October 31, 2010

Mörderische Logik christlicher Vorstellungswelten



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 96-105) "Ihr habt den Teufel zum Vater" + Vom mörderischen Blut des "Erlösers" ...

Vertieft man sich in die geschichtliche Entwicklung und Natur des kirchlichen Antisemitismus, stößt man irgendwann auf das Saatbeet, aus dem die Vorstellungen erwuchsen, welche die Täter des Holocaust erfüllten.
Eine entsprechende Darstellung kann man um vier Hauptthemen gruppieren.
(Siehe Goldhagen, "Hitlers willige Vollstrecker", S. 45-105, zu einer ausführlichen Darstellung dieser Fragen. Meisterhaft und originell schildert die Entwicklung des christlichen Antisemitismus und dessen Fortsetzung nach der Reformation in Form des katho. Antisemitismus Carroll in Constantine's Sword.)

Erstens: Die christliche Vorstellung, das Judentum sei überholt, oft auch "Substitutionstheorie" genannt, hielt daran fest, mit der Erfüllung der jüdischen Messiasprophezeiung durch Jesus habe eine neue, eine christliche Ära begonnen, die die des nunmehr anachronistisch gewordenen Judentums ablöste. So wie das Judentum zum Christentum geworden war, sollten die Juden zu Christen werden. Weil die Weigerung der Juden, der christlichen Forderung nach Aufgabe ihres Judentums nachzukommen, die christlichen Behauptungen unausgesprochen, aber grundlegend herausforderte, und weil diese Herausforderung von dem einstmals auserwählten Volk Gottes kam, wurde die Herabsetzung der Juden für das Christentum zu einer zentralen Angelegenheit.
Wenn die Juden, das Volk Gottes, die Göttlichkeit Jesu und seiner Kirche ablehnten, war entweder Jesus nicht göttlich und die Kirche im Irrtum, oder das Volk war von Gottes Pfad abgekommen.
So lässt das Johannes-Evangelium Jesus zu den Juden sagen:

"Wer aus Gott ist, hört die Worte Gottes.
Ihr hört sie deshalb nicht, weil ihr nicht aus Gott seid." (Joh 8:47)

Wenn nicht aus Gott, woher dann?
Johannes zufolge erkennt Jesus die wahre Identität und Natur der Juden und spricht:

"Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit, denn es ist keine Wahrheit in ihm."
(Joh 8:44-46)

Dass die Juden zu jedem Frevel fähig seien, auch dem, dem Teufel zu dienen, diese Ansicht verbreitete sich im Mittelalter über ganz Europa.
Dieses angebliche Bündnis mit dem Teufel begründete man mit der Ausgangslüge, die Juden hätten Jesus ermordet, und alle Juden, tituliert als "Christusmörder", seien bis in alle Ewigkeit für dieses Verbrechen verantwortlich.
Carroll schreibt (S. 59), historisch habe das Christentum zwar lebende Juden als ein negatives Anderes benötigt, gegen das man die wahren christlichen Behauptungen geltend machen konnte, aber

"Ersetzung implizierte die Beseitigung des Ersetzten.
Diese Auffassung sollte zur Judenmission und zu Vertreibungen führen, und letztlich sollte sie mit dem versuchten Völkermord auf ihren perversen Kern reduziert werden."

Zweitens: Der christliche Antisemitismus ist vollkommen unabhängig davon, wie Juden wirklich sind.

"Die uralte so genannte 'Judenfrage' war ein Problem der Christen und wird es bleiben, Ausgeburt einer ignoranten christlichen Fantasie." (Carroll S. 250)

Es ist eine offensichtlich falsche Behauptung, dass Vorurteile von denen ausgelöst werden, die man hasst oder für hassenswert hält, seien es Juden, Schwarze, Schwule oder Frauen – in diesem Fall eben Juden.
(Eine solche Behauptung ist ihrerseits ein typischer Ausdruck des Vorurteils, das sie zu erklären vorgibt.)
Für den Antisemitismus und andere Vorurteile sind deren Träger verantwortlich sowie die Gesellschaften und Kulturen, die ihnen diese Vorurteile beibringen.
Die meisten Antisemiten haben, solange man zurückblickt, nie einen Juden kennen gelernt (man denke an all die europäischen Gebiete, aus denen die Juden vor Jahrhunderten vertrieben wurden, der Antisemitismus sich aber dennoch bis in diese Zeit gehalten hat), und doch haben sie lebhafte, oft dämonische Vorstellungen von Juden, die ihnen aus der Vorstellungswelt ihrer Kultur und Religion vermittelt wurden.
Die Antisemiten sind auf wirkliche Juden nicht angewiesen, um zu Vorurteilen über sie zu kommen.

Drittens: Kennzeichen des Antisemitismus ist ein direkter, wenn auch verwickelter Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Taten. Aus dem grundlegenden christlichen Dogma der Substitutionstheorie entwickelten sich, durch den Ausgangsvorwurf des Christusmords mit einem unerschöpflichen Vorrat an emotionalem Treibstoff versorgt, im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Spielarten des Antisemitismus, die zwar miteinander verwandt waren, jedoch in den Einzelheiten ihrer Dämonologie oft voneinander abwichen.
Und in Abhängigkeit von der jeweils herrschenden christlichen Lehre und den gesellschaftlichen und politischen Umständen entstanden daraus unterschiedliche Eliminationsstrategien. Das christliche Credo der Ablösung des Judentums war im Hinblick auf das Handeln multipotent, d.h., je nach den Umständen konnten unterschiedliche Programme zur Ausschaltung der Juden daraus abgeleitet werden, weil es für die christliche "Judenfrage" mehrere denkbare Ausschaltungslösungen gab: Vertreibungen, Pogrome, Zwangstaufen, Ghettoisierung und umfassende mörderische Angriffe. Einen direkten Zusammenhang zwischen antisemitischen Überzeugungen und antisemitischen Taten gibt es sicherlich nicht, weil daran auch andere gesellschaftliche, kulturelle und speziell politische Faktoren beteiligt sind, doch legen bestimmte Ansichten über Juden, wenn sie von politischen Führern aktiviert und kanalisiert werden, ihren Trägern sicherlich bestimmte Handlungsweisen nahe.
Was den Antisemitismus betrifft, genügte es oft, bei Führern und gemeinem Volk den Wunsch zu wecken, die unter ihnen lebenden Juden loszuwerden, bisweilen mit tödlicher Gewalt.

Auch sollte klar sein, dass der Antisemitismus allein kein Programm des systematischen Massenmords hervorbringt. Diejenigen, die leugnen wollen, dass der kirchliche Antisemitismus oder der Antisemitismus der gewöhnlichen Deutschen einen nennenswerten oder überhaupt einen ursächlichen Anteil hatten am Zustandekommen des Holocaust, behaupten, dass, wenn die eine oder andere Spielart des Antisemitismus für das Zustandekommen des Holocaust entscheidend gewesen wäre, der Holocaust oder etwas Ähnliches längst vorher oder in anderen antisemitischen Ländern hätte eintreten müssen. Das ist eine offenkundig falsche Argumentation. Sie vernachlässigt die erwiesene Tatsache, dass für die Verwirklichung eines umfassenden Massenmordprogramms zwei Faktoren notwendig sind, von denen jedoch keiner für sich allein hinreichend ist: eine politische Führung, die den Massenmord in die Wege leitet und organisiert, und Menschen, die bereit sind, diese Entscheidungen umzusetzen.
Ist der eine Faktor (eine stark antisemitische Bevölkerung) gegeben, nicht aber der andere (weil die politische Führung es aus welchem Grund auch immer ablehnt, sich auf eine systematische Ausrottungspolitik einzulassen), kommt ein umfassendes Massenmordprogramm nicht zu Stande. In der Neuzeit sind diese beiden Faktoren nur in Deutschland und dann in einigen seiner Satellitenstaaten zusammengetroffen.

Vorstellungen, römisch-universal kodifiziert


Das vierte wichtige Merkmal des Antisemitismus ist demnach die Neigung der Antisemiten zur Gewalt gegen Juden, ja sogar zum Massenmord. Die Kirche nahm eine Haltung ein, die für die Juden in physischer und sozialer Hinsicht und für sie selbst in lehrmäßiger und moralischer Hinsicht katastrophal war. Sie empfahl, die Juden nicht anzugreifen, und zwar auf der Grundlage einer auf Augustinus zurückgehenden Vorstellung, die erstmals unter Papst Gregor I. in verschiedenen Proklamationen kodifiziert wurde, darunter Sicut Judaeis aus dem Jahr 598: Danach sollten die Juden zwar nicht vernichtet werden, sondern rechtlichen Schutz erhalten, allerdings mussten sie erhebliche Einschränkungen und Benachteiligungen erdulden, wie es jenen geziemt, die die Kirche ablehnen.
Derselben Kirche fiel es jedoch immer wieder schwer zu verhindern, dass die von ihr selbst unter ihren Anhängern erzeugte Woge des Zorns gegen die Juden die schwachen Dämme ihrer förmlichen Gewaltverbote sprengte.

"Tausend Jahre lang," schreibt Carroll, "sollte das zwanghaft wiederkehrende Muster dieser Ambivalenz bei Bischöfen und Päpsten auftauchen, die Juden in Schutz nahmen, aber vor ausdrücklich christlichen Pöbelhaufen, die Juden auf Grund dessen, was Bischöfe und Päpste über die Juden gelehrt hatten, umbringen wollten."

Die schwachen Hemmimpulse der Bischöfe und Päpste "mussten versagen", sobald "Juden auch nur daran zu denken wagten, sich wirtschaftlich oder kulturell oder in beiderlei Hinsicht zu entfalten," (Carroll S. 219, 248 und Trachtenberg, "The Devil and the Jews", S. 7) oder wenn Christen die Schuld an Naturkatastrophen und gesellschaftlichen Missständen aus unerfindlichen Gründen den dämonisierten Juden anlasteten. Ein solcher, bereits erwähnter Fall ereignete sich Mitte des 14 Jh.s zur Zeit der Pest, als Christen vor allem in dt. Territorien die Juden von rund 350 Gemeinden, darunter so bedeutende Zentren wie Mainz, Trier und Köln, ausrotteten. Diese mörderische Logik, dass Päpste und Bischöfe Katholiken davon abhalten mussten, das zu befolgen, was Päpste und Bischöfe ihnen eingeschärft hatten, war auch in den 30er und 40er Jahren des 20. Jh.s wirksam. Der Papst und die meisten Bischöfe schauten zu, als die Deutschen und ihre örtlichen Helfer von denen viele den auf die Kirche zurückgehenden Antisemitismus verinnerlicht hatten – die Juden aus einem katho. Land nach dem anderen, aber auch aus nichtkatho. Ländern deportierten und ermordeten. Diesmal machten sie nicht einmal den Versuch, sie in Schutz zu nehmen.

Wie Carroll zeigt, steht für all das das allerheiligste und das zentrale Symbol des Christentums, das Kreuz. Das Christentum entwickelte sich aus einer Religion, die das Leben Jesu feierte, in eine Religion, die auf seinen Tod fixiert ist, mit allen Konsequenzen (eine zufällige Wendung, welche die katholische Kirche und andere christliche Kirchen umkehren könnten).
Die verheerendste Konsequenz war die christliche Fixierung auf das Volk, das angeblich die Kreuzigung veranlasste, wodurch das Kreuz gleichzeitig zu einer Waffe gegen die "Christusmörder" wurde. Die Ursache dieser uralten, aus christlicher Ignoranz geborenen "Judenfrage" ist, wie Carroll bemerkt (S. 250),

"so offenkundig, dass wir sie als solche kaum wahrzunehmen vermögen, und dabei war sie die ganze Zeit da. Ein fehlgeleiteter Kult des Kreuzes ist in dieser Geschichte allgegenwärtig, von der Milvischen Brücke [wo Konstantin 312 in der Nacht vor einer siegreichen Schlacht um die Oberherrschaft im Römischen Reich ein Kreuz am Himmel sah und daraufhin dem Christentum den Weg zur Staatsreligion ebnete] bis Auschwitz."

Die Kreuzzüge waren Kriege des Kreuzes, die Jerusalem der Herrschaft der Muslime entreißen sollten, doch die ersten Opfer des Ersten Kreuzzugs im Jahr 1096 waren – vollkommen logisch – Juden, die Juden von Mainz.
Ein jüdischer Chronist fängt die vernichtende Logik des Antisemitismus ein:

"Und sie sprachen einer zum anderen: 'Sehet, wir ziehen nach einem fernen Lande, ziehen dahin, um mit den Königen des Landes Krieg zu führen, wir wagen unser Leben, um all jene Nationen, die nicht an den Gekreuzigten glauben, zu töten und zu zertrümmern – um wie viel mehr verdienen es die Juden, die ihn umgebracht und gehängt haben!' So wiegelten sie alle Enden und Ecken gegen uns auf, beschlossen und sprachen: 'Entweder müssen die Juden sich zu unserem Glauben bekehren oder sie werden vertilgt sammt Kind und Säugling!' Sie setzten ein Zeichen des Kreuzes an ihre Kleider, die Fürsten sowohl wie das Landvolk."
(Zitiert nach Adolf Neubauer und Moritz Stern, "Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge", Berlin 1892, S. 169. Siehe auch Carroll S. 237.)

Die Entwicklung des Kreuzes zu einem antisemitischen Symbol und einer antisemitischen Waffe lässt sich vom christianisierten Römischen Reich Konstantins über die mittelalterlichen Kreuzzüge bis in die jüngste Zeit verfolgen, und sie gipfelt darin, dass einige Katholiken letzthin versucht haben, Auschwitz durch Ansiedlung eines Nonnenklosters und Aufstellung eines riesigen Kreuzes "zu entjuden".
Seit Konstantin das Christentum zur Staatsreligion des Römischen Reiches machte, also fast zwei Jahrtausende lang, stand das Kreuz für die Ermordung Jesu, und unausgesprochen verwies es auf die Juden als seine angeblichen Mörder. "Auf mannigfaltige Weise," schreibt Carroll, "war das Kreuz selbst in diese Kampagne einbezogen worden [...] und nun sollte jedes Kreuz in der westlichen Christenheit zu einer unfehlbaren Verkündigung eben dieser Lehre werden." (S. 277, siehe auch S. 191, 196 und 202.)

Angesichts der zahlreichen historischen Fälschungen und Verleumdungen über Juden in der christlichen Bibel (siehe Teil III), wenn es um Juden geht, einschließlich der expliziten, falschen und unmoralischen Behauptung, alle jüdischen Zeitgenossen Jesu und ihre Nachkommen seien für seinen Tod verantwortlich, ist es nur allzu wahrscheinlich, dass viele Christen weiterhin Juden für den Tod Jesu verantwortlich machen werden. Das Matthäus-Evangelium erfindet eine Szene, in der das ganze jüdische Volk die Kreuzigung Jesu verlangt und schreit "Ans Kreuz mit ihm!", die Schuld bereitwillig auf sich nimmt und wegen dieser Schuld bereitwillig einen Fluch über seine eigenen Nachkommen ausspricht:
"Da rief das ganze Volk
[nachdem Pilatus erklärt hatte, am Blut dieses Menschen unschuldig zu sein]:
Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" (Matthäus 27:15-26)
Hier ist der paradigmatische Vorwurf der Kollektivschuld allen Juden bis in alle Ewigkeit als unauslöschlicher Stempel aufgedrückt, obwohl das jüdische Volk Jesus nicht getötet hat und in keinem Sinne für seinen Tod verantwortlich war. Es waren die Römer, die die Entscheidung trafen, ihn zu töten, und die ihn auf typisch römische Art durch Kreuzigung hinrichteten.

Es ist angesichts dieser unbestreitbaren Tatsachen die Frage gestellt worden, warum sich die katholische Kirche und andere christliche Kirchen, wenn sie in dem Drama um den Tod Jesu die Rolle eines kollektiven Bösewichts zu besetzen hatten, nicht auf die Römer und deren Nachkommen – die heutigen Italiener – konzentriert haben. Doch Rom war zu der Zeit, als die Evangelien verfasst wurden, die Supermacht der westlichen Welt, und Italien sollte zur Basis für die katholische Kirche werden und die meisten ihrer Würdenträger liefern, während die Juden das schwache und verwundbare Volk waren und das schwache und verwundbare Volk geblieben sind, dessen Tradition sie sich anzueignen suchten und von dessen Gott sie sagten, er sei nun ihr und ausschließlich ihr Gott. Die katholische Kirche hat zwar 1965 endlich erklärt, es sei falsch, die Juden von heute für den Tod Jesu verantwortlich zu machen, und seitdem den expliziten Antisemitismus großenteils aus ihrer Lehre, ihrer Theologie und ihrer Liturgie entfernt, doch das Kreuz, das zentrale und höchst beziehungsreiche Symbol des Katholizismus, wird zusammen mit dem aus der Bibel abgeleiteten antisemitischen Schmähwort "Christusmörder", wie Caroll argumentiert, wohl auch künftig Antipathie gegen Juden hervorrufen.

Diese kurze Analyse des Antisemitismus der katho. Kirche kann nicht die ausführliche Darstellung ersetzen, die es in zahlreichen Versionen gibt. (Carrolls Darstellung in Constantine's Sword ist flüssig, voller eindrucksvoller Erkenntnisse, treffender persönlicher Reflexionen und besticht durch Präzision und Klarheit. Als weitere Beispiele siehe Malcolm Hay, "Europe and the Jews – The Pressure of Christendom Over 1900 Years", William Nicholls, "Christian Antisemitism – A History of Hate", Northvale, N.J., 1995 und James Parkes, "Antisemitismus", München 1964.) Ich will sie hier nicht noch wiederholen, so sehr sie es auch verdient, in christlichen Kulturen immer wieder erzählt zu werden. Nur so viel: Der ehemals gesamteuropäische Antisemitismus, den ein Gelehrter beschreibt als einen "Hass, der so unermesslich und abgrundtief, so intensiv ist, dass man vergeblich um Verständnis ringt," und in dessen Gefolge es zu zahlreichen Angriffen mit dem Ziel der Ausschaltung kam, bis hin zu Gewalttaten, die an Völkermord grenzten, dieser Antisemitismus verschwand nicht einfach mit der Aufklärung und der Moderne, doch ging er in einigen Ländern und bei bestimmten Gruppen allmählich zurück. Die Kirche indes verbreitete ihn weiterhin systematisch, während sich daneben eine neue, abgeleitete, rassistische Form des Antisemitismus zu entwickeln begann.

Die wurde vor allem, wenngleich nicht nur im Deutschland des 19. Jh.s populär, wo die christliche Litanei der emotional wirkungsvollen judenfeindlichen Vorwürfe durch ein neues, pseudowissenschaftliches Rassenprinzip verschärft wurde, ergänzt durch neue, zeitgemäße Bezichtigungen – Bezichtigungen, deren sich übrigens christliche wie rassistische Antisemiten gleichermaßen bedienten.
Der christliche Antisemitismus hatte sich stets der Sprache und den gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit angepasst und mit neuen antisemitischen Vorwürfen auf politische und wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen reagiert.
# Die moderne Welt war das Zeitalter der Nationen, also sagte man den Juden nach, sie unterminierten die Einheit der Nation.
# Es war das Zeitalter des sich industrialisierenden Kapitalismus, also sagte man den Juden nach, sie zögen die Fäden und beuteten ganze Volkswirtschaften aus.
# Es war das Zeitalter der Säkularisierung, also sagte man den Juden nach, sie griffen das Christentum und die Moral im Allgemeinen an.
# Es war das Zeitalter wachsender Forderungen nach politischer und wirtschaftlicher Teilhabe und Gerechtigkeit einschließlich marxistischer Forderungen, also sagte man den Juden nach, sie hetzten die Menschen zu politischer Destabilisierung und Revolution auf.

Die uralte christliche Sicht der Juden als Urheber von allerlei Übeln machten sich rassistische Antisemiten instinktiv zu Eigen, vor allem in Deutschland. Deutschsein wurde verschmolzen mit Christentum, wodurch Jüdischsein zum bösen Anderen wurde, nicht nur für die Christenheit, sondern auch für Germanien. Das Christentum überlieferte den modernen rassistischen Antisemiten eine wirkungsvolle Dämonologie, eine heftige emotionale Abneigung gegen Juden und ein Bild des Juden als des finsteren Anderen, der unaufhörlich das Gute mit Stumpf und Stiel zu zerstören sucht, wobei als Stumpf im Falle Deutschlands das deutsche Volk betrachtet wurde.

Das ganze 19. Jh. hindurch und bis weit ins 20ste hinein, die 30er und 40er Jahre eingeschlossen, verbreitete die katholische Kirche in Veröffentlichungen und Predigten weiterhin antisemitische Lügen und Hassparolen. Es ist daher nicht erstaunlich, dass sie mit dem, was rassistische Antisemiten sagten und forderten, weitgehend übereinstimmen konnte, auch wenn sie gewöhnlich nicht die Ansicht der Rassisten teilte, dass die vermeintliche Bösartigkeit der Juden angeboren sei, denn dann hätten Juden durch Übertritt zum Christentum und Taufe nicht erlöst werden können. Für das gemeine Volk, das kein Ohr für die feinen Nuancen des antisemitischen Schlachtrufs hatte, wiederholten und verstärkten die schrecklichen Vorwürfe und Hassparolen des einen Antisemiten (des religiösen, etwa der katholischen Kirche) nur die schrecklichen Vorwürfe und Hassparolen des anderen Antisemiten (des rassistischen, etwa des Nationalsozialisten). Dass sich die "den Juden" verteufelnden Anschuldigungen der Antisemiten nicht hundertprozentig deckten, sondern – im übertragenen Sinne – nur zu 90 Prozent, machte ihren antisemitischen Anhängern nichts aus.

Mächtige Wissenschaftsmythen brechen zusammen



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 95 f.) Das neue Paradigma in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Holocaust

Bevor man sich dem Themenkomplex, der sich auf den Antisemitismus der Kirche und den Holocaust bezieht, zuwendet, könnte man fragen: Warum werden diese Fragen in den meisten Darstellungen des Holocaust nicht gestellt, von Darstellungen der Kirche während des Holocaust gar nicht zu reden?
Wie ist es möglich, diese überwältigenden Beweise für Feindseligkeit und antisemitischen Hass und die Tatsache, dass dieser offenkundig eine unerlässliche Voraussetzung für die Entstehung des Holocaust war, zu leugnen?
Verteidiger und sogar viele Kritiker Pius' XII. erörtern den Antisemitismus der Kirche entweder überhaupt nicht oder nur ganz flüchtig und oft in entlastender Weise. Es ist doch seltsam, dass Leute Bücher über Pius XII., die Kirche und den Holocaust schreiben, ohne gründlich auf die lange Geschichte des tief verwurzelten Antisemitismus der Kirche und der kirchlichen Judenverfolgung oder auf die Verbreitung und den Charakter des Antisemitismus innerhalb der Kirche während der NS-Zeit einzugehen. Allerdings ist diese ahistorische Herangehensweise an die Erforschung des Holocaust – ohne jede apologetische Absicht – auch bei akademischen Historikern, die sich mit dem Massenmord befassen, eine dermaßen verbreitete, wenn auch nicht durchgängige Praxis, dass dieses spezielle Versäumnis im Rahmen der allgemeinen Vernachlässigung des Themas gar nicht weiter auffällt.

Der problematische Umgang vieler Historiker mit dem Holocaust, zum Beispiel, dass sie auf eine vollkommen ahistorische Weise darüber schreiben, so als spielte die politische Kultur Deutschlands vor der NS-Zeit einschließlich ihres Antisemitismus keine nennenswerte Rolle, wird diskutiert in Daniel Jonah Goldhagen, "Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas. *) Die Zeugnisse der Opfer, wichtige Beweise und neue Perspektiven in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Holocaust", in: Jürgen Elsässer und Andrei S. Markovits (Hg.), "Die Fratze der eigenen Geschichte. Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawien-Krieg", Berlin 1998, S. 80-102.
Als klassische Beispiele eines solchen Ahistorizismus siehe Browning, "Ganz normale Männer" und Mommsen, "Die Realisierung des Utopischen".

*) In den letzten zwei Jahren hat eine neue Art der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Holocaust eingesetzt, die sich in der beispiellosen, weitverbreiteten öffentliche Diskussion über verschiedene Aspekte der Judenvernichtung abzeichnet. Das alte Paradigma besteht aus abstrakten, gesichtslosen Strukturen und Institutionen (Bürokratie, der überstrapazierte "Terrorapparat", der vorgeblich gegen die Deutschen gerichtet war, die SS, die NSDAP und die Gaskammern) und aus angeblich unwiderstehlichen Kräften (totalitaristischer Terror, Erfordernisse des Krieges, sozialpsychologischer Druck). Dieses Paradigma löscht die handelnden Menschen aus, leugnet ihre Fähigkeit, sich ein Urteil über ihre Taten zu bilden, spricht ihnen die Fähigkeit ab, moralische Entscheidungen zu treffen. Es ist ahistorisch. Es will glauben machen, dass irgend welche Menschen aus irgend einer geschichtlichen Epoche mit beliebigen Auffassungen von Juden (selbst mit positiven Einstellungen ihnen gegenüber) genauso gehandelt hätten wie die Täter, mit derselben Grausamkeit, derselben Hingabe, demselben mephistophelischen Gelächter. Diese Auffassung wird von der Auffassung in Frage gestellt, dass der Holocaust von Menschen veranstaltet worden ist, die Überzeugungen hatten in Bezug auf das, was sie taten. Überzeugungen, die einem spezifischen historischen Kontext entsprangen. Kurz, diese andere Auffassung geht wohlbegründet davon aus, dass die Menschen, deren Werk der Holocaust war, Entscheidungen darüber trafen, wie sie sich innerhalb der Institutionen verhielten. Der Mensch kommt in der Diskussion endlich zu seinem Recht. Die bis jetzt dominierende Frage "Was zwang ihn dazu, gegen seinen Willen zu handeln," wird ersetzt durch die Frage "Warum hat er sich entschlossen, so zu handeln, wie er es tat."

Mächtige Mythen brechen zusammen: Die falsche Vorstellung, dass die Schweizer und die Schweden so handelten, wie sie es taten, weil sie von Deutschland bedroht waren. Das Trugbild, dass Menschen in den besetzten Ländern nicht mehr getan haben, um den Deutschen entgegenzuarbeiten beziehungsweise sie ihnen nicht weniger bei der Verfolgung der Juden geholfen haben, nur weil sie vor der deutschen Besatzungsmacht Angst hatten. Die offizielle Verlautbarung der alliierten Regierungen, sie hätten bei bestem Willen nicht mehr tun können, um die Opfer zu retten. Das Märchen, dass diejenigen, die sich an jüdischem Eigentum bereicherten, sich in der Regel nicht darüber bewusst waren, was sie taten. Die Falschdarstellung, dass die Täter in der Regel missbilligten, was sie taten und zu verbrecherischem Verhalten gezwungen werden mussten oder dass sie sich äußerem Druck fügen mussten und dann eben so handelten, wie es ihnen dieser äußere Druck gebot.
Und die drei damit verbundenen Legenden: Erstens, dass die Deutschen (trotz Ausnahmen) im Allgemeinen nicht wussten, dass ihre Landsleute Juden in großen Massen umbrachten. Zweitens, dass sie in großer Mehrheit das Naziregime nicht unterstützten. Drittens, dass sie die eliminatorische Verfolgung der Juden nicht befürworteten.

Niemand sollte sich wundern, dass viele Leute, die sich mit derartigen Ansichten getröstet oder die auf der Grundlage solcher Ansichten Karriere gemacht haben und die nun in den mächtigen neuen Infragestellungen gängiger Auffassungen etwas politisch nicht Wünschenswertes oder eine persönliche Bedrohung sehen, von dem Paradigmenwechsel nicht entzückt sind. Ihre Standarderwiderung ist der Angriff, sehr oft auf bissigste und prinzipienloseste Art, auf die Verkünder der unerwünschten Nachrichten – seien es Wissenschaftler oder Institutionen wie das Hamburger Institut für Sozialforschung, das unter Beschuss geriet, weil es die Wanderausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht sponserte, oder der Jüdische Weltkongress, weil er das vorenthaltene jüdische Gold Schweizer Banken auf die Agenda setzte, oder seien es Zeugen – genauer gesagt – jüdische Überlebende, deren Aussagen für die Anhängerschaft der Mythen immer eine erschütternde Bedrohung gewesen sind. Es wäre nützlich, wenn bestimmte Elementareinsichten, die bisher von dem jetzt bröckelnden Paradigma verdeckt waren, allgemeine Akzeptanz finden würden.


Wünschenswert wäre ...

Erstens: Die Abschaffung der karikaturhaften Darstellung deutscher Individuen, wonach diese keine Meinung über die Rechtmäßigkeit ihres Tuns und des Tuns ihrer Landsleute hatten – ein Tun, das sich auch auf die Ermordung von Kindern erstreckte. Was wir wissen müssen, ist, wie sich Ansichten unter den Deutschen verbreiteten, wie diese Ansichten separat oder in Interaktion mit andern Faktoren das Handeln der Deutschen während der kritischen Jahre mitbestimmt haben.

Zweitens: Das Verwerfen der Legende, dass die groß angelegte Ausrottung der Juden ohne Wissen der dt. Öffentlichkeit vonstatten ging. Selbst die Deutschen fangen an, aufrichtiger mit dieser Gegebenheit umzugehen:
27 Prozent von denen, die 1945 nicht jünger als 14 Jahre alt waren, geben heute zu, dass sie schon während der Judenvernichtung wussten, was sich abspielte. Umfrageexperten der Deutschen Presseagentur (DPA) vermuten, dass die eigentliche Zahl derer, die von der Judenvernichtung etwas wussten, in Wirklichkeit noch viel größer war. Doch in der Flut von Artikeln, die seitdem über den Holocaust publiziert worden sind, bin ich auf keine Erwähnung der obigen Ergebnisse gestoßen – obwohl die Umfrageergebnisse bekanntgemacht wurden, und auch DPA darüber berichtete. Sie sind wohl trotzdem ignoriert worden, weil es einen zentralen Bestandteil des konventionellen Paradigmas sprengen würde.

Drittens: Das Eingeständnis, dass Deutsche, die nicht Angehörige ganz bestimmter verfolgter Gruppen waren (Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, geistig Behinderte, führende Mitglieder der KPD und SPD), nicht so terrorisiert wurden, wie das Totalitarismus-Modell glauben machen will. Die weit verbreitete Unzufriedenheit und Opposition, die Deutsche in Bezug auf viele Maßnahmen des Regimes zum Ausdruck brachten, und das Maß, in dem das Regime diesem Druck nachgab, geben Anlass zu diesem Schluss. Folglich muss ein neues Verständnis des Verhältnisses zwischen der Staatsmacht, der Politik des Regimes und der öffentlichen Zustimmung erarbeitet werden. Unerlässlich wird die vergleichende Frage, warum Deutsche Unzufriedenheit und Opposition in unterschiedlichem Ausmaß in Bezug auf verschiedene Maßnahmen des Regimes zum Ausdruck brachten, aber keine grundsätzliche Gegnerschaft zu der eliminatorischen Verfolgung der Juden. Insgesamt müssen alle Modelle überdacht werden, die davon ausgehen, dass unwiderstehliche äußere Kräfte Menschen – Deutsche, Franzosen, Polen, Schweizer und die Alliierten – zwangen so zu handeln, wie sie es taten. Wenn die überwältigende Mehrheit der Deutschen es wirklich gewollt hätte, dann hätte Hitler seinen Plan für die radikale eliminatorische Verfolgung der Juden niemals in die Tat umsetzen können.

Viertens: Einführung einer vergleichenden Sichtweise auf das Phänomen Genozid, damit diejenigen, die sich wissenschaftlich mit dem Holocaust beschäftigen, nicht mit Methoden arbeiten und kausale Behauptungen aufstellen, die nicht vereinbar sind mit dem, was sie über analoge Phänomene wissen. Alle verfügbaren Quellen (zeitgenössische Dokumente, die Aussagen der Täter, Opfer und Zuschauer), die im Lichte klar artikulierter standardisierter Kriterien der Sozialwissenschaft nicht fragwürdig erscheinen, müssen herangezogen werden.
Wenn beispielsweise Aussagen jüdischer Überlebender verworfen werden, so muss das aufgrund von wissenschaftlichen Standards erfolgen, die auch im Falle von Zeugen und Opfern aus dem Volk der Tutsi, von Bosniern, Kambodschanern, Armeniern, Opfern des Gulag oder von versklavten Schwarzen der amerikanischen Südstaaten Bestand haben.

Fünftens: Das Eingeständnis, dass der Holocaust sowohl universale als auch einzigartige Element enthält.
Sein universaler Aspekt ist, dass alle Menschen dazu fähig sind, andere Gruppen so sehr zu entmenschlichen, dass der Hass auf die so Ausgegrenzten und Erniedrigten einen Genozid heraufbeschwören kann. Sein besonderer Aspekt, dass derartige Ansichten nicht in jeder Gesellschaft in gleichem Maße und unterschiedslos in Bezug auf jegliche Gruppe entstehen. Sollten sie es aber doch tun, dann hat nicht jede Gesellschaft einen Staat, der seine hasserfüllten Bürger dazu anspornt, eine massenhafte Vernichtung zu veranstalten. Die universale Fähigkeit, Hass zu verspüren, heißt noch lange nicht, dass alle Menschen es zulassen, sich von dieser Leidenschaft beherrschen zu lassen. Oder dass sie alle anderen auf die gleiche Art und Weise hassen oder dass alle Formen des Hasses Menschen dazu bringen können, ihre Hassobjekte auf die gleiche Art und Weise zu behandeln.
Real existierender Hass ist, im Gegensatz zu der Fähigkeit, Hass zu empfinden, ein soziales Konstrukt und von historischer Einzigartigkeit.

Der Holocaust liegt nicht "jenseits des menschlichen Auffassungsvermögens". Im Prinzip ist er so erklärbar wie jeder andere Völkermord. Niemand behauptet, dass der Völkermord in Ruanda oder das gigantische Massaker in Kambodscha unerklärbar seien. Was so viele Leute einfach nicht anerkennen wollen, ist, dass die Opfer des Holocaust uns sehr viel über ihre Peiniger zu erzählen haben (nicht weniger als die Opfer in Ruanda und Bosnien über die ihren) und dass die dt. Täter in gewisser Weise auch so waren wie andere Täter, die in Massenmorden mitgemetzelt haben: In überwältigender Mehrheit waren eben auch sie willige Vollstrecker. Dass Leute diese Fakten bezüglich nicht-jüdischer Opfer von Völkermorden und bezüglich afrikanischer oder asiatischer Täter anstandslos akzeptieren, nicht aber in Bezug auf Juden – beziehungsweise auf "zivilisierte", weiße, christliche Europäer – ist beunruhigend.
Würde jemand auch nur einen Augenblick in Erwägung ziehen, dass türkische, serbische oder Hutu-Täter glaubten, dass das Niedermetzeln von Armeniern, Muslimen oder Tutsi nicht rechtens war? Würde irgend jemand glauben, dass die Aussagen dieser Genozid-Opfer uns keine Auskunft geben könnten über die Beschaffenheit der jeweiligen Völkermorde, die Einstellung der Täter mit eingeschlossen?

Wie immer mehr Deutsche mittlerweile begriffen haben, kann man sich eingestehen, dass viele Deutsche vor und während der Nazizeit bösartige Antisemiten waren, dass viele von ihnen die brutale Verfolgung der Juden unterstützten und dass die Judenmörder aus den Reihen der ganz gewöhnlichen Deutschen kamen, ohne dass das auch eine Anklage jener Deutscher, die sich den üblichen Normen und Handlungsweisen jener widersetzten, oder eine Anklage des heutigen Deutschlands nach sich ziehen muss. Dass scheint so selbstverständlich zu sein, dass nur deshalb darüber geredet werden muss, weil Kommentatoren beharrlich zwei Trugschlüsse ziehen:
Sie tun so, als ob die Beweisführung, wonach die Verbreitung individueller Schuld an Verbrechen in der NS-Zeit viel größer war als zuvor angenommen, einer Kollektivschuld-These gleichkäme. Auch tun sie so, als ob eine ungeschminkte Rede über die Deutschen von damals das heutige Deutschland diffamiere.
Diejenigen, die diesem Irrtum aufsitzen, sind selbst Menschen, denen individuelle Verantwortung fremd ist und die an die unhaltbare Vorstellung eines unveränderlichen "Nationalcharakters" gekettet sind oder sie glauben an eine Art vererbbarer Kollektivschuld. Deutsche der Nazizeit sollten nach denselben juristischen und moralischen Maßstäben beurteilt werden wie Menschen in unserer Gesellschaft. Die Bundesrepublik Dtl. sollte, wie alle anderen Länder auch, im Lichte ihres eigenen Charakters, ihrer eigenen Praktiken, Leistungen und Mängel beurteilt werden und nicht gemäß einer Zeit in Dtl.s Geschichte, die jetzt über 50 Jahre zurückliegt.

Viel von dem, was ich schreibe, findet ein Echo in einem privaten Brief aus dem Jahre 1946, in dem ein Deutscher einem Priester schonungslos seine Meinung sagte:

"Nach meiner Meinung trägt das dt. Volk und tragen die Bischöfe und der Klerus große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Richtig ist, dass nachher vielleicht nicht mehr viel zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das dt. Volk – auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil – sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung [...] gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld. Im Übrigen hat man aber auch gewusst – wenn man auch die Vorgänge in den Lagern nicht in ihrem ganzen Ausmaß gekannt hat – dass die persönliche Freiheit, alle Rechtsgrundsätze mit Füßen getreten wurden, dass in den Konzentrationslagern große Grausamkeiten verübt wurden, dass die Gestapo, unsere SS und zum Teil auch unsere Truppen in Polen und Russland mit beispiellosen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung vorgingen. Die Judenpogrome 1933 und 1938 geschahen in aller Öffentlichkeit ..."

Der Verfasser des Briefes war kein Geringerer als Konrad Adenauer, der mehr als irgend einer dazu beitrug, Deutsche in die Gemeinschaft der Völker zurückzuführen. Niemand würde Adenauer unterstellen, jeden Deutschen verdammt zu haben (obwohl er von "den Deutschen" schrieb) oder als Deutschenhasser gesagt zu haben, die Deutschen würden sich nicht ändern, so dass sie ewig Träger jener Ansichten blieben, die sie dazu verführt hatten, sich dem Nationalsozialismus zu verschreiben.
So stellt sich die Frage, warum heute so mancher diejenigen, die Adenauers schonungslose Wahrheit ansprechen, mit einem Verbot belegen möchte und ihnen zuschreibt, was sie und Adenauer niemals gemeint haben.

Jeder, der das heutige Dtl. kennt, das Dtl. Adenauers, weiß, dass dieses neue Dtl. sich auf bemerkenswerte Weise von Nazideutschland unterscheidet. In der Tat, erst dann, wenn man anerkennt, wie tief Dtl. gesunken war, statt sich vorzumachen, es sei unglücklicherweise ganz unverschuldet irgendwie in die Klauen einer brutalen, mörderischen Diktatur geraten, kann man würdigen, was für enorme Leistungen Dtl. nach 1945 vollbracht hat. Wenn wir leugnen, wie Dtl. wirklich war, werden wir nie ganz verstehen, wie sehr sich die Deutschen angestrengt haben und wieviel Gutes nach dem Krieg entstanden ist. Das konventionelle wissenschaftliche Paradigma, das die Entscheidungsfähigkeit der Protagonisten verleugnet und mit dieser Verleugnung die Wahrheit verfälscht, verfälscht auch die Gegenwart.



S. 96) Allzu selten – ob als Deutsche, Christen oder Akademiker

Wer über den Antisemitismus, der früher in Europa – und eben auch bei katholischen Würdenträgern – verbreitet war, schlichte, offenkundige Wahrheiten ausspricht, trifft oft auf heftigen Widerstand. Angesichts dessen aber, dass es in der Welt heute rund zwei Milliarden Christen (darunter über eine Milliarde Katholiken) gibt (darunter die meisten Amerikaner und Europäer) und dass das sichtbarste, geachtetste und mächtigste religiöse Oberhaupt weltweit das Oberhaupt der katholischen Kirche ist, wird über das Christentum und den Antisemitismus und speziell über das Christentum und den Holocaust allzu selten die Wahrheit gesagt. Diejenigen, die sich – ob als Deutsche, Christen oder Akademiker – darauf versteift haben, unhaltbare Positionen zu verteidigen, können wütend werden, wenn jemand die Unrichtigkeit ihrer Behauptungen aufdeckt.
Ihr Vorwurf, das sei deutschfeindlich oder katholikenfeindlich, ist genauso surreal wie etwa der Vorwurf der Weißenfeindlichkeit gegen diejenigen, die die offenkundige Wahrheit aussprechen, dass der Sklaverei und der Rassendiskriminierung in Amerika ein verbreiteter Rassismus zu Grunde lag und dass die Weißen, die die Sklaverei und Rassentrennung betrieben, die Schwarzen für minderwertig und gefährlich hielten.

Christlicher Massenmord zum Wohl des Volkes



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 87-90) Slowakische Staatspitze offen antisemitisch-klerikal

In der Slowakei war die katholische Kirche nicht nur äußerst einflussreich – ihre Priester waren die politischen Gründer und Führer des jungen unabhängigen Staates.
Der antisemitische Pater Andrej Hlinka gründete 1905 die Slowakische Volkspartei, und nach seinem Tod im Jahr 1938 wurde Monsignore Jozef Tiso, sein Nachfolger, 1939 erster Präsident des deutschen Satellitenstaates Slowakei. Ministerpräsident wurde der ausgesprochen fromme Katholik Vojtech Tuka. Ihre Regierung erließ umfassende antisemitische Gesetze nach dem Vorbild der deutschen und zettelte die Deportation der slowakischen Juden an, indem sie Anfang 1942 die Deutschen ersuchte, 20 000 Juden zu deportieren. Nach außen hin erfüllte die Slowakei damit das ihr auferlegte Arbeitskräftekontingent. Adolf Eichmann hat später bemerkt, die slowakischen Behörden hätten den Deutschen ihre Juden wie "saures Bier" angeboten.
Im August 1942 – die Deportation der slowakischen Juden in den Tod hatte begonnen – predigte der Priester-Präsident Tiso in einer Sonntagsmesse unter Verwendung antisemitischer Floskeln und Argumente, wie sie auch die Nationalsozialisten benutzten, die Vertreibung der Juden sei eine christliche Tat, weil die Slowakei sich "ihrer Schädlinge" entledigen müsse. Er berief sich auf die Autorität seines priesterlichen Vorgängers Pater Hlinka, der im Einklang mit den Ansichten vieler Katholiken seiner Zeit – entgegen der offiziellen Politik der Kirche – die rassistische Lehrmeinung verkündet hatte: "Ein Jude bleibt ein Jude, und wenn er von hundert Bischöfen getauft ist." (Livia Rothkirchen, "The Churches and the Deportation and Persecution of Jews in Slovakia", in: Carol Rittner, Stephen Smith und Irena Steinfeldt, "The Holocaust and the Christian World", S. 106)

Einzelne slowakische Bischöfe kritisierten diese Haltung, doch die Mehrheit der Kirchenführung unterstützte den auf Ausschaltung der Juden gerichteten Kurs der Regierung. Sie brachte das auch zum Ausdruck.
Auf dem Höhepunkt der Deportationen im April 1942 verabschiedeten die slowakischen Bischöfe einen gemeinsamen Hirtenbrief, der im Grunde die Deportation der Juden als Christusmörder rechtfertigte:

"Die Tragödie des jüdischen Volkes besteht darin, dass es den Erlöser nicht anerkannte und ihm einen schrecklichen und schimpflichen Tod am Kreuz bereitete."

Dies vervollständigten sie mit modernen antisemitischen Vorwürfen:

"Auch bei uns war der Einfluss des Judentums schädlich [...] Er wirkte sich nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kultur und im sittlichen Bereich schädlich aus. Die Kirche kann somit nichts dagegen einzuwenden haben, wenn die Staatsmacht solche gesetzlichen Maßnahmen ergreift, dass dieser schädliche Einfluss der Juden verhindert werde."

Zuvor hatten die slowakischen Bischöfe bei ihrer Regierung erfolgreich zu Gunsten von Christen interveniert, die vom Judentum übergetreten waren, nicht aber zu Gunsten der Juden. Die Christen wurden nicht deportiert.
(Siehe Morley, " Vatican Diplomacy and the Jews During the Holocaust", S. 76, 84, 86 und Rothkirchen, S. 105 f.)
Nach alldem kann es niemanden mehr verwundern, was ein slowakischer Priester einem der maßgeblichen Vollstrecker bezüglich der Deportation der Juden auf den Weg gab: Vojtech Tuka, der mörderische katholische Ministerpräsident der Slowakei, vertraute einem deutschen Diplomaten an, er habe seinem Beichtvater erklärt, dass er wegen der Deportation der slowakischen Juden ein reines Gewissen habe. Der Priester, sagte Tuka, sei "nicht gegen seine Handlungsweise" gewesen, solange seine Taten "dem Wohl seines Volkes" dienten.
(Der Hirtenbrief ist zitiert nach Ladislav Lipscher, "Die Juden im Slowakischen Staat 1939-1945", München/Wien 1980 – Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 35 – S. 190. Siehe auch Rothkirchen, "The Destruction of Slovak Jewry", S. 146.)

Mit der Veröffentlichung eines Hirtenbriefes gegen die Deportation warteten die Bischöfe bis zum März 1943 – da waren die Deportationen mit all ihren offensichtlichen Brutalitäten seit fast einem Jahr im Gange, und inzwischen waren drei Viertel der slowakischen Juden in den Tod geschickt worden.
Dass sie sich zu Wort meldeten, lag ersichtlich nur daran, dass das Kriegsglück der Deutschen sich gewendet hatte – und trotzdem waren viele Bischöfe noch gegen den Brief. Die slowakischen Bischöfe beschlossen, den Brief auf Latein verlesen zu lassen, das kaum ein Slowake verstand.
Auf diese Weise animierte der Brief garantiert nicht viele dazu, Mitgefühl für die Juden zu empfinden oder ihnen zu helfen. Der Klerus wehrte sich so entschieden gegen den Brief, dass viele Priester ihn überhaupt nicht verlasen oder so verfälschten, dass er den Angriff auf die Juden nicht mehr verurteilte.
Der Vatikan protestierte mehrmals diskret, aber vergeblich bei der slowakischen Regierung, allerdings hauptsächlich zu Gunsten von Katholiken, die vom Judentum übergetreten waren oder in Mischehe lebten. Er war aufs Höchste besorgt, dieses erklärtermaßen katholische Regime könnte die Kirche und den Papst in den Massenmord verwickeln – dass die Kirche in der Slowakei das Sagen hatte, ließ sich nicht bestreiten.
Die dt. Regierung hatte zuvor mit "unverhohlener Genugtuung" bemerkt, dass die antisemitischen Gesetze der Slowaken "in einem Staat erlassen wurden, an dessen Spitze ein Mitglied des katholischen Klerus steht".

Im Oktober 1944, als die Niederlage der Deutschen absehbar war, warnte der Vertreter Pius' XII. Präsident Tiso vor dem Schaden, den weitere Deportationen der Kirche zufügen würden:

"Das von der Regierung begangene Unrecht ist dem Ansehen des Landes abträglich und wird von Gegnern ausgenutzt werden, um den Klerus und die Kirche weltweit zu diskreditieren."

Wie die Kirche selbst deutlich machte, war diese Intervention in hohem Maße von egoistischen politischen Interessen der Kirche und kaum von Mitgefühl mit den todgeweihten Juden geleitet. *)
Wie bei dem späten Appell an Horthy in Ungarn verschaffte sich die Kirche mit dieser weniger als halbherzigen Intervention ein Feigenblatt, das ihre unentschuldbare Haltung in der künftigen, von den Alliierten dominierten Welt verdecken sollte.

*) Siehe auch John F. Morley, ("Sister" Margherita Marchione) "Vatican Diplomacy ...", S. 92 f. zum zynischen internen Vermerk vom 7. April 1943, in dem Monsignore Domenico Tardini wegen der Befürchtung, die Handlungsweise Pater Tisos werde der Kirche angelastet, empfiehlt, der Vatikan solle bei Tiso protestieren.
Der Vatikan könne dann den Inhalt des Protestschreibens durchsickern lassen, "damit die Welt erfährt, dass der Heilige Stuhl seine Verpflichtung zur Nächstenliebe erfüllt." Anschließend überlegt er, dass, "falls die Juden [...] unter den Siegern sein sollten," ein solcher Protest der Kirche bei ihnen nicht verfangen werde, weil sie "dem Heiligen Stuhl und der katholischen Kirche nie sonderlich wohlgesonnen sein werden".
Diesen Zynismus kann auch nicht mildern, dass der erste Absatz des Vermerks die Verfolgungen anprangert und feststellt, dass "die Judenfrage eine Menschheitsfrage ist", die Kirche daher "vollkommen zu einer Intervention berechtigt" sei. Doch davon abgesehen könnten wir fragen, was er mit den siegreichen Juden meint. Sie wurden in Massen umgebracht, waren machtlos und hatten keine Armee.
Welche Vorstellungen hatte er von der Macht der Juden, dass er sie sich als Sieger vorstellen konnte?

Was unternahm die katholische Kirche gegen Präsident Tiso, den Priester, der unter ausdrücklicher Berufung auf die Autorität der Kirche zum Massenmord an den Juden beitrug? Was unternahm sie gegen die katholischen Geistlichen im slowakischen Parlament, von denen nicht einer gegen die Gesetze stimmte, die die Deportation der Juden in die Todeslager legitimierten? Keine öffentliche Verurteilung. Keine Exkommunikation. Nichts. Pius XII. und seine Bischöfe beließen vielmehr Monsignore Tiso und die anderen Priester in der katholischen Kirche – und das nicht bloß als Laien, sondern als Priester, die die Sakramente spendeten. Sie lehnten es ab, sich öffentlich und nachdrücklich von ihm und den anderen Priestern zu distanzieren, die zu Deportationen und Massenmord beitrugen und dem Mord ihren Segen gaben, und sie lehnten es ab, diesen Mann und die anderen, die öffentlich im Namen der Kirche agierten, zu exkommunizieren. Damit offenbarten Pius XII. und seine Bischöfe ihre Überzeugung, dass Männer, die in den Massenmord an den Juden verwickelt waren, in ihren Augen würdig waren, die katholische Kirche in ihren heiligsten Funktionen zu repräsentieren.



S. 90-93) Antisemitische christliche Kultur und ihre Winkelzüge

Dieser unglaubliche Sachverhalt trat noch deutlicher in Kroatien hervor, wo viele Priester selbst Massenmord begingen, darunter auch als Kommandanten von etwa der Hälfte der zwanzig Todeslager, die das dem Nationalsozialismus verwandte Ustascha-Regime errichtete:

"Dutzende, womöglich sogar Hunderte von Priestern und Mönchen legten ihr Priestergewand ab und zogen Ustascha-Uniformen an, um sich an dem 'heiligen Werk' von Mord, Vergewaltigung und Raub zu beteiligen."
(Menachem Shelah, "The Catholic Church in Croatia, the Vatican and the Murder of the Croatian Jews", in: Bauer et al., "Remembering for the Future", Bd. 1, S. 269)

Das berüchtigtste Lager war Jasenovac, wo die Kroaten 200.000 Juden, Serben und Zigeuner ermordeten. Vierzigtausend dieser Opfer starben unter der ungewöhnlich grausamen Herrschaft von "Bruder Satan", dem Franziskanermönch Miroslav Filipovic-Majstorovic. (Leni Yahil: Die Shoah) Er und die anderen kroatischen Priester-Vollstrecker wurden von Pius XII. weder getadelt noch bestraft, nicht während des Krieges und nicht hinterher. Stattdessen unterstützte Pius XII. das mörderische Regime ihres Landes.

In ihren Ansichten über die Juden waren die Führer der verschiedenen nationalen katholischen Kirchen (das gilt auch für die protestantischen Kirchen) stark von der Kultur und Politik ihrer jeweiligen Gesellschaft geprägt. Die überwölbende Tradition eines kulturellen und doktrinären Antisemitismus der katholischen Kirche wurde also durch die jeweilige politische Kultur gebrochen. In weniger antisemitischen Ländern wie Dänemark, Frankreich und Italien waren – in unterschiedlichem Ausmaß – auch die Kirchen weniger antisemitisch. Das galt besonders für die amerikanische katholische Kirche, die innerhalb der katholischen Welt für ihre Unabhängigkeit, ihren Pluralismus und ihre Toleranz bekannt war. Papst Leo XII. sah sich deshalb in den späten 90er Jahren des 19. Jh.s bemüßigt, die in weiten Teilen der amerikanischen Kirche herrschende Toleranz als Häresie namens "Amerikanismus" zu bezeichnen. Die Geistlichen in diesen Ländern reagierten jedenfalls häufiger mit ehrlichem Entsetzen auf den antisemitischen Angriff der Deutschen und halfen den Juden in größerem Umfang. In Ländern mit einem starken Antisemitismus wie Deutschland, Litauen, Polen, der Slowakei und der Ukraine drückten sich die Intensität und der besondere Charakter des jeweiligen Antisemitismus auch in der Haltung der Kirchenmänner aus. Als in Litauen im August 1941 der Massenmord an den Juden durch Deutsche und Litauer in vollem Gange war, meldete ein deutscher Bericht, die Führer der litauischen katholischen Kirche hätten "den Priestern verboten, Juden in irgendeiner Weise zu helfen," und sie erließen dieses Verbot, nachdem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft mit der Bitte um Hilfe an die Kirchenleitung herangetreten waren. Obwohl einzelne Priester Juden halfen, kollaborierte die litauische Kirche insgesamt sehr wohl mit den Deutschen, und manche ihrer Priester beteiligten sich an den dt. und litauischen Mordinstitutionen und stellten ihre Autorität in ihren Dienst. Erst als das Kriegsglück sich gegen Dtl. wendete, begann eine größere Anzahl von Geistlichen insbesondere jüdischen Kindern zu helfen.

Um ihre vielen unterschiedlichen Rollen während des Holocaust zu verstehen, muss man die katholische Kirche nicht bloß als einheitliche, im Vatikan angesiedelte Institution untersuchen, deren Charakter sich aus der Interpretation religiöser Doktrinen oder aus ihren politischen Bedürfnissen herleitet, sondern mindestens gleichermaßen als eine Anhäufung von diesseitigen gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die verwandt, aber dennoch verschieden sind. Damit man die katholische Kirche – und die Kirche sich selbst – während des Holocaust umfassend beurteilen kann, bedürfte es einer Erforschung der Einstellungen und Handlungen der einzelnen nationalen katholischen Kirchen gegenüber den Juden vor und während der NS-Zeit unter politik-, sozial- und kulturgeschichtlichem Aspekt. Die gründliche, kompromisslose Darstellung der einzelnen Länder hätte natürlich auch die kleine Minderheit einzelner Bischöfe und Priester in ganz Europa zu berücksichtigen, die sich grundsätzlich gegen die Verfolgung der Juden wandten und ihnen zu helfen suchten, und sie hätte die Reaktion ihrer Amtsbrüder und Gemeindemitglieder auf die von ihnen eingenommene Haltung zu schildern.
Ein solcher Forschungsansatz, der uneingeschränkten Zugang zu allen nationalen und lokalen Kirchenarchiven und denen des Vatikans erfordern würde und bisher nicht verfolgt wurde, ist offensichtlich nötig und würde eine heilsame Abkehr von der gegenwärtigen Fixierung auf den Papst einleiten, aber auch von der apologetischen Praxis, die ausgedehnte Kirchenlandschaft in entlastender Absicht oberflächlich zu vermessen.

Die Verteidiger der Kirche ergänzen ihre Taktik, die Aufmerksamkeit auf solche Teile oder Mitglieder der Kirche zu lenken, die die Kirche bei der jeweiligen Fragestellung in einem günstigen Licht erscheinen lassen, durch einen weiteren Winkelzug: Sie stellen ganz bestimmte Fragen und schließen dadurch andere Fragen aus. Sie benutzen – dies ist das auffälligste Beispiel – Pius XII. als Blitzableiter, um die Aufmerksamkeit vom Rest der Kirche abzulenken. Ebenso irreführend ist die viel diskutierte Frage, warum die Kirche nicht mehr getan hat, um den gejagten Juden zu helfen. So wichtig diese Frage und Untersuchungen über das Verhalten des Papstes auch sind, verschleiern sie in der Regel doch nur die entscheidende, ungeprüfte und allem zu Grunde liegende Frage: Welche Einstellung hatte die Kirche – hatten ihre nationalen Kirchen, Bischöfe, Priester, Nonnen und Laien – zu den Juden und zu deren eliminatorischer Verfolgung, und zwar zur Verfolgung in all ihren Facetten und nicht nur in ihrer extremsten Ausprägung, der Massenvernichtung?



S. 94 f.) Der eiserne Vorhang in der konstantinischen Holocaust-Propaganda

Die Unterdrückung dieser Frage – nach der Einstellung der katholischen Kirche und ihres Klerus zu den Juden und deren Verfolgung – gehört zu dem zweiten Kunstgriff, der angewendet wird, um die Kirche unberechtigterweise zu entlasten: So wird ein eiserner Vorhang zwischen dem bösartigen Antisemitismus der Kirche und dem bösartigen Antisemitismus, der die Deutschen und ihre Helfer dazu brachte, Juden zu verfolgen und schließlich zu ermorden, errichtet. Die Kommission des Hl. Stuhls für die religiösen Beziehungen zu den Juden ("8. Unsere gemeinsame Überzeugung, dass das Leben auf dieser Erde in Wirklichkeit nur ein Teil der menschlichen Existenz ist, muss uns im Gegenteil dazu bringen, die größte Achtung zu bewahren gegenüber der äußeren 'Hülle' – der menschlichen Gestalt – in der die Person in dieser Welt konkrete Wirklichkeit wird. Folglich verwerfen wir gänzlich die Idee, dass die zeitlich begrenzte Natur der menschlichen Existenz auf der Erde uns erlauben könne, diese zu instrumentalisieren. In diesem Zusammenhang verurteilen wir mit Nachdruck jede Art von Blutvergießen, das die Förderung irgendeiner Ideologie zum Ziel hat – besonders dann, wenn dies im Namen der Religion geschieht. Eine solche Handlungsweise ist nichts anderes als eine Entweihung des göttlichen Namens.") erklärte in "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah", dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten "seine Wurzeln außerhalb des Christentums hatte" – eine der eklatantesten öffentlichen Geschichtsklitterungen der letzten Zeit.
(Die amerikanischen katho. Bischöfe stellen das Verhältnis zwischen dem kirchlichen Antisemitismus und dem modernen rassistischen Antisemitismus sowie dem Holocaust sehr viel unverblümter dar und widersprechen, ohne es ausdrücklich zu sagen, dem Dokument "Wir erinnern".)

Der Antisemitismus aus dem Nichts


Die katholische Kirche und der gegenwärtige Papst, der diese Reflexion in Auftrag gegeben hatte und zu ihrer Veröffentlichung ein Begleitschreiben verfasste, wollen uns glauben machen, dass dreierlei auch dann geschehen wäre, wenn die Kirche und ihre Diener auf allen Ebenen nie den Antisemitismus, den "Wir erinnern" entschuldigend "Antijudaismus" nennt, verbreitet und so viele ihrer Anhänger mit diesem "Antijudaismus" durchtränkt hätten: Erstens hätten die Nationalsozialisten und andere Rassenantisemiten dennoch genau dieselbe mörderische Art von Antisemitismus aus dem Nichts erdacht.
Zweitens hätten all jene Menschen in Europa, die keine "neuheidnischen" Antisemiten (so bezeichnet die Kirche den modernen deutschen Antisemitismus) waren, aber gleichwohl – gerade wegen ihres religiösen Antisemitismus – die eliminatorische Verfolgung der Juden durch die Deutschen unterstützten (dies gilt zum Beispiel für viele Kroaten, Litauer, Polen, Slowaken und andere, die sich mitschuldig gemacht haben), dem Angriff der Deutschen dennoch dieselbe moralische und tätige Unterstützung gewährt.
Und drittens wären die Deutschen dennoch auf so geringen Widerstand seitens des Klerus und der Bevölkerung gestoßen und daher im Stande gewesen, den Juden so viel Leid zuzufügen und sechs Millionen von ihnen zu ermorden.

Wenn man nicht bereit ist, seine Zweifel an so unwahrscheinlichen Vorstellungen beiseite zu schieben, dann muss der eiserne Vorhang, den die Kirche zwischen ihrem Antisemitismus und dem der Deutschen errichtet hat, gelüftet werden.
Dann aber fällt der Blick unausweichlich auf die Verantwortung der Kirche nicht nur für ihre Reaktionen auf den eliminatorischen Angriff, sondern auch für den Holocaust selbst.

Mehrere Themen wären zu untersuchen, immer eingedenk der Tatsache, dass nach der Volkszählung von 1939 immerhin 95 Prozent der Deutschen noch einer christlichen Kirche angehörten und schwerlich "Neuheiden" waren (wie die katholische Kirche uns glauben machen will). Oder ist die Kirche etwa der Auffassung, dass die 43 Prozent der Deutschen, die katholisch waren, eigentlich Neuheiden waren? Wie Carroll bemerkt:

"Das deutsche Volk bewahrte, was immer es sonst tat, seine angeblich christliche Identität, und deshalb ist die Frage nach der – ganz vorsichtig ausgedrückt – Duldung von Völkermordverbrechen eine Frage nach dem Gehalt dieser Identität."

Wie hat die Kirche im Laufe der Jahrhunderte Juden wahrgenommen, beschrieben und behandelt?
Was hat die antisemitische Lehre und Praxis der Kirche zum modernen eliminatorischen Antisemitismus beigetragen, der die Nationalsozialisten, die überwältigende Mehrheit des dt. Volkes und im Großen und Ganzen die willigen Vollstrecker beseelte?
Wie hat der kirchliche Antisemitismus den gesellschaftlichen Boden bereitet, auf dem, von anderen bestellt, die Saat des Nationalsozialismus aufging, so dass der eliminatorische Angriff der Nationalsozialisten (in den Anfängen wie in den tödlichen Phasen) in Deutschland und überall in Europa breite Sympathie und zahlreiche Helfer fand?
(Dieselben Fragen müssten im Hinblick auf die protestantischen Kirchen gestellt werden, speziell die deutschen, die Träger von Luthers antisemitischem Vermächtnis.)

Taktisches Getöse + erzfromme Menschenschlächter



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 66 f.) Die Lichtgestalt der Katholiken angesichts mörderischer Konsequenzen

Bedeuten die Bemerkungen Pius' XII., dass der Charakter seines Antisemitismus derselbe war wie der Hitlers? Natürlich nicht. Es gibt viele Spielarten des Antisemitismus, und sie unterscheiden sich erheblich, was ihre Grundlagen, die Natur der gegen Juden erhobenen Vorwürfe und die Intensität angeht. (Zu Spielarten siehe Hitlers willige Vollstrecker S. 45-69) Bedeutet der Antisemitismus Pius' XII., dass er notwendigerweise jeden Aspekt der Verfolgung der Juden durch die Deutschen billigte? Natürlich nicht. Aber bedeutet das, dass seine Vorurteile gegen Juden gründlich untersucht werden müssen und dass die Frage, inwieweit sie sein Handeln beeinflusst haben, im Mittelpunkt jeder Bewertung seines Verhaltens gegenüber der eliminatorischen Verfolgung der Juden stehen muss? Ja, natürlich. Hinterfragt werden muss nicht nur bei jeder neuen deutschen Maßnahme gegen die Juden, warum er sich entschied, etwas zu tun oder untätig zu bleiben, sondern auch, warum er angesichts der offenkundig schädlichen, ja sogar mörderischen Konsequenzen des Antisemitismus nicht verfügte, antisemitischen Äußerungen und Bräuchen von Seiten der Kirche oder seitens Katholiken (vor allem der Antisemitismus der deutschen Katholiken unterschied sich in seiner Dämonisierung der Juden oft kaum von dem der Nationalsozialisten) ein Ende zu machen und ihre Weiterverbreitung durch Kirchenvertreter zu unterbinden. [...]
Zweitens wird vieles, das uns darüber aufklären könnte, welcher Art der Antisemitismus Pius' XII. war und wie er sich auf seine Handlungsweise ausgewirkt hat, so lange unbekannt bleiben, wie der Vatikan nicht seine sämtlichen Archive allen Forschern zugänglich macht (das lehnt er aber beharrlich ab und greift stattdessen diejenigen an, die die Wahrheit erforschen möchten).
Diese ungeklärte Situation gilt auch für die Kirche und ihren Klerus insgesamt.
Die Verteidiger Pius' XII. sind bestrebt, ihn vom Vorwurf des Antisemitismus freizusprechen und ihn als einen Freund der bedrohten Juden darzustellen, der alles in seinen Möglichkeiten Stehende tat, um ihnen zu helfen.
Diese Beschreibung steht jedoch auf tönernen Füßen.



S. 68 f.) 14. Juli 1949 – Die Exkommunikation der Kommunisten

Warum hat Pius XII. – moralisch und praktisch gesehen – 1949 alle Kommunisten auf der Welt (darunter Millionen, die nie einen Tropfen Blut vergossen haben) exkommuniziert, aber nicht einen Einzigen der Deutschen oder Nichtdeutschen, die Hitler im Massenmord am jüdischen Volk millionenfach als willige Vollstrecker gedient haben? Warum nicht wenigstens Hitler selbst, der immerhin katholisch getauft war? Auf all diese Fragen gibt es keine befriedigende Antwort.
Wenn die Verteidiger Pius' XII. überhaupt auf eine dieser Fragen eingehen (meistens werden sie ignoriert), dann in Form einer dritten Strategie, die die beiden anderen – ihn direkt zu entlasten und seinen Antisemitismus zu leugnen – ergänzt: Sie erfinden Zwänge. Ohne überzeugende Beweise behaupten sie, er habe sich entschlossen, nicht mehr für die Juden zu tun, weil er zum Schutz der Kirche die Neutralität des Vatikans wahren musste. Dem widerspricht jedoch seine demonstrative öffentliche Verurteilung des deutschen Einmarschs in Belgien, Luxemburg und die Niederlande. (Ich komme auf diese Behauptung noch zurück.) Fälschlich behaupten sie ferner, Pius XII. hätte mit konzertierten Bemühungen zur Rettung von Juden (die er nach Meinung der Kritiker hätte unternehmen sollen) am Ende nur bewirkt, dass noch mehr Juden umgebracht worden wären.
Kein Geringerer als der enge Vertraute Pius' XII. während des Krieges, Kardinal Giovanni Battista Montini, brachte dieses Argument 1963 kurz vor seiner Wahl zum Papst Paul VI. vor: "Eine Haltung des Protests und der Verurteilung [der Verfolgung der Juden] [...] wäre nicht nur nutzlos, sondern schädlich gewesen." Das war jedoch gar kein Argument. Es war eine herrische Behauptung, mit der er die Notwendigkeit einer näheren Prüfung zurückwies: "Mehr," erklärte der künftige Papst denn auch, "ist dazu nicht zu sagen."
Die Behauptung, Pius XII. hätte den Juden nur geschadet, wenn er versucht hätte, ihnen zu helfen, ist offenkundiger Unsinn. Es gibt keinen einzigen Fall, in dem die Intervention christlicher Kirchen zum Tod von noch mehr Juden geführt hätte.
Dagegen gibt es zahlreiche Fälle, in denen Interventionen zu Gunsten von Juden vielen das Leben gerettet haben.



S. 74) Umfassende strategische Desinformation des "Heiligen Stuhls"

Dass der Papst sich und die Kirche durch offene Worte in Gefahr bringen würde, war damals und ist heute noch eine bequeme, gleichwohl frei erfundene Ausrede. *) Mehr noch: Der Papst selbst lieferte den eindeutigen Beweis dafür, dass solche Überlegungen bei seiner wiederholten Entscheidung, zur Ermordung der Juden durch die Deutschen in der Öffentlichkeit zu schweigen, nicht die geringste Rolle spielten.
Nachdem die Alliierten am 4. Juni 1944 Rom befreit hatten, deportierten die Deutschen nach und nach die Juden des von ihnen besetzten Triest. Der Papst und der Vatikan waren völlig außer Gefahr.
Seit Bischof Santins Appell war mehr als ein halbes Jahr vergangen. (Zu Bischof Santins Intervention siehe Zuccottis UHVW S. 281-190 u. 291) Doch auch jetzt tat Pius XII. absolut nichts, um den Triester Juden zu helfen. Fünfzehn der 22 Züge, die fast 1200 Juden vor allem nach Auschwitz brachten, gingen von Triest ab, als der Papst sich bereits unter dem Schutz der Alliierten in Sicherheit befand.

*) In vielen Schriften über Pius XII. und den Holocaust werden dem Papst entlastende Gemütszustände und löbliche Motive unterstellt, die frei erfunden sind. Es wird sogar zu Gunsten von Pius XII. angenommen (diesmal von Zuccotti, auf die bei der Deutung von Motiven weniger Verlass ist als bei ihren akribischen Ausgrabungen aus Archiven), er habe zwar gewusst, dass die Deutschen in einem europäischen Land nach dem anderen systematisch die Juden ausrotten, sei sich aber sicher gewesen, dass sie den deportierten Juden von Rom nichts antun würden. Warum? Weil die Deutschen es ihm gesagt hatten (siehe Zuccottis UHVW S. 159).

In aller Stille, hinter den Kulissen, hätte Pius XII. auch persönlich vieles unternehmen können, um den Juden, vor allem den italienischen, zu helfen, ohne sich oder die Kirche in Gefahr zu bringen. Er zog es vor, nichts zu tun. (Zuccotti, UHVW, S. 294 f.)
Die Vorstellung, dass mehr Juden umgekommen wären, wenn der Papst sich öffentlich geäußert und versucht hätte, Katholiken – Geistliche wie Laien – und Nichtkatholiken zum Widerstand gegen den von den Deutschen verübten Massenmord zu bewegen, ist ein so bizarres und unsinniges Argument, dass niemand, der über den Holocaust schreibt, es vorbringen würde, abgesehen natürlich von den Holocaustleugnern und ihren Mitläufern, die den Juden selbst die Schuld an ihrer Vernichtung geben oder ihnen verübeln, dass sie jetzt im Nachhinein die Wahrheit über den Holocaust ans Licht bringen. *) Bisher hat niemand bewiesen oder auch nur plausibel gemacht, dass irgendwo Juden durch das päpstliche Schweigen und die Untätigkeit der Kirche gerettet worden wären. Bisher hat niemand bewiesen oder auch nur plausibel gemacht, dass der Papst damals auch nur einen guten Grund hatte zu glauben, die Juden dem von den Deutschen verhängten Todesurteil zu überlassen, sei der richtige Weg, sie zu retten.

*) Der Vatikan dachte sich diese Argumentation aus, um die Alliierten hinzuhalten, die den Papst zu einem klaren Wort drängten. Dies war Teil der umfassenden strategischen Desinformation über den Massenmord und die Schritte des Vatikans, die drei Elemente aufwies: Das Ausmaß des Massenmords an den Juden durch die Deutschen und ihre Helfer (auch innerhalb der Kirche) zu vertuschen oder herunterzuspielen. So zu tun, als sei die Kirche eifrig bemüht, den Juden zu helfen, was nicht der Fall war. Und fiktive Begründungen dafür anzuführen, dass die Kirche und ihre Vertreter nicht mehr unternehmen konnten.
(Zur Doppelzüngigkeit des Vatikans und Pius' XII. selbst siehe die Beispiele in Zuccotti, Under His Very Windows, S. 294 ff. und Phayer, The Catholic Church and the Holocaust, S. 48 f.)



S. 76) Man stelle sich vor ...

Man stelle sich vor, Pius XII. hätte alle Bischöfe und Priester in ganz Europa einschließlich Deutschlands angewiesen, 1941 zu erklären, dass die Juden unschuldige Menschen sind, die nach göttlichem Recht denselben Schutz verdienen wie ihre Landsleute. Dass Antisemitismus verkehrt ist. Dass die Ermordung von Juden zu den schlimmsten Vergehen zählt und eine Todsünde ist und dass ein Katholik, der zu ihrer massenhaften Ermordung beiträgt, exkommuniziert und im Jenseits gewiss für seine Taten zur Rechenschaft gezogen werden wird. Man stelle sich vor, Pius XII. hätte diese Erklärung über Radio Vatikan, die BBC und die Titelseiten aller kirchlichen Publikationen in ganz Europa verbreiten lassen. Man stelle sich vor, Pius XII. und der gesamte europäische Klerus einschließlich des deutschen hätten es daraufhin zur moralischen Pflicht aller Europäer erklärt, sich diesem Übel zu widersetzen. Glaubt irgendjemand im Ernst, dass dann nicht sehr viel mehr Juden gerettet worden wären?
Wie viele Katholiken – Deutsche wie Nicht-Deutsche – die in den Mordinstitutionen tätig waren, wie viele Katholiken in ganz Europa, die den Mördern behilflich waren, indem sie Juden identifizierten, hätten innegehalten? Von der Kirche mit ihrem weit verzweigten Netzwerk an Leuten und ihren ungeheuren Möglichkeiten einmal ganz abgesehen, wie viel mehr Menschen wären dazu bewogen worden, den gehetzten und verlassenen Juden zu helfen?



S. 77 ff.) Auf dem Höhepunkt des Massenmords: Pius Pacellis "Mystischer Leib Christi"

Die Verteidiger Pius' XII. zeichnen auch in anderer Weise ein falsches Bild von ihm. Sie heroisieren ihn als Agierenden, indem sie die Bedeutung lobenswerter Taten aufblähen oder solche sogar erfinden. [...]
Die Verteidiger des Papstes wollen uns glauben machen, Pius XII. habe zwar nicht viel tun können, aber als einer, der kein Antisemit, sondern ein guter Freund der Juden war, habe er alles getan, was in seinen Kräften stand. Sie halten daran sogar fest, obwohl Pius XII. es auf dem Höhepunkt des Massenmords der Deutschen an der europäischen Judenheit und kurz bevor die Deutschen italienische Juden zu deportieren begannen, für notwendig hielt, allen Katholiken auf anschauliche, grausige Weise die Falschheit des Judentums zu verkünden und seinen Antisemitismus öffentlich zum Ausdruck zu bringen – indem er die Bedeutung des angeblichen Gottesmordes durch die Juden erörterte. In seiner Enzyklika Mystici corporis vom Juni 1943 erklärte er:

"Doch am Stamme des Kreuzes hob Jesus durch seinen Tod das Gesetz mit seinen Vorschriften auf, heftete den Schuldschein des Alten Bundes ans Kreuz und gründete in seinem Blute [...] den Neuen Bund [...] Am Kreuze also starb das alte Gesetz, das bald begraben und todbringend werden sollte" [Hervorhebung Goldhagen].
(Pius XII. bezog sich offenbar auf einige der antisemitischsten Passagen der christlichen Bibel, wo es heißt, das jüdische Gesetz habe seit jeher Sünde und Tod hervorgebracht, und um zu leben, müsse man sich frei machen vom "Gesetz der Sünde und des Todes", indem man Jesus annimmt. Siehe Römer 7:7-10 und 8:1-13 sowie 2 Korinther 3:6-7.)

Was genau Pius XII. mit seiner ominösen Erklärung meinte, das "alte Gesetz" – oft als Synonym für Juden gebraucht – sollte todbringend werden, ist unklar. Doch zu einer Zeit, da die Juden im christlichen und katholischen Europa massenweise umgebracht wurden, einen derart falschen und offen antisemitischen Vorwurf zu erheben, verrät uns eine Menge über die Überzeugungen und moralischen Werte seines Urhebers.

Mag es auch wichtig sein aufzuzeigen, wie moralisch unhaltbar das Verhalten Pius' XII. war und wie hohl die Argumente seiner Verteidiger sind, noch wichtiger ist zu erkennen, dass Pius XII. letztlich eine Nebenfigur ist, die von "der umfassenderen Frage eines massiven katholischen Versagens ablenkt". (Carroll, Constantine's Sword, S. 532) Die Bedeutung des lauten Getöses, das diesen einen Mann umgibt, liegt eher darin, was es über die Kirche nicht sagt und verschleiert, als darin, was es über ihn verrät. Die vielen tausend Geistlichen und ihre viele Millionen zählende Herde – was haben sie gedacht, wie haben sie sich verhalten?
Pius XII. war nicht die katholische Kirche.
Die Kirche war eine ungeheuer mächtige transnationale Institution mit einer langen, bedeutenden Geschichte, mit einer eigenen politischen Kultur, mit nationalen Kirchen mitsamt ihren Kardinalen, Bischöfen, Priestern und Nonnen sowie mit ihren vielen Millionen individuellen Anhängern, die sich in ihren Handlungsweisen von ihrem Glauben leiten ließen. Angesichts all dessen kann ein einzelner Papst nur ein geringer, wenn auch wichtiger Teil einer historischen oder moralischen Beurteilung sein. [...]
Dabei beschränken sie ihren Blickwinkel jedoch allzu sehr, so als würden sie mit der Widerlegung der Vorwürfe, der Papst sei ein Antisemit gewesen, er habe den Nationalsozialisten geholfen oder er habe mit verhärtetem Herzen zugesehen, wie die Deutschen die Juden umbrachten, nicht nur sein Verhalten rechtfertigen, sondern auch das Verhalten der katholischen Kirche und anderer Katholiken als Katholiken.

Beschäftigt man sich nur mit der Frage, ob Pius XII. energisch genug protestiert und gehandelt hat oder nicht, um die Juden zu retten, geraten allgemeinere Themen, die in mancherlei Hinsicht wichtiger sind, aus dem Blickfeld. Mögen die Urteile, zu denen man über Pius XII. gelangt, auch nicht diejenigen sein, die seine Fürsprecher sich wünschen – solange der Scheinwerfer hauptsächlich auf ihn gerichtet ist, haben die Verteidiger der Kirche einen strategischen Sieg errungen, denn auf diese Weise wird die Vergangenheit der Kirche beschönigt.
Symptomatisch für diese Strategie war der restriktive Auftrag der Kirche an die internationale katholisch-jüdische Historikerkommission, die 1999 gebildet wurde und inzwischen auf Grund der Unnachgiebigkeit der Kirche nicht mehr existiert. Die Kirche fasste den Untersuchungsauftrag der Kommission so eng, dass er sich nur auf die Kriegsjahre und auf das sehr begrenzte Material bezog, das der Vatikan selbst über seine diplomatische Aktivität veröffentlicht hatte. Die Kirche nahm damit ihre nichtdiplomatischen Aktivitäten und das Verhalten ihrer nationalen Kirchen von vornherein aus und hinderte die Kommission daran, sich auch den kirchlichen Aktivitäten in den ersten sechs Jahren der Judenverfolgung durch die Deutschen zuzuwenden.

Die Verteidiger der Kirche greifen zu allerlei Tricks, um eine systematische Untersuchung über den Beitrag der katholischen Kirche zu der von Deutschland angeführten Verfolgung und Vernichtung der Juden zu unterbinden. Ich greife hier nur drei wichtige Kunstgriffe heraus. Die Verteidiger richten ihren Blick mal auf diesen, mal auf jenen Teil der Kirche, je nachdem, was für ihre Argumentation günstig ist (wenn sie sich nicht überhaupt auf den Papst beschränken). Sie errichten einen Cordon sanitaire um den Antisemitismus, der die Deutschen dazu trieb, Juden zu verfolgen und zu ermorden, mit der Begründung, er habe nichts zu tun mit den herabsetzenden und hasserfüllten Ansichten der Kirche selbst, die sie durchgängig leugnen oder herunterspielen. Und wenn es in ihre Entlastungsstrategie passt, wechseln sie von der Untersuchung der Kirche als moralische Institution zur Erörterung ihrer Rolle als politische Institution.
Zwei weitere Strategien sind Umkehrung und Relativierung. Mit der ersten stellen die Verteidiger der Kirche diese fälschlich als Opfer dar, um davon abzulenken, dass sie mit den Tätern zusammengearbeitet hat. Darauf gehe ich in Teil III ein. Mit der zweiten versuchen die Verteidiger die Kirche dadurch zu entschuldigen, dass sie sagen, sie habe sich nicht schlimmer oder weniger schlimm verhalten als andere.
Doch im Gegensatz dazu, was die Verteidiger uns glauben machen wollen, werden die Verbrechen und Vergehen, die die Kirche oder ihre Geistlichen begingen, und die Verantwortung, die sie für ihre Taten tragen, nicht dadurch geringer, dass es andere gab, die ähnliche oder schlimmere Dinge taten. Zu einer Diskussion der Verantwortung der Kirche, die nicht diesem Relativismus und Nihilismus erliegt, siehe Teil II.



S. 82 f.) Erzkatholiken im Einklang mit dem Wunsch des Führers

Selbst eine nur oberflächliche Bestandsaufnahme ergibt ein bedrückendes Bild.
Die dt. katho. Kirche gab die Juden bedenkenlos der sich ständig verschärfenden Verfolgung durch ihre Landsleute preis. Die Kirchen verwahrten die Taufregister, anhand deren sich feststellen ließ, wer nach den neuen deutschen Rassengesetzen ein Jude war, und diese Informationen brauchte das Regime, um zu bestimmen, wer verfolgt und schließlich umgebracht werden sollte. In allen Ecken und Enden Deutschlands kamen katholische (und protestantische) Bischöfe und Pfarrer den angeforderten genealogischen Erkundigungen nach, ohne Protest und offensichtlich ohne Bedenken. Es kam ihnen gar nicht in den Sinn, dem Regime nicht bei der Umsetzung der Rassengesetze und bei der Identifikation jener zu helfen, die es nach rassischen Kriterien als Juden der Verfolgung aussetzte. Dass die dt. katho. Kirche hier freiwillig und vorsätzlich mitwirkte, wird umso deutlicher, als sie auf das Verlangen des Staates, anhand der Kirchenbücher vom Judentum übergetretene Katholiken und Personen in Mischehen zu ermitteln, ganz anders reagierte. Das lehnte die Kirche ab und verweigerte dem Regime unter Berufung auf die "seelsorgerische Schweigepflicht" den Zugang zu ihren Büchern.

Dem Staat bei der Verfolgung der Juden zu helfen, war in den Augen der katholischen Geistlichen dagegen ein Akt des Patriotismus, der dem Wohl der Deutschen diente.
Im maßgeblichen Klerusblatt, dem offiziellen Organ der Diözesan-Priestervereine Bayerns (Bayern war die Hochburg des dt. Katholizismus), erklärte ein Pfarrer seinen Lesern schon 1934, die Kirche habe dem deutschen Volk "von jeher" geholfen und werde ihm auch bei dieser "erfreulichen" Aufgabe behilflich sein, im Einklang mit dem Wunsch des Führers Ariernachweise zu erbringen.
(Joseph Demleitner, "Volksgenealogie", in: Klerusblatt 15, 37 – 12.Sept.'34 – S. 501 ff.)
Im Januar 1936 billigte das Klerusblatt gleichsam offiziell die kurz zuvor verabschiedeten Nürnberger Rassengesetze: Sie seien als Maßnahmen "zur Erhaltung und Erneuerung des deutschen Blutes" und zur "Ausmerzung der Judenschaft als Träger staatlicher und politischer Rechte" zu betrachten.
("Die Regelung des Rasseproblems durch die Nürnberger Gesetze", in: Klerusblatt 17, 3 – 22.Jan.'36 – S. 47)
Wie kann eine ehrliche Darstellung der katholischen Kirche zu dieser Zeit diese rassistisch-genealogische Kollaboration nicht in den Mittelpunkt der Diskussion rücken? Warum hat Pius XII. als vatikanischer Staatssekretär oder als Papst nicht verhindert, dass der dt. katho. Klerus vorsätzlich mit dieser offen rassistischen, eliminatorischen Verfolgung kollaborierte? Die Verteidiger des Papstes haben keine Antwort. Sie erwähnen die Kollaboration, für die erdrückende Beweise vorliegen, nicht einmal. (Zur Rolle der dt. Kirche siehe Guenter Lewy, Die katho. Kirche und das Dritte Reich, München 1965, bes. S. 294-337.)
Die dt. Bischöfe trafen bewusst die Entscheidung, gegen die Ausrottung der deutschen und europäischen Juden durch ihre Regierung nicht zu protestieren.
Sie erhoben auch gegen keinen anderen wichtigen Aspekt der eliminatorischen Verfolgung der Juden Protest, weder öffentlich noch hinter den Kulissen, selbst dann nicht, als die Gräuel sich vor ihren Augen abspielten.



S. 85 ff.) Zwischen Gott und Hitler: Himmlische Absolution für Himmlers Vollstrecker

Was war mit den Hunderten von dt. Priestern, die bei der Wehrmacht und den Besatzungstruppen in Osteuropa dienten, die inmitten des Mordgeschehens Gottesdienste für die Mörder abhielten und ihnen die Beichte abnahmen? Waren die Juden in ihren Augen unschuldig und der Massenmord an den Juden ein Unrecht? Sagten sie den vielen Katholiken unter den Hunderttausenden von Deutschen, die sich an der Massenvernichtung beteiligten, dass sie sündigten? Das vorliegende Material spricht entschieden dafür, dass sie es nicht taten. Hätten sie die Ermordung der Juden als ein Verbrechen und eine Sünde betrachtet, wüssten wir sehr wahrscheinlich davon und von den Schritten, die sie gegenüber den Tätern unternommen hätten, denn die Kirche pflegt alle Dinge an die Öffentlichkeit zu bringen, die sie in ein günstiges Licht rücken können. Die erhaltenen Zeugnisse sind nicht ermutigend. Von rund tausend katholischen und protestantischen Geistlichen, die als Militärpfarrer dienten, sind weniger als zehn, zum Teil auch noch zweifelhafte Fälle bekannt geworden – überwiegend katho. Priester – in denen man sagen kann, dass die Pfarrer Missbilligung ausdrückten oder auf Widerstand gegen den Massenmord drängten. Und einige Pfarrer haben von Billigung ihrer Amtskollegen für das massenhafte Morden ihrer Landsleute berichtet. (Siehe Doris L. Bergen, "Between God and Hitler – German Military Chaplans and the Crimes of the Third Reich", in O. Bartov und P. Mack, In God's Name: Genocide and Religion in the 20th Century, New York 2001, S. 128-132.)
Ein Priester erzählt, der Mord an den Juden sei bei den dt. Besatzungstruppen in der Sowjetunion auf Zustimmung gestoßen. "Auch unter den Deutschen," erinnert er sich, "hörte man vielfach die Meinung: Die Juden sind Parasiten. Sie haben das Volk ausgebeutet. So dürfen sie sich nicht wundern, dass man sich jetzt an ihnen rächt" und sie ausrottet. Er zitiert einen anderen Priester, der den Massenmord in biblischen Worten gutheißt:

"Es ruht ein Fluch auf diesem Volk, seitdem sie bei der Kreuzigung Jesu geschrien haben: 'Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder.'"

Die von diesem Priester ausgedrückte Billigung des Massenmords, berichtet er, sei von der Mehrheit der übrigen Geistlichen nicht geteilt worden, was aber auch bedeutet, dass die massenhafte Vernichtung der Juden von einer Minderheit der Geistlichen unterstützt wurde. (Gordian Landwehr, "So sah ich sie sterben," in: Priester in Uniform: Seelsorger, Ordensleute und Theologen als Soldaten im ZWK, hgg. vom Katho. Militärbischofsamt und Hans Jürgen Brandt, Augsburg 1994, S. 339-354, hier S. 349 f.)

Dass katholische Priester inmitten des Vernichtungsprozesses die Ausrottung der Juden mit Stillschweigen oder Schlimmerem aufnahmen, ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass ihr geistlicher Vorgesetzter, der der Wehrmacht zugeordnete katholische Feldbischof Franz Justus Rarkowski, stark von der NS-Ideologie durchdrungen war. In seiner Weihnachtsbotschaft von 1940, die alle katholischen Soldaten erhielten, verleumdete Bischof Rarkowski die Juden mit den bekannten antisemitischen Bildern als vermeintliche Urheber des Krieges und des deutschen Leids:

"Das deutsche Volk [...] hat ein ruhiges Gewissen und weiß, welche Völker es sind, die sich vor Gott und vor der Geschichte mit der Verantwortung belasten für diesen jetzt tobenden gigantischen Kampf. Es weiß, wer den Krieg freventlich vom Zaune gebrochen hat. [...]
Unsere Gegner [...] glaubten an die Macht ihres Geldsackes und an die niederhaltende Kraft jenes schändlichen und unchristlichen Vertrages von Versailles."
(Zitiert nach Heinrich Misalla, Wie der Krieg zur Schule Gottes wurde – Hitlers Feldbischof Rarkowski, Oberursel 1997, S. 42 f.)

Doris Bergen kommt zu dem Schluss, dass die überwiegende Mehrheit der katholischen und protestantischen deutschen Militärgeistlichen "sich auf die Seite der Täter stellte, indem sie deren Verbrechen durch Worte, Taten und Stillschweigen verzieh und segnete. Einer der offenkundigsten Beweise für diese Funktion war die Erteilung der Generalabsolution für Soldaten."
Wie könnten wir nicht daran festhalten, dass die dt. Priester, die den Vollstreckern des Völkermords Beistand leisteten, zumindest Kollaborateure des NS-Regimes waren, wenn nicht gar Komplizen dieses Massenmords? (Warum wies der Papst sie nicht an, allen Katholiken unter den Vollstreckern zu raten, mit dem Mord an den Juden aufzuhören?) Dieses praktisch unbekannte und nie erwähnte Kapitel der Rolle, die die katholische Kirche und ihr Klerus im Holocaust spielten, ist noch kaum erforscht.

October 22, 2010

Das Axiom/Theo-Mem vom jüdischen Bolschewismus



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

pt 1 & pt 2 & pt 4 & pt 5 & pt 6 & pt 7 & pt 8 & pt 9


S. 54 f.) Judendiskriminierung seit der Antike

Pius XII. wurde 1876 als Eugenio Pacelli in Rom geboren. Er studierte Philosophie und wurde 1899 zum Priester geweiht. Seine kirchenpolitische Karriere begann 1901 mit seiner Berufung in das Staatssekretariat des Vatikans. Offenkundig für den von ihm gewählten Weg innerhalb der Kirche geeignet, wurde Pacelli mehrfach befördert, bevor er im Mai 1917 zum Erzbischof und Nuntius in Bayern ernannt wurde. Von 1920 bis 1930 diente Pacelli dem Vatikan als päpstlicher Nuntius, also als Gesandter, in Deutschland. 1929 folgte die Ernennung zum Kardinal, und im Februar 1930 wurde er als Kardinal-Staatssekretär der zweitmächtigste Mann im Vatikan – als Stellvertreter des Papstes verantwortlich für die Überwachung der Kirchenbürokratie und für die diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten.
Anfang März 1939 vollendete Pacelli mit seiner Wahl zum Nachfolger Pius XI. seinen Aufstieg, er nahm den Namen Pius XII. an. (Bis zur Papstwahl nenne ich ihn Pacelli, danach Pius XII.)
Kaum hatte er dieses höchste Amt angetreten, musste Pius XII. eine bedeutende Entscheidung treffen: was mit dem Entwurf der Enzyklika von Pius XI. geschehen solle. Die Entscheidung war bedeutend, weil "Humani generis unitas" ("Die Einheit des Menschengeschlechts", auch "Societatis unio") die Kirche endlich gezwungen hätte, öffentlich für die verfolgten Juden einzutreten, wurde darin doch ausdrücklich der Antisemitismus der Nationalsozialisten verurteilt und eine Einstellung der Judenverfolgung in Deutschland gefordert:

"[D]er Kampf für die Reinheit der Rasse [wird] schließlich einzig zu einem Kampf gegen die Juden [...] einem Kampf, der sich weder in seinen wahren Motiven noch in seinen Methoden – mit Ausnahme seiner systematischen Grausamkeit – von den Verfolgungen unterscheidet, denen die Juden seit der Antike allerorten ausgesetzt waren." (Passelecq/Suchecky: Die unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung, Berlin 1999, S. 264)

Dass ein Papst hier, in Motiven und Methoden, eine direkte Verbindung zwischen Judenverfolgungen der Vergangenheit – mit deutlicher Anspielung auch auf die Verfolgungen durch die Kirche – und dem aktuellen Angriff der Deutschen auf die Juden herstellte, sollte all denen zu denken geben, die die Kirche von jeglicher Verantwortung für die Verfolgung seit den 30er Jahren und den Massenmord in den 40er Jahren freisprechen möchten.
Dass ein weiterer Papst seine Amtszeit damit begann, dass er dieses bemerkenswerte Dokument zur Verteidigung der Juden, das man heute als "unterschlagene Enzyklika" bezeichnet, in den Archiven begrub, und dass der Vatikan nach dem Krieg ein halbes Jahrhundert lang versuchte, sowohl diesen Akt der Unterschlagung durch Pius XII. als auch die Enzyklika selbst zu verbergen, verrät einiges über Pius XII. und über die Vertuschungsmanöver im Zusammenhang mit diesem Papst und dem Verhältnis der Kirche zum Holocaust. (Die Öffentlichkeit erfuhr durch die hartnäckige Arbeit von Georges Passelecq, einem belgischen Mönch, und Bernhard Suchecky, einem jüdischen Historiker, von diesem Dokument. 1995 konnten die beiden es in Frankreich publizieren.)



S. 56 ff.) Mystic politics – Politik aus Mythen

Die Kritiker haben erklärt, Pius XII. sei Hitlers Papst gewesen, er habe zugelassen, dass Juden direkt unter seinen
Fenstern von den Deutschen nach Auschwitz verschleppt wurden, und die Beschönigung dieser päpstlichen Sünde nach dem Krieg sei nichts Geringeres als ein Lügengebäude.

John Cornwell 1999: Pius XII. – Der Papst, der geschwiegen hat
Susan Zuccotti 2000: Under His Very Windows – The Vatican and the Holocaust in Italy (UHVW)
Garry Wills 2000: Papal Sin – Structures of Deceit

[...] Die Verteidiger Pius' XII. stellen ihn als einen Feind Hitlers und als Freund der Juden hin, der sich bemühte, so viele Menschen wie möglich zu retten. [...]
Diese gegensätzlichen Darstellungen beruhen darauf, dass die Verfasser mit unterschiedlichen Wertvorstellungen, Betrachtungsweisen und Fragestellungen an ihre Untersuchung herangehen sowie darauf, dass manche Tatsachen unterschiedlich gedeutet werden können. So hat Susan Zucotti jüngst einen zentralen Entlastungsmythos entlarvt, der ihrer Ansicht nach vom Papst und anderen bewusst fabriziert würde, unterstützt von Juden, die ihrerseits irregeführt wurden oder die mächtige Kirche günstig zu stimmen suchten – den Mythos, der Papst habe italienische Kirchenvertreter angewiesen, Juden in Kirchen und Klöstern zu verstecken.
Die Priester und andere, die tätig wurden, um vielen Juden das Leben zu retten, waren gewiss Helden, doch dafür, dass der Papst hier lenkend eingriff, findet sich kein Beweis. Die Autorin ist den Behauptungen, Pius XII. habe sich aktiv für die Juden eingesetzt, systematisch nachgegangen. Für das Ansehen Pius' XII. waren ihre Ergebnisse, die sich auf umfangreiche, akribische Forschungen stützen, vernichtend. [...]
Siehe z.B. Ronald J. Rychlak 2000: Hitler, the War, and the Pope (HWAP), S. 167-181, der als verbissenster Verteidiger des Papstes seine Leser regelrecht in die Irre führt, und
Pierre Blet 2000: Papst Pius XII. und der Zweite Weltkrieg (PZWK). [...]
Ihr Hauptbeweisstück ist die Weihnachtsbotschaft Pius' XII. von 1941. [...] Mag einem diese Erklärung auch lobenswert vorkommen, so ist ihre phrasenhafte Unbestimmtheit doch bemerkenswert.

Segnendes Schweigen


Weihnachten 1942 waren die Deutschen und ihre Helfer seit fast anderthalb Jahren dabei, in ganz Europa Millionen von Juden zu ermorden. Ihrem Ziel, die drei Millionen Juden des katholischen Polen zu vernichten, waren sie ein gutes Stück näher gekommen. Von den Millionen Juden in der Sowjetunion, die sie letztlich ermordeten, hatten die Einsatzgruppen, die deutsche Wehrmacht und andere deutsche Einheiten sowie die einheimischen Hilfstruppen der Deutschen bereits einen erheblichen Teil mit Maschinengewehren niedergemäht oder vergast. Unterstützt von den Einheimischen, hatten sie auch die meisten Juden im katholischen Litauen sowie in Lettland und Estland umgebracht, und sie hatten mit der Vernichtung der rumänischen Juden begonnen. Die deutsche Wehrmacht hatte die Mehrheit der serbischen Juden ermordet. Die katholische Slowakei und das katholische Kroatien waren seit Monaten dabei, ihre "Judenfrage" zu "lösen", die Slowaken, indem sie die Juden in den Tod deportierten, die Kroaten, indem sie das Töten selbst in die Hand nahmen. Die Deutschen hatten mit der Vernichtung der Juden aus dem großdeutschen Reich, das Österreich und das annektierte Gebiet der heutigen Tschechischen Republik mit einschloss, begonnen und waren gemeinsam mit ihren einheimischen Helfern dabei, die westeuropäischen Juden aus Belgien, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden auszulöschen. Schon seit langem verschlangen die Todesfabriken mit ihren Gaskammern und Krematorien tagtäglich neue Opfer. In dieser ganzen Zeit, während die Deutschen und ihre Helfer auf dem gesamten Kontinent all diese jüdischen Männer, Frauen und Kinder töteten, verlor Pius XII. in der Öffentlichkeit kein Wort darüber. Obwohl er über die Vernichtung in groben Umrissen unterrichtet war – ihm war eine Flut von detaillierten Berichten über den anhaltenden Massenmord zugegangen – protestierte er nicht. Er schaute vielmehr mit unbeteiligtem Schweigen zu. Als er dann endlich etwas sagte, erwähnte er weder die Juden als Opfer noch die Deutschen oder die Nationalsozialisten als Täter, noch verurteilte er den Rassismus oder den Antisemitismus.
Pius XII. machte keinen Versuch, die europäischen Völker über das Ausmaß des Massenmords zu informieren oder sie aufzufordern, sich der Fortsetzung dieses Massenmords zu widersetzen. [...]
Zwei Wochen vor der Weihnachtsbotschaft des Papstes war der britische Gesandte beim Vatikan, Francis d'Arcy Osborne, vollkommen außer sich über das Schweigen des Papstes gewesen und hatte am 14. Dezember sogar zu dem ungewöhnlichen diplomatischen Schritt gegriffen, im Gespräch mit dem vatikanischen Staatssekretär Pius XII. unverblümt zu kritisieren. Osborne hielt fest, er habe den Vatikan praktisch aufgefordert, "im Hinblick auf das beispiellose Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Hitler mit seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden begeht, an seine Pflichten zu denken." Dennoch entschied sich Pius XII. in all den Jahren, in denen die Deutschen den Massenmord an den Juden begingen, immer wieder dafür, die Juden nicht öffentlich zu erwähnen.



S. 59 ff.) Antisemitismus-Predigten auf Kirchen- und Reichs-/Parteikanzeln gleichzeitig

Die wesentlichen Tatsachen, was das Verhalten des Papstes angeht, liegen klar zu Tage, mag ihre Auslegung auch umstritten sein. Noch als vatikanischer Staatssekretär hatte Pacelli sich beeilt, für die Kirche ein Abkommen über die Zusammenarbeit mit Hitlerdeutschland auszuhandeln, das Konkordat.
Im Juli 1933 abgeschlossen, unterzeichnet und der Welt bekannt gegeben, im September desselben Jahres förmlich ratifiziert, war das Konkordat der erste große diplomatische Triumph NS-Deutschlands. Die Kirche bestätigte darin unter anderem die Auflösung der demokratischen katholischen Zentrumspartei, der Vorläuferin der CDU, womit sie letztlich Hitlers Machtergreifung und der von Pacelli und Pius XI. begrüßten Zerstörung der Demokratie in Deutschland Legitimität verlieh. Kardinal Michael von Faulhaber berichtete den bayrischen Bischöfen, Pius XI. unterstütze Hitlers Maßnahmen. Er war in Rom gewesen und am 13. März zugegen, "als der Heilige Vater mit besonderer Betonung den Satz sprach:

'Bis in die letzten Zeiten blieb die Stimme des römischen Papstes die einzige, die auf die schweren Gefahren [hinwies], die der christlichen, fast bei allen Völkern eingeführten Kultur drohen.'

Also öffentliches Lob für Hitler."
Im März übermittelte Pacelli Hitler, in den Worten des deutschen Gesandten beim Heiligen Stuhl, des Vatikans "indirekte Anerkennung des entschiedenen Vorgehens des Reichskanzlers sowie der Regierung gegen den Kommunismus." (Klaus Scholder 2000: Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1, S. 348 f.) Das Konkordat trug dazu bei, das NS-Regime vor der Welt zu legitimieren und seine Macht im eigenen Land zu konsolidieren.
Weder als Staatssekretär noch später als Papst wies Pacelli die Geistlichen an, nicht länger den kirchlichen Antisemitismus zu propagieren, den sie in Predigten und in den letztlich seiner Kontrolle und damit seiner Verantwortung unterstehenden kirchlichen Zeitungen und sonstigen Publikationen verbreiteten.
Er hätte leicht darauf Einfluss nehmen können. [...]

Während des Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion identifizierte er sich mit Deutschland, weil er im Bolschewismus den Todfeind der Kirche sah. Er hoffte noch auf einen Sieg der Deutschen über die Sowjets, als diese schon an der Seite Großbritanniens und der Vereinigten Staaten kämpften, um den Nationalsozialismus zu vernichten. Dass ein deutscher Sieg gleichbedeutend mit der Vernichtung zumindest der europäischen Judenheit durch die Deutschen gewesen wäre, schien die Begeisterung Pius' XII. für den deutschen Eroberungsfeldzug im Osten nicht zu dämpfen. *) Noch 1941 gestand er seine "besondere Liebe" zu den Deutschen, und er gewährte deutschen Soldaten regelmäßig Audienzen, was, wie ihm bewusst war, als Akt der Solidarität mit ihnen ausgelegt wurde. Er wollte nichts von den Juden hören, und als der polnische Botschafter 1944 das Thema anschnitt, wurde er zornig. Der Botschafter kam, wie andere alliierte Diplomaten, immer wieder darauf zurück, weil der Papst es ablehnte, öffentlich gegen den Massenmord Stellung zu beziehen oder mit dem deutschen Botschafter beim Vatikan, Ernst von Weizsäcker, darüber zu sprechen, den er regelmäßig empfing. Mehr noch: Auch nach dem Krieg ließ Pius XII. erkennen, dass sich an seiner Liebe zu Deutschland nichts geändert, ja, dass sie sich trotz der Verbrechen vieler Deutscher sogar vertieft hatte.

*) Die Tatsache, dass der Papst einem deutschen Sieg über die Sowjetunion den Vorrang gegenüber dem Schicksal der Juden einräumte, wird von Phayer, The Catholic Church and the Holocaust, S. 56-61, erörtert. Andreas Hillgrubers Position im deutschen Historikerstreit gab im Grunde nur der Politik Ausdruck, die Pius XII. in dieser Hinsicht tatsächlich verfolgte. Diejenigen, die sich inner- und außerhalb Deutschlands an dieser Debatte beteiligten, wiesen Hillgrubers Aussage zurück, die Deutschen sollten sich mit den deutschen Soldaten identifizieren, die die Sowjets an der Ostfront aufgehalten hätten, und ihnen dankbar sein.
Auch wenn Hillgruber das so nicht ausdrücklich sagte, wie seine Kritiker betonten: Je länger die Soldaten die Sowjets fern hielten, desto länger konnten Deutsche mit der Ermordung der Juden fortfahren.
All jene, die Hillgruber kritisierten, müssten logischerweise mindestens ebenso streng mit Pius XII. verfahren, der tatsächlich praktizierte, was Hillgruber nur nachträglich propagierte. Siehe Historikerstreit.



S. 62 ff.) The iron curtain of papist piety within the smokescreen of holy casuistry

Die Verteidiger des Papstes greifen zu verschiedenen Entlastungsstrategien, um von einer nüchternen Prüfung der wichtigeren Fragen abzulenken.
Es ist nicht überraschend, dass diese Strategien auch zum Standardrepertoire derer gehören, die die gewöhnlichen Deutschen von ihrer Verantwortung für den Holocaust und ihrer Beteiligung daran zu entlasten suchen.

Die erste Strategie besteht in direkter Entlastung. Man bagatellisiert die Kenntnisse, die der Papst vom Vernichtungsprozess hatte, schiebt sie auf einen späteren Zeitpunkt oder leugnet sie ganz. Kein Informationsnetz in Europa war ausgedehnter als das aus Kardinalen, Bischöfen, Gemeindepfarrern und Gemeindegliedern der katholischen Kirche. Die Alliierten und jüdische Organisationen übermittelten Pius XII. ihrerseits ihre oft beträchtlichen Informationen über die Massenmorde.
Über all dies verlieren seine Verteidiger jedoch kein Wort.
Würden sie zugeben, dass der Papst frühzeitig und teils aus erster Hand Zugang zu verlässlichen und oft aus mehreren Quellen stammenden Informationen über die Morde, die Lager und das den Deportierten zugedachte Schicksal hatte, würde sich die Frage, warum er nicht rascher, energischer und konsequenter zu Gunsten der Juden einschritt, noch stärker aufdrängen.
Die zweite Strategie der Verteidiger Pius' XII. besteht darin, darüber hinwegzugehen, hinter Kasuistik zu verbergen oder rundweg zu leugnen, dass er ein Antisemit war und dass diese Abneigung logischerweise Einfluss darauf hatte, wie er auf die einzelnen Phasen (Aberkennung der Rechte, Segregation, Vertreibung, Ghettoisierung und Massenmord) des auf die Ausschaltung der Juden zielenden Angriffs der Deutschen reagierte.
Diese Vertuschungs- und Leugnungsversuche sind umso merkwürdiger, als der Beweis für den Antisemitismus Pius' XII. aus einer unanfechtbaren Quelle stammt: von Pius XII. selbst.
In einem Brief, den er im April 1919, während der Münchner Räterepublik, verfasste und in dem er "die absolute Hölle" in der Residenz beschrieb, nimmt er kein Blatt vor den Mund:

"In der Mitte all dessen lungerte eine Bande von jungen Frauen von zweifelhaftem Aussehen, Juden, wie sie alle, mit provokativem Benehmen und zweideutigem Grinsen in den Büros herum. Die Chefin dieses weiblichen Abschaums war Leviens Gefährtin: eine junge Russin, Jüdin und geschieden, die für alles verantwortlich war. Und dieser Person musste die Nuntiatur ihre Ehrerbietung erweisen, um vorgelassen zu werden. Dieser Levien ist ein junger Mann von etwa 30 oder 35 Jahren, ebenfalls Russe und Jude. Blass, schmutzig, mit von Drogenmissbrauch gezeichneten Augen, rauer Stimme, vulgär, abstoßend, mit einem Gesicht, das gleichzeitig intelligent und verschlagen wirkt."

Diese Briefpassage ist die einzige, relativ ausführliche Äußerung Pius' XII. über Juden, die, nicht zur Veröffentlichung bestimmt, ans Licht gekommen ist. Festgehalten in einem vertraulichen Brief, wirkt diese Äußerung über eine Szene, bei der Pacelli selbst gar nicht zugegen war, als authentischer Ausdruck der Ansichten des späteren Papstes über die Juden. Da seine Äußerung nicht bloß irgendeine Bemerkung ist, sondern vielmehr einem Trommelfeuer von antisemitischen Stereotypen und Vorwürfen gleicht, in dem die dämonisierenden Ansichten über Juden mitschwingen, die damals in Deutschland, in ganz Europa und in der katholischen Kirche selbst gang und gäbe waren, scheint es umso glaubhafter zu sein, dass Pacelli hier nicht einer Augenblicksmeinung Ausdruck gab, nicht aus einer Laune heraus in krassen Antisemitismus verfiel, sondern eine beständige Einstellung in Worte fasste, die sich möglicherweise auch in anderen mündlichen oder schriftlichen Äußerungen niedergeschlagen hat. Eventuelle Beweise dafür haben aber entweder seine Gesprächspartner mit ins Grab genommen, oder sie werden in den Archiven des Vatikans sicher unter Verschluss gehalten.
Die Elemente von Pacellis antisemitischer Collage ähneln stark denen, die Julius Streicher der deutschen Öffentlichkeit bald in jeder Nummer seines berüchtigten NS-Wochenblattes Der Stürmer bieten sollte.
In Pacellis Brief steckt unausgesprochen die Vorstellung vom jüdischen Bolschewismus, die beinahe axiomatische Überzeugung, die sich bei den Nationalsozialisten, bei modernen Antisemiten überhaupt und auch innerhalb der Kirche findet, dass die wichtigsten Träger, ja die Urheber des Bolschewismus Juden seien. "Alle" kommunistischen Revolutionäre, behauptet Pacelli in diesem Brief, seien Juden. In der Weimarer Republik und in der NS-Zeit wurden Juden und Bolschewiki in antikommunistischen Hetzschriften zu einer Figur verschmolzen, und Kommunisten wurden mit verzerrten jüdischen Gesichtszügen als abstoßend, zügellos und blutrünstig dargestellt. Pacellis Beschreibung der kommunistischen Umstürzler in Bayern liest sich wie eine sprachliche Wiedergabe einer der unzähligen Karikaturen, die Hitlers antibolschewistischen Kreuzzug in Deutschland begleiteten.



S. 66) Episkopales Heilspathos, göttliche Geschichtsplanung und Sieg Heil!

Die grundlos aufgestellte Behauptung Pacellis über die Sündhaftigkeit der "Veräußerlichung und Verweltlichung" des "alttestamentlichen Bundesvolk[es]" konnte den bei vielen Deutschen herrschenden Antisemitismus nur vertiefen und sie in ihrer Ansicht bestärken, dass die Juden auf irgendeine Weise wenigstens aus der deutschen Gesellschaft entfernt werden sollten. Als wolle er seine Haltung auch dem Letzten noch klar machen, erinnerte er die Deutschen zu einem Zeitpunkt, als die Juden von den Deutschen erbittert verfolgt wurden, an das Volk, "das Ihn [Jesus] ans Kreuz schlagen sollte," und sprach von den Juden – gemeinschaftlich als Volk gefasst – als den "Kreuzigern" Jesu. Damit die Enzyklika die größtmögliche Verbreitung und Wirkung erzielte, ließ er sie am Palmsonntag 1937 von allen deutschen Kanzeln verlesen (was auch beweist, wie wenig Pacelli sich scheute, die Praktiken des Regimes öffentlich zu kritisieren). *)
Diese unverkennbar antisemitischen Äußerungen zusammen mit den bösartigen antisemitischen Polemiken in der jesuitischen Zeitschrift Civiltà cattolica (siehe S. 111-115), die von ihm kontrolliert und abgesegnet wurde, sowie sein Versäumnis, in der Zeit höchster Gefahr für die Juden den eingefleischten Antisemitismus der Kirche zu widerrufen, lassen keinen Zweifel daran, dass er ein Antisemit war. Ist das so erstaunlich?
Er war in der zutiefst antisemitischen Einrichtung Kirche aufgewachsen und hatte sein ganzes Erwachsenenleben in einer institutionellen Kultur verbracht, in deren Zentrum zum einen die in ihrer Heiligen Schrift begründete Überzeugung stand, Juden seien Christusmörder, zum anderen die Vorstellung, dass Juden für viele der angeblichen Übel der Moderne verantwortlich seien. Bemerkenswert wäre es gewesen, wenn er keine judenfeindlichen Vorurteile übernommen hätte.


*) "Mit brennender Sorge": "Aus der Totalität Seiner Schöpferrechte fließt seinsgemäß die Totalität Seines Gehorsamsanspruchs an die Einzelnen und an alle Arten von Gemeinschaften. Dieser Gehorsamsanspruch erfasst alle Lebensbereiche, in denen sittliche Fragen die Auseinandersetzung mit dem Gottesgesetz fordern und damit die Einordnung wandelbarer Menschensatzung in das Gefüge der unwandelbaren Gottessatzung.
15. Nur oberflächliche Geister können der Irrlehre verfallen, von einem nationalen Gott, von einer nationalen Religion zu sprechen, können den Wahnversuch unternehmen, Gott, den Schöpfer aller Welt, den König und Gesetzgeber aller Völker, vor dessen Größe die Nationen klein sind wie Tropfen am Wassereimer (Jes 40:15), in die Grenze eines einzelnen Volkes, in die blutmäßige Enge einer einzelnen Rasse einkerkern zu wollen." [...]

19. Der stufenweisen Entfaltung der Offenbarung entsprechend liegt auf ihnen noch der Dämmer der Vorbereitungszeit auf den vollen Sonnentag der Erlösung. [...] Für jedes nicht durch Vorurteil und Leidenschaft geblendete Auge leuchtet jedoch aus dem menschlichen Versagen, von dem die biblische Geschichte berichtet, um so strahlender das Gotteslicht der über alle Fehde und Sünde letztlich triumphierenden Heilsführung hervor. Gerade auf solchem, oft düsterem Hintergrund wächst die Heilspädagogik des Ewigen in Perspektiven hinein, die wegweisend, warnend, erschütternd, erhebend und beglückend zugleich sind.
Nur Blindheit und Hochmut können ihre Augen vor den heilserzieherischen Schätzen verschließen, die das Alte Testament birgt. Wer die biblische Geschichte und die Lehrweisheit des Alten Bundes aus Kirche und Schule verbannt sehen will, lästert das Wort Gottes, lästert den Heilsplan des Allmächtigen, macht enges und beschränktes Menschendenken zum Richter über göttliche Geschichtsplanung. Er verneint den Glauben an den wirklichen, im Fleische erschienenen Christus, der die menschliche Natur aus dem Volke annahm, das ihn ans Kreuz schlagen sollte. Er steht verständnislos vor dem Weltdrama des Gottessohnes, welcher der Meintat seiner Kreuziger die hohepriesterliche Gottestat des Erlösertodes entgegensetzte und damit den Alten Bund in dem Neuen Bunde seine Erfüllung, sein Ende und seine Überhöhung finden ließ.

20. Der im Evangelium Jesu Christi erreichte Höhepunkt der Offenbarung ist endgültig, ist verpflichtend für immer. Diese Offenbarung kennt keine Nachträge durch Menschenhand, kennt erst recht keinen Ersatz und keine Ablösung durch die willkürlichen "Offenbarungen", die gewisse Wortführer der Gegenwart aus dem sogenannten Mythus von Blut und Rasse herleiten wollen. Seitdem Christus der Gesalbte das Werk der Erlösung vollbracht, die Herrschaft der Sünde gebrochen und uns die Gnade verdient hat, Kinder Gottes zu werden – seitdem ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den sie selig werden können, als der Name Jesus. Kein Mensch – möge auch alles Wissen, alles Können, alle äußerliche Macht der Erde in ihm verkörpert sein – kann einen anderen Grund legen als den, der in Christus bereits gelegt ist. Wer in sakrilegischer Verkennung der zwischen Gott und Geschöpf, zwischen dem Gottmenschen und den Menschenkindern klaffenden Wesensunterschiede irgend einen Sterblichen, und wäre er der Größte aller Zeiten, neben Christus zu stellen wagt, oder gar über Ihn und gegen Ihn, der muss sich sagen lassen, dass er ein Wahnprophet ist, auf den das Schriftwort erschütternde Anwendung findet: "Der im Himmel wohnt, lachet ihrer."

34. Auf dem wahren und rein bewahrten Gottesglauben ruht die Sittlichkeit der Menschheit. Alle Versuche, die Sittenlehre und sittliche Ordnung vom Felsenboden des Glaubens abzuheben und auf dem wehenden Flugsand menschlicher Normen aufzubauen, führen früher oder später Einzelne und Gemeinschaften in moralischen Niedergang. Der Tor, der in seinem Herzen spricht, es gibt keinen Gott, wird Wege der sittlichen Verdorbenheit wandeln. Die Zahl solcher Toren, die heute sich unterfangen, Sittlichkeit und Religion zu trennen, ist Legion geworden. Sie sehen nicht oder wollen nicht sehen, dass mit der Verbannung des bekenntnismäßigen, d. h. klar und bestimmt gefassten Christentums aus Unterricht und Erziehung, aus der Mitgestaltung des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens Wege der geistigen Verarmung und des Niedergangs beschritten werden. Keine Zwangsgewalt des Staates, keine rein irdischen, wenn auch in sich edlen und hohen Ideale, werden auf die Dauer imstande sein, die aus dem Gottes- und dem Christusglauben kommenden letzten und entscheidenden Antriebe zu ersetzen. Nimmt man dem zu höchsten Opfern, zur Hingabe des kleinen Ich an das Gemeinwohl Aufgerufenen den sittlichen Rückhalt aus dem Ewigen und Göttlichen, aus dem aufrichtenden und tröstenden Glauben an den Vergelter alles Guten und Ahnder alles Bösen – dann wird für Ungezählte das Endergebnis nicht sein die Bejahung der Pflicht, sondern die Flucht vor ihr. Die gewissenhafte Beobachtung der zehn Gebote Gottes und der Kirchengebote, welch letztere nichts anderes sind als Ausführungsbestimmungen zu den Normen des Evangeliums, ist für jeden Einzelmenschen eine unvergleichliche Schule planvoller Selbstzucht, sittlicher Ertüchtigung und Charakterformung. Eine Schule, die viel verlangt, aber nicht zuviel. Der gütige Gott, der als Gesetzgeber spricht: "Du sollst," gibt in Seiner Gnade auch das Können und Vollbringen. Sittlichkeitsbildende Kräfte von so starker Tiefenwirkung ungenützt lassen oder ihnen den Weg in die Bezirke der Volkserziehung gar bewusst zu versperren, ist unverantwortliche Mitwirkung an der religiösen Unterernährung der Volksgemeinschaft.

Siehe auch Zuccottis Diskussion der Enzyklika in UHVW S. 21 ff.
Pierre Blet, einer der Herausgeber der von allem Heiklen bereinigten offiziellen kirchlichen Dokumentenedition zum 2. Weltkrieg (ZWK), erörtert in PZWK (S. 49 f.), einer erzählenden Zusammenfassung dieser Dokumentensammlung ebenso wie Rychlak in HWAP (S. 92 ff.), die Enzyklika nur als NS-kritisches Dokument, ohne den Antisemitismus Pacellis oder Pius' XI. zu erwähnen.
Überraschend stellt allerdings auch die internationale jüdisch-katho. Historikerkommission in ihrem 18-seitigen Zwischenbericht "The Vatican and the Holocaust – A Preliminary Report" die Enzyklika als "energische Verurteilung des Nationalsozialismus" dar und nicht als ein Dokument, das die Vorgehensweise des Regimes zwar energisch, aber doch nur beschränkt auf die Übergriffe gegen die Religion verurteilt.