October 31, 2010

Taktisches Getöse + erzfromme Menschenschlächter



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

pt 1 & pt 2 & pt 3 & pt 5 & pt 6 & pt 7 & pt 8 & pt 9


S. 66 f.) Die Lichtgestalt der Katholiken angesichts mörderischer Konsequenzen

Bedeuten die Bemerkungen Pius' XII., dass der Charakter seines Antisemitismus derselbe war wie der Hitlers? Natürlich nicht. Es gibt viele Spielarten des Antisemitismus, und sie unterscheiden sich erheblich, was ihre Grundlagen, die Natur der gegen Juden erhobenen Vorwürfe und die Intensität angeht. (Zu Spielarten siehe Hitlers willige Vollstrecker S. 45-69) Bedeutet der Antisemitismus Pius' XII., dass er notwendigerweise jeden Aspekt der Verfolgung der Juden durch die Deutschen billigte? Natürlich nicht. Aber bedeutet das, dass seine Vorurteile gegen Juden gründlich untersucht werden müssen und dass die Frage, inwieweit sie sein Handeln beeinflusst haben, im Mittelpunkt jeder Bewertung seines Verhaltens gegenüber der eliminatorischen Verfolgung der Juden stehen muss? Ja, natürlich. Hinterfragt werden muss nicht nur bei jeder neuen deutschen Maßnahme gegen die Juden, warum er sich entschied, etwas zu tun oder untätig zu bleiben, sondern auch, warum er angesichts der offenkundig schädlichen, ja sogar mörderischen Konsequenzen des Antisemitismus nicht verfügte, antisemitischen Äußerungen und Bräuchen von Seiten der Kirche oder seitens Katholiken (vor allem der Antisemitismus der deutschen Katholiken unterschied sich in seiner Dämonisierung der Juden oft kaum von dem der Nationalsozialisten) ein Ende zu machen und ihre Weiterverbreitung durch Kirchenvertreter zu unterbinden. [...]
Zweitens wird vieles, das uns darüber aufklären könnte, welcher Art der Antisemitismus Pius' XII. war und wie er sich auf seine Handlungsweise ausgewirkt hat, so lange unbekannt bleiben, wie der Vatikan nicht seine sämtlichen Archive allen Forschern zugänglich macht (das lehnt er aber beharrlich ab und greift stattdessen diejenigen an, die die Wahrheit erforschen möchten).
Diese ungeklärte Situation gilt auch für die Kirche und ihren Klerus insgesamt.
Die Verteidiger Pius' XII. sind bestrebt, ihn vom Vorwurf des Antisemitismus freizusprechen und ihn als einen Freund der bedrohten Juden darzustellen, der alles in seinen Möglichkeiten Stehende tat, um ihnen zu helfen.
Diese Beschreibung steht jedoch auf tönernen Füßen.



S. 68 f.) 14. Juli 1949 – Die Exkommunikation der Kommunisten

Warum hat Pius XII. – moralisch und praktisch gesehen – 1949 alle Kommunisten auf der Welt (darunter Millionen, die nie einen Tropfen Blut vergossen haben) exkommuniziert, aber nicht einen Einzigen der Deutschen oder Nichtdeutschen, die Hitler im Massenmord am jüdischen Volk millionenfach als willige Vollstrecker gedient haben? Warum nicht wenigstens Hitler selbst, der immerhin katholisch getauft war? Auf all diese Fragen gibt es keine befriedigende Antwort.
Wenn die Verteidiger Pius' XII. überhaupt auf eine dieser Fragen eingehen (meistens werden sie ignoriert), dann in Form einer dritten Strategie, die die beiden anderen – ihn direkt zu entlasten und seinen Antisemitismus zu leugnen – ergänzt: Sie erfinden Zwänge. Ohne überzeugende Beweise behaupten sie, er habe sich entschlossen, nicht mehr für die Juden zu tun, weil er zum Schutz der Kirche die Neutralität des Vatikans wahren musste. Dem widerspricht jedoch seine demonstrative öffentliche Verurteilung des deutschen Einmarschs in Belgien, Luxemburg und die Niederlande. (Ich komme auf diese Behauptung noch zurück.) Fälschlich behaupten sie ferner, Pius XII. hätte mit konzertierten Bemühungen zur Rettung von Juden (die er nach Meinung der Kritiker hätte unternehmen sollen) am Ende nur bewirkt, dass noch mehr Juden umgebracht worden wären.
Kein Geringerer als der enge Vertraute Pius' XII. während des Krieges, Kardinal Giovanni Battista Montini, brachte dieses Argument 1963 kurz vor seiner Wahl zum Papst Paul VI. vor: "Eine Haltung des Protests und der Verurteilung [der Verfolgung der Juden] [...] wäre nicht nur nutzlos, sondern schädlich gewesen." Das war jedoch gar kein Argument. Es war eine herrische Behauptung, mit der er die Notwendigkeit einer näheren Prüfung zurückwies: "Mehr," erklärte der künftige Papst denn auch, "ist dazu nicht zu sagen."
Die Behauptung, Pius XII. hätte den Juden nur geschadet, wenn er versucht hätte, ihnen zu helfen, ist offenkundiger Unsinn. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem die Intervention christlicher Kirchen zum Tod von noch mehr Juden geführt hätte.
Dagegen gibt es zahlreiche Fälle, in denen Interventionen zu Gunsten von Juden vielen das Leben gerettet haben.



S. 74) Umfassende strategische Desinformation des "Heiligen Stuhls"

Dass der Papst sich und die Kirche durch offene Worte in Gefahr bringen würde, war damals und ist heute noch eine bequeme, gleichwohl frei erfundene Ausrede. *) Mehr noch: Der Papst selbst lieferte den eindeutigen Beweis dafür, dass solche Überlegungen bei seiner wiederholten Entscheidung, zur Ermordung der Juden durch die Deutschen in der Öffentlichkeit zu schweigen, nicht die geringste Rolle spielten.
Nachdem die Alliierten am 4. Juni 1944 Rom befreit hatten, deportierten die Deutschen nach und nach die Juden des von ihnen besetzten Triest. Der Papst und der Vatikan waren völlig außer Gefahr.
Seit Bischof Santins Appell war mehr als ein halbes Jahr vergangen. (Zu Bischof Santins Intervention siehe Zuccottis UHVW S. 281-190 u. 291) Doch auch jetzt tat Pius XII. absolut nichts, um den Triester Juden zu helfen. Fünfzehn der 22 Züge, die fast 1200 Juden vor allem nach Auschwitz brachten, gingen von Triest ab, als der Papst sich bereits unter dem Schutz der Alliierten in Sicherheit befand.

*) In vielen Schriften über Pius XII. und den Holocaust werden dem Papst entlastende Gemütszustände und löbliche Motive unterstellt, die frei erfunden sind. Es wird sogar zu Gunsten von Pius XII. angenommen (diesmal von Zuccotti, auf die bei der Deutung von Motiven weniger Verlass ist als bei ihren akribischen Ausgrabungen aus Archiven), er habe zwar gewusst, dass die Deutschen in einem europäischen Land nach dem anderen systematisch die Juden ausrotten, sei sich aber sicher gewesen, dass sie den deportierten Juden von Rom nichts antun würden. Warum? Weil die Deutschen es ihm gesagt hatten (siehe Zuccottis UHVW S. 159).

In aller Stille, hinter den Kulissen, hätte Pius XII. auch persönlich vieles unternehmen können, um den Juden, vor allem den italienischen, zu helfen, ohne sich oder die Kirche in Gefahr zu bringen. Er zog es vor, nichts zu tun. (Zuccotti, UHVW, S. 294 f.)
Die Vorstellung, dass mehr Juden umgekommen wären, wenn der Papst sich öffentlich geäußert und versucht hätte, Katholiken – Geistliche wie Laien – und Nichtkatholiken zum Widerstand gegen den von den Deutschen verübten Massenmord zu bewegen, ist ein so bizarres und unsinniges Argument, dass niemand, der über den Holocaust schreibt, es vorbringen würde, abgesehen natürlich von den Holocaustleugnern und ihren Mitläufern, die den Juden selbst die Schuld an ihrer Vernichtung geben oder ihnen verübeln, dass sie jetzt im Nachhinein die Wahrheit über den Holocaust ans Licht bringen. *) Bisher hat niemand bewiesen oder auch nur plausibel gemacht, dass irgendwo Juden durch das päpstliche Schweigen und die Untätigkeit der Kirche gerettet worden wären. Bisher hat niemand bewiesen oder auch nur plausibel gemacht, dass der Papst damals auch nur einen guten Grund hatte zu glauben, die Juden dem von den Deutschen verhängten Todesurteil zu überlassen, sei der richtige Weg, sie zu retten.

*) Der Vatikan dachte sich diese Argumentation aus, um die Alliierten hinzuhalten, die den Papst zu einem klaren Wort drängten. Dies war Teil der umfassenden strategischen Desinformation über den Massenmord und die Schritte des Vatikans, die drei Elemente aufwies: Das Ausmaß des Massenmords an den Juden durch die Deutschen und ihre Helfer (auch innerhalb der Kirche) zu vertuschen oder herunterzuspielen. So zu tun, als sei die Kirche eifrig bemüht, den Juden zu helfen, was nicht der Fall war. Und fiktive Begründungen dafür anzuführen, dass die Kirche und ihre Vertreter nicht mehr unternehmen konnten.
(Zur Doppelzüngigkeit des Vatikans und Pius' XII. selbst siehe die Beispiele in Zuccotti, Under His Very Windows, S. 294 ff. und Phayer, The Catholic Church and the Holocaust, S. 48 f.)



S. 76) Man stelle sich vor ...

Man stelle sich vor, Pius XII. hätte alle Bischöfe und Priester in ganz Europa einschließlich Deutschlands angewiesen, 1941 zu erklären, dass die Juden unschuldige Menschen sind, die nach göttlichem Recht denselben Schutz verdienen wie ihre Landsleute. Dass Antisemitismus verkehrt ist. Dass die Ermordung von Juden zu den schlimmsten Vergehen zählt und eine Todsünde ist und dass ein Katholik, der zu ihrer massenhaften Ermordung beiträgt, exkommuniziert und im Jenseits gewiss für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden wird. Man stelle sich vor, Pius XII. hätte diese Erklärung über Radio Vatikan, die BBC und die Titelseiten aller kirchlichen Publikationen in ganz Europa verbreiten lassen. Man stelle sich vor, Pius XII. und der gesamte europäische Klerus einschließlich des deutschen hätten es daraufhin zur moralischen Pflicht aller Europäer erklärt, sich diesem Übel zu widersetzen. Glaubt irgendjemand im Ernst, dass dann nicht sehr viel mehr Juden gerettet worden wären?
Wie viele Katholiken – Deutsche wie Nicht-Deutsche – die in den Mordinstitutionen tätig waren, wie viele Katholiken in ganz Europa, die den Mördern behilflich waren, indem sie Juden identifizierten, hätten innegehalten? Von der Kirche mit ihrem weit verzweigten Netzwerk an Leuten und ihren ungeheuren Möglichkeiten einmal ganz abgesehen, wie viel mehr Menschen wären dazu bewogen worden, den gehetzten und verlassenen Juden zu helfen?



S. 77 ff.) Auf dem Höhepunkt des Massenmords: Pius Pacellis "Mystischer Leib Christi"

Die Verteidiger Pius' XII. zeichnen auch in anderer Weise ein falsches Bild von ihm. Sie heroisieren ihn als Agierenden, indem sie die Bedeutung lobenswerter Taten aufblähen oder solche sogar erfinden. [...]
Die Verteidiger des Papstes wollen uns glauben machen, Pius XII. habe zwar nicht viel tun können, aber als einer, der kein Antisemit, sondern ein guter Freund der Juden war, habe er alles getan, was in seinen Kräften stand. Sie halten daran sogar fest, obwohl Pius XII. es auf dem Höhepunkt des Massenmords der Deutschen an der europäischen Judenheit und kurz bevor die Deutschen italienische Juden zu deportieren begannen, für notwendig hielt, allen Katholiken auf anschauliche, grausige Weise die Falschheit des Judentums zu verkünden und seinen Antisemitismus öffentlich zum Ausdruck zu bringen – indem er die Bedeutung des angeblichen Gottesmordes durch die Juden erörterte. In seiner Enzyklika Mystici corporis vom Juni 1943 erklärte er:

"Doch am Stamme des Kreuzes hob Jesus durch seinen Tod das Gesetz mit seinen Vorschriften auf, heftete den Schuldschein des Alten Bundes ans Kreuz und gründete in seinem Blute [...] den Neuen Bund [...] Am Kreuze also starb das alte Gesetz, das bald begraben und todbringend werden sollte" [Hervorhebung Goldhagen].
(Pius XII. bezog sich offenbar auf einige der antisemitischsten Passagen der christlichen Bibel, wo es heißt, das jüdische Gesetz habe seit jeher Sünde und Tod hervorgebracht, und um zu leben, müsse man sich frei machen vom "Gesetz der Sünde und des Todes", indem man Jesus annimmt. Siehe Römer 7:7-10 und 8:1-13 sowie 2 Korinther 3:6-7.)

Was genau Pius XII. mit seiner ominösen Erklärung meinte, das "alte Gesetz" – oft als Synonym für Juden gebraucht – sollte todbringend werden, ist unklar. Doch zu einer Zeit, da die Juden im christlichen und katholischen Europa massenweise umgebracht wurden, einen derart falschen und offen antisemitischen Vorwurf zu erheben, verrät uns eine Menge über die Überzeugungen und moralischen Werte seines Urhebers.

Mag es auch wichtig sein aufzuzeigen, wie moralisch unhaltbar das Verhalten Pius' XII. war und wie hohl die Argumente seiner Verteidiger sind, noch wichtiger ist zu erkennen, dass Pius XII. letztlich eine Nebenfigur ist, die von "der umfassenderen Frage eines massiven katholischen Versagens ablenkt". (Carroll, Constantine's Sword, S. 532) Die Bedeutung des lauten Getöses, das diesen einen Mann umgibt, liegt eher darin, was es über die Kirche nicht sagt und verschleiert, als darin, was es über ihn verrät. Die vielen tausend Geistlichen und ihre viele Millionen zählende Herde – was haben sie gedacht, wie haben sie sich verhalten?
Pius XII. war nicht die katholische Kirche.
Die Kirche war eine ungeheuer mächtige transnationale Institution mit einer langen, bedeutenden Geschichte, mit einer eigenen politischen Kultur, mit nationalen Kirchen mitsamt ihren Kardinalen, Bischöfen, Priestern und Nonnen sowie mit ihren vielen Millionen individuellen Anhängern, die sich in ihren Handlungsweisen von ihrem Glauben leiten ließen. Angesichts all dessen kann ein einzelner Papst nur ein geringer, wenn auch wichtiger Teil einer historischen oder moralischen Beurteilung sein. [...]
Dabei beschränken sie ihren Blickwinkel jedoch allzu sehr, so als würden sie mit der Widerlegung der Vorwürfe, der Papst sei ein Antisemit gewesen, er habe den Nationalsozialisten geholfen oder er habe mit verhärtetem Herzen zugesehen, wie die Deutschen die Juden umbrachten, nicht nur sein Verhalten rechtfertigen, sondern auch das Verhalten der katholischen Kirche und anderer Katholiken als Katholiken.

Beschäftigt man sich nur mit der Frage, ob Pius XII. energisch genug protestiert und gehandelt hat oder nicht, um die Juden zu retten, geraten allgemeinere Themen, die in mancherlei Hinsicht wichtiger sind, aus dem Blickfeld. Mögen die Urteile, zu denen man über Pius XII. gelangt, auch nicht diejenigen sein, die seine Fürsprecher sich wünschen – solange der Scheinwerfer hauptsächlich auf ihn gerichtet ist, haben die Verteidiger der Kirche einen strategischen Sieg errungen, denn auf diese Weise wird die Vergangenheit der Kirche beschönigt.
Symptomatisch für diese Strategie war der restriktive Auftrag der Kirche an die internationale katholisch-jüdische Historikerkommission, die 1999 gebildet wurde und inzwischen auf Grund der Unnachgiebigkeit der Kirche nicht mehr existiert. Die Kirche fasste den Untersuchungsauftrag der Kommission so eng, dass er sich nur auf die Kriegsjahre und auf das sehr begrenzte Material bezog, das der Vatikan selbst über seine diplomatische Aktivität veröffentlicht hatte. Die Kirche nahm damit ihre nichtdiplomatischen Aktivitäten und das Verhalten ihrer nationalen Kirchen von vornherein aus und hinderte die Kommission daran, sich auch den kirchlichen Aktivitäten in den ersten sechs Jahren der Judenverfolgung durch die Deutschen zuzuwenden.

Die Verteidiger der Kirche greifen zu allerlei Tricks, um eine systematische Untersuchung über den Beitrag der katholischen Kirche zu der von Deutschland angeführten Verfolgung und Vernichtung der Juden zu unterbinden. Ich greife hier nur drei wichtige Kunstgriffe heraus. Die Verteidiger richten ihren Blick mal auf diesen, mal auf jenen Teil der Kirche, je nachdem, was für ihre Argumentation günstig ist (wenn sie sich nicht überhaupt auf den Papst beschränken). Sie errichten einen Cordon sanitaire um den Antisemitismus, der die Deutschen dazu trieb, Juden zu verfolgen und zu ermorden, mit der Begründung, er habe nichts zu tun mit den herabsetzenden und hasserfüllten Ansichten der Kirche selbst, die sie durchgängig leugnen oder herunterspielen. Und wenn es in ihre Entlastungsstrategie passt, wechseln sie von der Untersuchung der Kirche als moralische Institution zur Erörterung ihrer Rolle als politische Institution.
Zwei weitere Strategien sind Umkehrung und Relativierung. Mit der ersten stellen die Verteidiger der Kirche diese fälschlich als Opfer dar, um davon abzulenken, dass sie mit den Tätern zusammengearbeitet hat. Darauf gehe ich in Teil III ein. Mit der zweiten versuchen die Verteidiger die Kirche dadurch zu entschuldigen, dass sie sagen, sie habe sich nicht schlimmer oder weniger schlimm verhalten als andere.
Doch im Gegensatz dazu, was die Verteidiger uns glauben machen wollen, werden die Verbrechen und Vergehen, die die Kirche oder ihre Geistlichen begingen, und die Verantwortung, die sie für ihre Taten tragen, nicht dadurch geringer, dass es andere gab, die ähnliche oder schlimmere Dinge taten. Zu einer Diskussion der Verantwortung der Kirche, die nicht diesem Relativismus und Nihilismus erliegt, siehe Teil II.



S. 82 f.) Erzkatholiken im Einklang mit dem Wunsch des Führers

Selbst eine nur oberflächliche Bestandsaufnahme ergibt ein bedrückendes Bild.
Die dt. katho. Kirche gab die Juden bedenkenlos der sich ständig verschärfenden Verfolgung durch ihre Landsleute preis. Die Kirchen verwahrten die Taufregister, anhand deren sich feststellen ließ, wer nach den neuen deutschen Rassengesetzen ein Jude war, und diese Informationen brauchte das Regime, um zu bestimmen, wer verfolgt und schließlich umgebracht werden sollte. In allen Ecken und Enden Deutschlands kamen katholische (und protestantische) Bischöfe und Pfarrer den angeforderten genealogischen Erkundigungen nach, ohne Protest und offensichtlich ohne Bedenken. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dem Regime nicht bei der Umsetzung der Rassengesetze und bei der Identifikation jener zu helfen, die es nach rassischen Kriterien als Juden der Verfolgung aussetzte. Dass die dt. katho. Kirche hier freiwillig und vorsätzlich mitwirkte, wird umso deutlicher, als sie auf das Verlangen des Staates, anhand der Kirchenbücher vom Judentum übergetretene Katholiken und Personen in Mischehen zu ermitteln, ganz anders reagierte. Das lehnte die Kirche ab und verweigerte dem Regime unter Berufung auf die "seelsorgerische Schweigepflicht" den Zugang zu ihren Büchern.

Dem Staat bei der Verfolgung der Juden zu helfen, war in den Augen der katholischen Geistlichen dagegen ein Akt des Patriotismus, der dem Wohl der Deutschen diente.
Im maßgeblichen Klerusblatt, dem offiziellen Organ der Diözesan-Priestervereine Bayerns (Bayern war die Hochburg des dt. Katholizismus), erklärte ein Pfarrer seinen Lesern schon 1934, die Kirche habe dem deutschen Volk "von jeher" geholfen und werde ihm auch bei dieser "erfreulichen" Aufgabe behilflich sein, im Einklang mit dem Wunsch des Führers Ariernachweise zu erbringen.
(Joseph Demleitner, "Volksgenealogie", in: Klerusblatt 15, 37 – 12.Sept.'34 – S. 501 ff.)
Im Januar 1936 billigte das Klerusblatt gleichsam offiziell die kurz zuvor verabschiedeten Nürnberger Rassengesetze: Sie seien als Maßnahmen "zur Erhaltung und Erneuerung des deutschen Blutes" und zur "Ausmerzung der Judenschaft als Träger staatlicher und politischer Rechte" zu betrachten.
("Die Regelung des Rasseproblems durch die Nürnberger Gesetze", in: Klerusblatt 17, 3 – 22.Jan.'36 – S. 47)
Wie kann eine ehrliche Darstellung der katholischen Kirche zu dieser Zeit diese rassistisch-genealogische Kollaboration nicht in den Mittelpunkt der Diskussion rücken? Warum hat Pius XII. als vatikanischer Staatssekretär oder als Papst nicht verhindert, dass der dt. katho. Klerus vorsätzlich mit dieser offen rassistischen, eliminatorischen Verfolgung kollaborierte? Die Verteidiger des Papstes haben keine Antwort. Sie erwähnen die Kollaboration, für die erdrückende Beweise vorliegen, nicht einmal. (Zur Rolle der dt. Kirche siehe Guenter Lewy, Die katho. Kirche und das Dritte Reich, München 1965, bes. S. 294-337.)
Die dt. Bischöfe trafen bewusst die Entscheidung, gegen die Ausrottung der deutschen und europäischen Juden durch ihre Regierung nicht zu protestieren.
Sie erhoben auch gegen keinen anderen wichtigen Aspekt der eliminatorischen Verfolgung der Juden Protest, weder öffentlich noch hinter den Kulissen, selbst dann nicht, als die Gräuel sich vor ihren Augen abspielten.



S. 85 ff.) Zwischen Gott und Hitler: Himmlische Absolution für Himmlers Vollstrecker

Was war mit den Hunderten von dt. Priestern, die bei der Wehrmacht und den Besatzungstruppen in Osteuropa dienten, die inmitten des Mordgeschehens Gottesdienste für die Mörder abhielten und ihnen die Beichte abnahmen? Waren die Juden in ihren Augen unschuldig und der Massenmord an den Juden ein Unrecht? Sagten sie den vielen Katholiken unter den Hunderttausenden von Deutschen, die sich an der Massenvernichtung beteiligten, dass sie sündigten? Das vorliegende Material spricht entschieden dafür, dass sie es nicht taten. Hätten sie die Ermordung der Juden als ein Verbrechen und eine Sünde betrachtet, wüssten wir sehr wahrscheinlich davon und von den Schritten, die sie gegenüber den Tätern unternommen hätten, denn die Kirche pflegt alle Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, die sie in ein günstiges Licht rücken können. Die erhaltenen Zeugnisse sind nicht ermutigend. Von rund tausend katholischen und protestantischen Geistlichen, die als Militärpfarrer dienten, sind weniger als zehn, zum Teil auch noch zweifelhafte Fälle bekannt geworden – überwiegend katho. Priester – in denen man sagen kann, dass die Pfarrer Missbilligung ausdrückten oder auf Widerstand gegen den Massenmord drängten. Und einige Pfarrer haben von Billigung ihrer Amtskollegen für das massenhafte Morden ihrer Landsleute berichtet. (Siehe Doris L. Bergen, "Between God and Hitler – German Military Chaplans and the Crimes of the Third Reich", in O. Bartov und P. Mack, In God's Name: Genocide and Religion in the 20th Century, New York 2001, S. 128-132.)
Ein Priester erzählt, der Mord an den Juden sei bei den dt. Besatzungstruppen in der Sowjetunion auf Zustimmung gestoßen. "Auch unter den Deutschen," erinnert er sich, "hörte man vielfach die Meinung: Die Juden sind Parasiten. Sie haben das Volk ausgebeutet. So dürfen sie sich nicht wundern, dass man sich jetzt an ihnen rächt" und sie ausrottet. Er zitiert einen anderen Priester, der den Massenmord in biblischen Worten gutheißt:

"Es ruht ein Fluch auf diesem Volk, seitdem sie bei der Kreuzigung Jesu geschrien haben: 'Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder.'"

Die von diesem Priester ausgedrückte Billigung des Massenmords, berichtet er, sei von der Mehrheit der übrigen Geistlichen nicht geteilt worden, was aber auch bedeutet, dass die massenhafte Vernichtung der Juden von einer Minderheit der Geistlichen unterstützt wurde. (Gordian Landwehr, "So sah ich sie sterben," in: Priester in Uniform: Seelsorger, Ordensleute und Theologen als Soldaten im ZWK, hgg. vom Katho. Militärbischofsamt und Hans Jürgen Brandt, Augsburg 1994, S. 339-354, hier S. 349 f.)

Dass katholische Priester inmitten des Vernichtungsprozesses die Ausrottung der Juden mit Stillschweigen oder Schlimmerem aufnahmen, ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ihr geistlicher Vorgesetzter, der der Wehrmacht zugeordnete katholische Feldbischof Franz Justus Rarkowski, stark von der NS-Ideologie durchdrungen war. In seiner Weihnachtsbotschaft von 1940, die alle katholischen Soldaten erhielten, verleumdete Bischof Rarkowski die Juden mit den bekannten antisemitischen Bildern als vermeintliche Urheber des Krieges und des deutschen Leids:

"Das deutsche Volk [...] hat ein ruhiges Gewissen und weiß, welche Völker es sind, die sich vor Gott und vor der Geschichte mit der Verantwortung belasten für diesen jetzt tobenden gigantischen Kampf. Es weiß, wer den Krieg freventlich vom Zaune gebrochen hat. [...]
Unsere Gegner [...] glaubten an die Macht ihres Geldsackes und an die niederhaltende Kraft jenes schändlichen und unchristlichen Vertrages von Versailles."
(Zitiert nach Heinrich Misalla, Wie der Krieg zur Schule Gottes wurde – Hitlers Feldbischof Rarkowski, Oberursel 1997, S. 42 f.)

Doris Bergen kommt zu dem Schluss, dass die überwiegende Mehrheit der katholischen und protestantischen deutschen Militärgeistlichen "sich auf die Seite der Täter stellte, indem sie deren Verbrechen durch Worte, Taten und Stillschweigen verzieh und segnete. Einer der offenkundigsten Beweise für diese Funktion war die Erteilung der Generalabsolution für Soldaten."
Wie könnten wir nicht daran festhalten, dass die dt. Priester, die den Vollstreckern des Völkermords Beistand leisteten, zumindest Kollaborateure des NS-Regimes waren, wenn nicht gar Komplizen dieses Massenmords? (Warum wies der Papst sie nicht an, allen Katholiken unter den Vollstreckern zu raten, mit dem Mord an den Juden aufzuhören?) Dieses praktisch unbekannte und nie erwähnte Kapitel der Rolle, die die katholische Kirche und ihr Klerus im Holocaust spielten, ist noch kaum erforscht.

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