

Ich halte es hier lieber mit Wilhelm von Humboldt, der Bildung grundlegend unter dem Aspekt der Zweckfreiheit, des Selbstzwecks betrachtet hat. Humboldt und der Humanismus stehen insoweit ganz in der Tradition des jüdisch-christlichen Bildungsideals, das bereits in der Bibel deutlich erkennbar ist. Bildung dient nach diesem Verständnis nicht primär äußeren Zwecken, sondern der inneren Menschwerdung.
In der Geschichte der Menschheit war die Kirche deshalb auch der stärkste Bildungsträger.
Ich möchte an diesem christlich-humanistischen Bildungsideal festhalten.
Kinder sollen in die Schule gehen, um reife, verantwortliche Menschen zu werden und nicht um möglichst früh effiziente Funktionsträger in unserer zweckrationalen gesellschaftlichen Institutionen zu werden.



S. 208) Bildungssystem, Komplexifizierung und Georgetown

Das Beste, was Bildung leisten kann, ist Menschen in klaren Werthaltungen zu verwurzeln, sie zu beziehungsfähigen, innerlich reichen Persönlichkeiten zu bilden. Solche Persönlichkeiten können dann auch Verantwortung übernehmen und nicht bloß einen "Job" ausfüllen. [...]
Der einseitig-ökonomistische Blick auf das Thema Bildung hat v.a. einen Aspekt weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt. Bildung braucht Zeit. Der Markt hat aber keine Zeit. Der Wettbewerb ruft Beschleunigung hervor, die seit Beginn der Industrialisierung beharrlich angestiegen ist.
Durch die modernen sozialen Kommunikationsmittel und die Globalisierung haben wir inzwischen in nahezu allen Lebensbereichen ein atemberaubendes Tempo erreicht. Einem so geprägten Zeitalter der Beschleunigung kann sich auch das Bildungssystem nur schwer entziehen. [...]
Leo J. O'Donovan, damals noch Präsident der Georgetown-Universität in Washington (seit 96 im Aufsichtsrat des Walt Disney Konzerns), hat beim Bildungskongress der Kirchen im Jahr 2000 in Berlin einen sehr interessanten Vortrag zu diesem Thema gehalten.

S. 209) In der Unterbrechung der alltäglichen Geschäftigkeit liegt für den Menschen die Möglichkeit, zu sich selbst zu finden und sich in der Hinwendung zu Gott selbst zu überschreiten.



S. 210 ff.) Rational einholbares Glaubenswissen und Suche nach dem wahren Mysterium

O'Donovan 2000: Tempi – Bildung im Zeitalter der Beschleunigung)

"Eine Wirtschaft, die kurzfristig Geld verdienen muss, schafft es nicht, für all das zu sorgen, was sie langfristig braucht. Deswegen helfen die Schulen und Hochschulen dem Beschäftigungssystem dadurch, dass sie Bildungsinhalte ausweisen, die dem Gedächtnis, der kulturellen Identität und der Erinnerung dienen, die für Kontinuität sorgen. Das Sabbatparadox lehrt, dass Musik-, Kunst- und Literaturunterricht, ja dass im Spezialfall sogar Latein und Griechisch langfristig und aufs Ganze gesehen wegen ihrer übernützlichen Potenzen auch der Wirtschaft nützen. Vielleicht sogar mehr als die Einführung eines Schulfachs Wirtschaftskunde. Solche Sabbatinhalte, Sabbaträume und Sabbatzeiten brauchen wir in unseren Schulen. Sie sind Inseln der Reflexion und der Selbstentfaltung und machen den Horizont weit. Sie nützen langfristig auch dem Beschäftigungssystem. Aber sie nützen vor allem dem Leben."

Es braucht in der Schule Räume für soziales Lernen, für Persönlichkeitsbildung und für Wertevermittlung.
Dazu dient auch in besonderer Weise der Religionsunterricht, der Dimensionen des Menschseins reflektiert, die im Lehrplan sonst nicht vorkommen. Manche Gegner des Religionsunterrichts meinen, die Schule solle Wissen vermitteln, Glaube dagegen gehöre ausschließlich in die Kirche.
Hier wird aber ein Gegensatz von Wissen und Glaube, von Vernunft und Religion behauptet, der so gar nicht besteht – nicht im Alltag des schulischen Religionsunterrichts und auch ganz grundsätzlich nicht.
Schon ein oberflächlicher Blick zeigt, dass Kirche und Theologie sehr daran liegt, Glaube und Vernunft in ein wechselseitig-konstruktives Verhältnis zu stellen. Nirgendwo behauptet die Kirche, Glaube sei die bessere Alternative zu Wissen und Vernunft. Das war schon Reflexionsstand in den ersten Jahrhunderten des Christentums. Letzten Endes setzt Glaube sogar Wissen voraus. Denn auch im Glauben gibt es rational einholbares Wissen, dass allgemein zugänglich ist.

Ein wunderschöner Text zu diesem Thema ist die Enzyklika Fides et ratio von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1998. ("Das rechte Verständnis der Offenbarung der Weisheit Gottes sowie die Axiome Credo ut intellegam (Ich glaube um zu verstehen) und Intellego ut credam (Ich verstehe um zu glauben) werden erläutert, um darauf aufbauend das rechte Verhältnis von Glaube und Vernunft zu formulieren.") In ihr wird die in der Geschichte immer wieder versuchte gewaltsame Trennung von Glaube und Vernunft als ein Drama bezeichnet, das fatale Folgen hatte. Auch heute gibt es gefährliche Fundamentalismen – religiöse und anti-religiöse. Dabei können sich Glaube und Vernunft wechselseitig Hilfestellung geben, indem sie füreinander die Funktion kritisch-reinigender Prüfung übernehmen und sich gegenseitig anspornen, auf dem Weg der Wahrheitssuche voranzuschreiten.

Einen vernünftigen moralischen Glauben begründen


Benedetto Ratzinger SJ:

"Als am meisten universale und rationale religiöse Kultur hat sich der christliche Glaube erwiesen, der auch heute der Vernunft jenes Grundgefüge am moralischer Einsicht darbietet, das entweder zu einer moralischen Evidenz führt oder wenigstens einen vernünftigen moralischen Glauben begründet, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann."

Konrad Fischer: "Um dann in den bekannten Blablaismen zu climaxieren."

Letztlich geht es um die Frage, ob am Anfang der Schöpfung eine vernünftige, geistige Kraft – man könnte auch sagen, ob zu Beginn der Dinge die Vernunft bzw. das Vernünftige – steht oder nicht. Jeder denkende Mensch nimmt an, dass mathematische Gesetze vernünftig sind, viele behaupten aber gleichzeitig, das Ganze von Welt und Kosmos sei unvernünftig, nämlich sinnlos. Mathematik ist dann sozusagen eine Insel der Vernunft in einem Meer der Unvernunft. Ist das vernünftig? Christlichen Denkern ist das immer suspekt vorgekommen. Mit der Antike – etwa mit Platon und Aristoteles – waren sie der Auffassung, dass die Vernunft grenzenlos und das Grenzenlose (also Gott) vernünftig ist.
Sicherlich läßt sich die These vertreten, dass das Vernünftige ein Zufallsprodukt des Unvernünftigen ist und erst im Laufe der Geschichte hervortritt. Christliche Theologie ist aber überzeugt, dass die schöpferische Kraft der Vernunft am Anfang steht und seit Beginn der Welt wirksam ist. Dadurch dass ihr ein Primat einzuräumen ist, versteht sich das Christentum von Anfang an als vernunftgeleitete Aufklärung.
Christentum und Aufklärung, Glaube und Vernunft, passen bestens zusammen.


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