October 6, 2010

1963 (Eiserner Vorhang) – Rom schwenkt um



Reinhard Marx 2008: Das Kapital
"Plädoyer für den Menschen" – Münchner Theomarxismus

pt 2 Freiheit nur bei eingewurzelter Wahrheit
pt 3 Die Mont Pelerin Society
pt 4 Erst theologisiert, dann säkularisiert
pt 5 Katholisch geprägte Kommunisten
pt 6 Durchdachte Weltordnungspolitik
pt 7 Corporate Citizenship
pt 8 Würdenträger und Menschenwürde
pt 9 "9/11" und die sieben globalen Übel des Herrn M



S. 32) Marx-Murx

Es ist schon eine merkwürdige Ironie der Geschichte, lieber Namensvetter, diejenigen, die Ihre Theorien heute noch wahr werden lassen könnten, sind nicht nur die Marxisten, sondern auch die Kapitalisten, weil sie zu vergessen drohen, dass Politik anders als Wirtschaft funktioniert und dass man Bürger und Wähler nicht wie Arbeitnehmer entlassen kann.
Ich möchte meinen Brief an Sie beschließen mit einem Satz von Oswald von Nell-Breuning, wie Sie ein Sohn der Stadt Trier und der wohl bedeutendste Vertreter der katholischen Sozialwissenschaften im 20. Jh.:

"Die katholische Soziallehre sieht in Marx ihren großen Gegner. Sie bezeugt ihm ihren Respekt" (Katholische Kirche und Marxsche Kapitalismuskritik, 1967, S. 374)

S. 33 f.) Beim Bund katholischer Unternehmer (BKU) etwa treffe ich auf Inhaber mittelständischer Familienunternehmen, die sich große Sorgen um ihre Betriebe machen. [...]
Auch bei der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) begegne ich Menschen mit Sorgen.



S. 37 ff.) Ich will ehrlich sein

Als Markstein in der politischen Emanzipationsgeschichte wird die Positionierung individueller Freiheitsrechte betrachtet, wie sie erstmalig 1776 in der Virginia Bill of Rights und dann 1789 in der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung erfolgte. Die Menschenrechte kann man als ein konkretes, geschichtlich gewachsenes Erbe der europäischen und der nordamerikanischen Geschichte bezeichnen.
Sie sind gerade deswegen mit unserer gemeinsamen Geschichte so eng verknüpft, weil sie, um geltendes Recht zu werden, in leidvollen Prozessen erst erkämpft und erstritten werden mussten.
Ich will ehrlich sein, und deshalb muss ich leider zugeben: Vor allem in Europa musste die Menschenrechtsidee auch gegen die Kirche durchgesetzt werden. In der Frühphase ihrer Artikulierung wurden die Menschenrechte durch die Kirche aggressiv abgelehnt. Die Rede war von einer "Selbstermächtigung des Menschen", der sich plötzlich an die Stelle Gottes setzen wolle. Von einem "Aufstand des Menschen gegen Gott" und von den "zügellosen Freiheitslehren", die nicht nur von einer genuin christlichen Ethik, sondern sogar vom Naturrecht abweichen würden (so sogar noch Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Immortale Dei von 1885, ein Papst, der in sozialen Fragen weitaus fortschrittlicher dachte).

So weit die Fakten, aber man muss auch nach den tieferen Gründen für diese zunächst entschiedene Ablehnung fragen. [...] Es ist dennoch unbestreitbar, dass es einige Zeit gebraucht hat, bis die Kirche als ganze Demokratie und Menschenrechte nicht mehr als Angriff auf sich selbst und ihre Sicht von Welt und Mensch sah, sondern in ihnen einen Weg erkennen konnte, auf dem sich in rechtlich-politischer Sprache ein Teil ihres eigenen Programms, eine Grundoption des Evangeliums ausdrückt. Diese Anerkennung hat mittlerweile aber längst stattgefunden. Die Enzyklika Pacem in terris von 1963 gilt als der Meilenstein, mit dem sich die kirchliche Würdigung der modernen Menschenrechte Bahn brach. Papst Johannes XXIII. war der erste, der die epochale Bedeutung der Menschenrechte als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens zwischen den Völkern in einem offiziellen Dokument der katholischen Kirche ohne Wenn und Aber anerkannt hat.



S. 40) Dominus Domini

Auch für mich selbst ist der Zusammenhang von Freiheit und Evangelium sehr wichtig.
Deshalb habe ich mich nach meiner Ernennung zum Bischof für den Wahlspruch "Ubi spiritus Domini, ibi libertas" entschieden: "Wo der Geist des Herrn wirkt, das ist Freiheit." (Paulus, 2 Kor 3:17)
["Geist des Herrn" and "A spectre is haunting Europe – the spectre of ..." black Jesuitism]



S. 42 ff.) Bewusst verengt und "Der neuzeitliche Dualismus"

Der letztlich unüberbrückbare Gegensatz zwischen einer christlichen Ethik und dem Marxismus ergibt sich nicht aus Marx' ökonomischen Analysen, sondern aus eben diesem Menschenbild, das dem Marxismus zugrunde liegt. Oswald von Nell-Breuning [SJ] hat das einmal so formuliert: [...]
Aus Marx' Menschenbild resultiert auch seine ökonomistisch verengte Überbau-Basis-Vorstellung. Marx wollte die Welt aus einem Punkt heraus verstehen, erklären und kurieren. [...]
Mich interessiert hier nur die Tatsache, dass er nicht nur glaubte, den Staat und die bürgerliche Demokratie aus dem Kapitalismus heraus erklären zu können, sondern dass er Staat und Politik in der kommunistischen Revolution mit dem Privateigentum an den Produktionsmitteln gleich mit abschaffen wollte. Politik, so seine Vorstellung, würde in der kommunistischen Gesellschaft durch rationale Verwaltung, eine Selbstverwaltung der Arbeiter, ersetzt. Der neuzeitliche Dualismus von Staat und Gesellschaft sollte im Kommunismus aufgehoben sein.
[So wie er im Staatskatholizismus Jahrhunderte lang aufgehoben war ...] im 20. Jh. unter Berufung auf seinen Namen eine totalitäre Staatlichkeit errichtet haben, wie sie die Geschichte bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesehen hatte. [Na klar!]



S. 44 ff.) Es war vielleicht auch kein geradliniger Weg

Das hat nichts mit einer späten Anbiederung der Kirche an die Moderne zu tun, sondern mit den tiefsten Wurzeln des Christentums. Ich möchte sogar behaupten, dass ohne diese christlichen Wurzeln die Moderne, die neuzeitliche Philosophie der Aufklärung, der Gedanke des autonomen Subjekts gar nicht möglich gewesen wäre.
Von der Tradition der heidnischen Antike her ist der Staat zu sehen als eine Gemeinschaft, die das Gute repräsentiert. Der Mensch kann ohne den Staat, ohne ein geordnetes Gemeinwesen nicht seine volle Entwicklung zum Guten hin finden. Die heidnische Antike konnte sich nicht vorstellen, den Menschen zu trennen von der Gemeinschaft, denn ein gelingendes Leben ohne den Staat war für sie undenkbar.
Der Staat repräsentiert das gute Leben, und im Staat und Gemeinwesen allein ist das gute Leben, das gelingende Leben, das Glück möglich. [...]
Ein Hauch von Dualismus ist durch das Christentum in diese Vorstellungswelt hineingekommen [...]
Der Staat wird in gewisser Weise entsakralisiert, wie es auch schon im Neuen Testament deutlich wird. Seine Bedeutung wird zurückgenommen, der Einzelne gewinnt an Profil.
Und es bleibt eine merkwürdige Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Staat, dem Gemeinwesen, so dass das Politische mit dem Religiösen von der Idee her nicht in eins fallen kann.

Insofern hat das Christentum zur Freisetzung des Politischen, zur Freisetzung der Person in ihrer Eigenverantwortung vor Gott entscheidend beigetragen. In seinen Selbstgesprächen betont Augustinus: "Gott und die Seele will ich erkennen." Die Gestalt der Vernunft, mit der Augustinus dieses Selbstgespräch führt, fragt ihn daraufhin: "Ist das wirklich alles?" Seine Antwort lautet: "Das ist alles." (Augustinus 1954, S. 60 f.)
Hier liegt ein sehr starker individualistischer Zug, der im Christentum begründet ist und eine Differenz darstellt zur klassischen Vorstellung der Polis und der Einheit des Einzelnen mit diesem Gemeinwesen. Hier liegt meines Erachtens kulturgeschichtlich auch der Wurzelgrund, aus dem dann in der Neuzeit die Idee der Freiheit erwachsen ist, die Menschenrechte, die Demokratie und eben auch die Marktwirtschaft.
(Marx am 14.7.2010 in der FAZ: "Es ist vollkommen unbestreitbar, dass die für Europa entscheidende Aufklärung nicht erst im 18. Jh. stattgefunden hat sondern bereits in der Verkündung des Evangeliums besteht: in der Bergpredigt, im Vaterunser und in der Geschichte des verlorenen Sohns.")

Von Augustinus bis zu Kant war es freilich ein weiter Weg. Es war vielleicht auch kein geradliniger Weg, aber es war nach meiner Meinung ein konsequenter Weg. Das von der antiken Philosophie geprägte organische Staatsdenken des Mittelalters stand letztlich in einer zu großen Spannung zu dem biblischen Menschenbild der in verantworteter Freiheit handelnden Person, als dass es hätte überdauern können und dürfen.
Durch das Freiheits- und Autonomiepathos der Aufklärungsphilosophie wurde dieses spannungsvolle Denken des Mittelalters aufgesprengt. Notwendigerweise, wie ich eben hinzufügen würde. Und es war durchaus ein "Modernisierungsschub", den Staat zu entlasten im Bereich der Wahrheitsfragen, der Religion, der Sittlichkeit, und so den Raum der Freiheit des Subjekts immer weiter zu öffnen. Eine kulturpessimistische Sehnsucht nach dem mittelalterlichen Integralismus hilft uns nicht und ist unangemessen, wenn wir die Freiheitsgeschichte nicht als geschichtlichen Irrweg betrachten wollen. Und das kann ich nicht, das will ich nicht.

Wenn man nach den sozialen Konsequenzen des modernen Freiheitsdenkens fragt, kann man zunächst einmal sagen: Das gute und gelingende Leben wird zur Privatangelegenheit, und die Frage des Rechts, der Ordnung des Zusammenlebens der Menschen allein wird zur öffentlichen Angelegenheit. Wir haben mit der Aufklärung zum ersten Mal den Gedanken, dass man den öffentlichen vom privaten Bereich trennen muss und der Staat nicht mehr das gute Leben repräsentiert, sondern lediglich die Regeln eines geordneten Gemeinwesens bestimmt. [...]
Es ist klar, dass damit keineswegs alle Fragen beantwortet sind. Offen bleibt v.a., wie denn das Recht, also die Ordnung des Zusammenlebens der Menschen im Staat auszusehen hat und wie Recht und Moral aufeinander bezogen sind. Es gibt hier bekanntlich zwei staatsphilosophische Begründungsstränge, die einerseits auf Thomas Hobbes (1588-1679), andererseits auf Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) zurückgehen.



S. 47 ff.) Totalitärer Leviathan und Autorität aus Wahrheit

Hobbes hatte ein pessimistisches, dezidiert antiaristotelisches Menschen- und Gesellschaftsbild. Angesichts der zu seiner Zeit tobenden Konfessionskriege braucht es seiner Meinung nach einen starken Staat, der den Einzelnen vor den Übergriffen seiner Mitbürger und der streitenden Konfessionsparteien zu schützen hat. Dargestellt ist dieser neue Denkansatz in einem berühmten Bild, dem Titelblatt von Hobbes' Schrift Leviathan. Dort steigt der Leviathan, die große Ungeheuer-Gestalt aus der Bibel, am Horizont auf in der Gestalt eines Königs, in der einen Hand das Zepter, in der anderen Hand den Bischofsstab. In dieser riesigen Gestalt sind die vielen kleinen Menschen dargestellt – der Leviathan, also das Staatswesen, ist zusammengesetzt aus den Vielen. Dieser Staat des Thomas Hobbes regiert mit Macht. In seiner berühmten Formulierung im Leviathan heißt es: "Sed authoritas non veritas facit legem." "Autorität, nicht Wahrheit schafft das Gesetz." Die Wahrheitsfrage wird also ausgeklammert.

Während bei Hobbes also dunkles Misstrauen unter den Menschen herrscht und als Ausweg die absolute Staatsgewalt propagiert wird, regiert bei Rousseau edler Bürgersinn. Der Staat soll den allgemeinen Willen (volonté générale) des Volkes repräsentieren. Individuum und Gemeinschaft rücken hier unter freiheitlichen Vorzeichen wieder eng zusammen. In der Französischen Revolution aber diente diese Idee der volonté générale den Jakobinern zur Rechtfertigung ihrer Terrorherrschaft, denn der allgemeine Wille im Sinne Rousseaus ist keineswegs der demokratisch ermittelte Mehrheitswille, sondern eine Art objektives Gesamtinteresse bzw. eher ein "gefühlter" Volkswille.

Leidvolle Erfahrungen haben so über die Jahrhunderte gezeigt, dass sowohl das Modell von Hobbes als auch dasjenige von Rousseau ihre gefährlichen Fallstricke haben. Nach ihnen Geborene haben deshalb ihre grundsätzlichen Anliegen aufgegriffen, aber versucht, die Schwachstellen der Theorien zu beseitigen. John Locke (1632-1704) etwa ergänzte Hobbes' Schutz der Bürger voreinander durch den Staat um den Schutz der Bürger vor dem Staat. Und G.W.F. Hegel (1770-1831) wollte die neuzeitlichen Zerrissenheiten wie Rousseau in der sittlichen Einheit eines vernünftigen Staates aufheben, dabei aber einen Raum privater Selbstbestimmung gewahrt sehen.

Letztlich dreht sich auch heute noch die Diskussion innerhalb der politischen Philosophie um diese beiden Begründungsstränge. Beide Varianten haben auch die staatliche Wirklichkeit in Europa und Nordamerika auf unterschiedliche Weise geprägt, letztlich allerdings stärker die angelsächsische Variante in der Tradition von Hobbes und Locke. Das hat dazu geführt, dass die Vorstellungen und auch der Diskurs über das Gute und die Wahrheit immer mehr in das Private abgedrängt wurden. Der Weg der sich beschleunigenden Moderne zeitigte so eine immer größere Erweiterung der Freiheit des Einzelnen, die nach und nach alle Lebensbereiche erfasste: Politik, Religion, Sittlichkeit, Wirtschaft, Kultur.



S. 49 f.) Totalitarismus durch Aufklärung

Mit dieser radikalen Orientierung am Subjekt korrespondiert allerdings auch eine instrumentelle Rationalität. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit reduziert sich auf die Frage nach dem Machbaren, dem Verwertbaren.
Hier hat mich in meiner Studienzeit die Lektüre der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und T.W. Adorno sehr angesprochen, lange beschäftigt und nachhaltig geprägt. Der Titel dieses Buches, das in den Jahren 1940-44 verfasst wurde, ist Programm. Die beiden Philosophen stellen die Frage, wie die aufgeklärte Zivilisation in die Barbarei von Faschismus und Nationalsozialismus zurückfallen konnte. Und ihre verstörende These ist, dass mit dem menschenverachtenden Totalitarismus kein gleichsam von außen eingedrungener Virus die aufgeklärte Gesellschaft infiziert hat, sondern dass in dem Programm und Pathos der Aufklärung selbst der Keim zur Selbstzerstörung angelegt war. Horkheimers und Adornos Anliegen war deshalb eine Bewusstmachung und Reflexion dieser immanenten Gefahr aufgeklärten Denkens und damit eine "rettende Kritik" der Aufklärung. Dieses Projekt hat mich als junger Student fasziniert, auch wenn ich nicht jeden Gedankengang und jede Schlussfolgerung in dem Buch teilen möchte. Aber der Ausgangspunkt und der Grundgedanke Horkheimers und Adornos bewegen mich immer noch. Wo die Emanzipation des Subjekts grenzenlos wird, da mündet die Freiheit am Ende in neue Zwangszusammenhänge.
Diesen Gedanken hat auch Johannes Paul II. in beeindruckender Weise formuliert:

In einer Welt ohne Wahrheit verliert die Freiheit ihre Grundlage, und der Mensch ist der Gewalt der Leidenschaften und offenen oder verborgenen Manipulationen ausgesetzt."

Ich selbst möchte es an dieser Stelle folgendermaßen sagen: Wo es in immer geringerem Maß eine verpflichtende Orientierung an allgemeinen moralischen Überzeugungen gibt, da wird das Mögliche auch irgendwann Realität. Diese instrumentelle Rationalität drückt sich heute besonders aus in den Ambitionen mancher Gen- bzw. Biotechniker und der Ökonomisierung nahezu aller Lebensbereiche.
Dieser Entwicklung liegt ein zutiefst evolutives Weltbild zugrunde, das Freiheit, Möglichkeit und Vernunft nicht als Geschenke des Schöpfers oder als dem Menschen vorgegebene Horizonte der Verantwortung versteht, sondern als nach vorne offene Prozesse.

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