October 6, 2010

Freiheit nur bei eingewurzelter Wahrheit



Reinhard Marx 2008: Das Kapital

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S. 54 f.) Moralischer Grundwasserspiegel und zentraler Konstruktionspunkt

Der vulgärliberale Satz, dass dem Wohl des Einzelnen und dem Wohl des Ganzen schon dann hinreichend gedient sie, wenn jeder unbehelligt vom Staat seinen eigenen Vorteil verfolgen könne, stimmt schlicht und ergreifend nicht. Freiheit kann weder in technizistischer noch in ökonomistischer Verengung hinreichend begriffen werden.
Das heißt nicht, dass es keine Forschungsfreiheit oder wirtschaftliche Freiheit geben soll. Aber beide sind nicht grenzenlos. Und solche Grenzen werden eben u.a. von der Menschenwürde und dem Gemeinwohl markiert.
Und diese Orientierung am Gemeinwohl setzt einen moralischen Grundwasserspiegel bei den Akteuren voraus.
Die wirklich großen liberalen Ökonomen des 20. Jh.s haben das übrigens sehr gut gewusst.
[...] Unser verstorbener Papst sagt hier, dass der zentrale Konstruktionspunkt der kirchlichen Soziallehre das Thema der Freiheit des Menschen ist. [...]

"Die Freiheit wird dem Menschen vom Schöpfer gegeben als Gabe und Aufgabe zugleich.
Der Mensch ist nämlich dazu berufen, mit seiner Freiheit die Wahrheit über das Gute anzunehmen und zu verwirklichen. Indem er einen wahren Wert in seinem persönlichen Leben und in der Familie, im wirtschaftlichen und politischen Bereich, auf nationaler und internationaler Ebene wählt und in die Tat umsetzt, verwirklicht er seine eigene Freiheit in der Wahrheit."

[...] Manch einer mag in diesen Aussagen die traurige Anhänglichkeit an ein vormodernes Freiheits- und Wahrheitsmodell erkennen. Dabei darf aber nicht vergessen werden, dass die Begründer des Liberalismus und auch die großen Liberalen des 20. Jh.s einen ganz ähnlichen Freiheitsbegriff vertreten haben, dass sie zumindest ein hedonistisches Freiheitsverständnis entschieden abgelehnt haben.


Worauf die gesamte Zivilisation beruht


Einer der bedeutendsten liberalen Denker des letzten Jh.s, der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek (1899-1992), hat zeitlebens vor einem "falschen Individualismus" gewarnt, der Freiheit mit Beliebigkeit verwechselt. In seinem berühmten Buch Die Verfassung der Freiheit schreibt er:

"Es ist eine Tatsache, die all die großen Vorkämpfer der Freiheit außerhalb der rationalistischen Schule nicht müde wurden zu betonen, dass Freiheit ohne tief eingewurzelte moralische Überzeugungen niemals Bestand gehabt hat und dass Zwang nur dort auf ein Mindestmaß herabgesetzt werden kann, wo zu erwarten ist, dass die Individuen sich in der Regel freiwillig nach gewissen Grundsätzen richten." (Neuausgabe Tübingen 2005, S. 83)

Hayek, der bekennender Agnostiker war, aber nie die Kirche verlassen hat und sich auch kirchlich beerdigen ließ, sah im religiösen Glauben die einzige zuverlässige Vermittlungsinstanz solcher notwendigen moralischen Überzeugungen. Es war für ihn eine der bedeutendsten Leistungen des Christentums, dass es in Verbindung mit dem römischen Rechtsdenken universelle Regeln des Zusammenlebens der Menschen hervorgebracht hat.
Er hat dem heute vorherrschenden rationalistischen Wahrheitsbegriff in der Tradition von Descartes (1596-1650) zutiefst misstraut und demgegenüber die Vernunft des Glaubens betont. Denn seiner Ansicht nach

"beruht unsere ganze Zivilisation darauf – und muss darauf beruhen – dass wir vieles glauben, von dem wir nicht wissen können, ob es im cartesischen Sinne wahr ist."
("Recht, Gesetzgebund und Freiheit" 1981, Landsberg am Lech, Band 1, S. 27)

Damit hat Hayek nicht dem religiösen Fundamentalismus das Wort geredet, sondern sich gegen die heute weithin verbreitete Darstellung gewendet, dass Glaube und Vernunft in einem Gegensatz zueinander stünden.
Glaube und Wissen, Glaube und Vernunft sind aufeinander bezogen.

S. 57) Wenn es keine Wahrheit mehr gibt und kein gemeinsames Sichbemühen um Wahrheit, sondern nur Meinungen, die nebeneinander stehen, dann ist eine Kommunikation über Letztbegründungen oder über letzte Ausrichtungen des Menschen oder über die Frage "Was ist der Mensch?" nicht möglich.
Die Frage nach dem Menschen und dem Menschenbild ist aber die zentrale Frage überhaupt.



S. 58 ff.) Christliches Blut in den Adern der Moderne

Ich bin der festen Überzeugung, dass die genuin christliche Perspektive durchaus einen Beitrag dazu leisten kann, Antworten auf diese Fragen zu finden, die heute nicht nur Christinnen und Christen, sondern sehr viele Menschen bewegen. Wenn ich diesen christlichen Standpunkt hier einbringen möchte, dann geht es mir nicht darum Gott zu beweisen, aber man kann die Frage nach dem Menschen und seiner wirklichen Freiheit m.E. nur umfassend beantworten, wenn man Gesichtspunkte mit einbezieht, die nicht nur dem naturwissenschaftlichen oder ökonomischen Paradigma gehorchen, also der Logik: Was bringt es? Funktioniert es? Kann ich es experimentell abrufen? Wirft es Gewinn ab? So lässt sich die Frage nach der Freiheit des Menschen nicht erschöpfend beantworten. Das ist für mich ein wichtiges Anliegen, das ich einbringen möchte.
Es hat nichts zu tun mit einem Rückfall vor die Aufklärung, sondern mit der Erweiterung der Perspektive über den Menschen und seine Hoffnungen, seine Möglichkeiten.
Durch diese Erweiterung der Perspektive wird auch kein "christlicher Fremdkörper" in die "säkularisierte Moderne" eingebracht, denn so säkularisiert, wie manche denken, ist die Moderne keineswegs. An der Oberfläche mag es so scheinen, mag die Bindung an die Kirchen bei vielen abnehmen, aber subkutan fließt christliches Blut durch die Adern dieser Gesellschaft.
Der in Hannover lehrende Philosoph Detlef Horster hat einmal festgestellt:

"Alle unsere grundlegenden Werte stammen aus dem Christentum."

Nehmen wir nur einmal die für uns so grundlegende Vorstellung von dem Menschen als Person mit einer unveräußerlichen Menschenwürde. Diese Idee geht wesentlich zurück auf christologische und trinitätstheologische Spekulationen spätantiker christlicher Philosophen und Theologen.
Die Vorstellung der Trinität ist im Studium für mich sehr interessant gewesen, sie hat mich fasziniert. Manche fragen: Was hat das denn mit meinem Glauben zu tun? Das ist doch eine Sache der theologischen Experten: Vater, Sohn, Heiliger Geist, Trinität, ein Gott in drei Personen – völlig verrückt! Aber das geht es um das Zentrum des christlichen Glaubens. Gott ist Einer, und als der Eine seinem Wesen nach Beziehung, Dialog.
Deswegen sagen wir ja auch: Gott ist die Liebe. Und weil Gott die Liebe ist, ist das Konstruktionsprinzip der von ihm geschaffenen Welt auch Freiheit. Man kann, meine ich, von christlicher Theologie nicht sprechen, wenn man sich diesem Zentrum nicht gedanklich und damit begrifflich genähert hat.


Person = Selbststand in Relation


Und da ist eben auch genau der Punkt im Nachdenken über die Trinität, der direkt zum Personbegriff führt, nämlich das Verhältnis von Selbststand und Relation. Dass Gott wesentlich Beziehung zwischen Vater, Sohn und Geist ist, eine Beziehung, die gleichzeitig Selbststand ist, ist Ausgangspunkt auch der christlichen Anthropologie und des Personbegriffs des Menschen, der ja Ebenbild Gottes ist, wie uns die Bibel sagt. Der Mensch ist Selbststand in Relation. Das ist die direkte Formulierung des theologischen Begriffes der Person.
Selbststand bedeutet unantastbare Würde. Niemand darf über einen anderen verfügen – der Mensch ist Zweck an sich selbst, wie es Kant sagt, nicht bloßes Mittel für fremde Zwecke. Aber auch bei Kant lebt der Mensch in Relation: er hat den Hang sich zu vergesellschaften. Selbststand und Relation – das ist die Zusammenfassung des abendländischen Personenbegriffs. Man könnte es auch ganz einfach so sagen: Ich und Du und Wir sind grundsätzlich aufeinander bezogen und ohne einander nicht verstehbar.
Das ist ja eine ganz grundlegende Erfahrung, die wir alle gemacht haben. Erst die Liebe, das Wir zweier Menschen, unserer Eltern, hat uns das Leben, uns Ich geschenkt. Und er dadurch, dass uns unsere Eltern als Du angesprochen haben, haben wir ein Bewusstsein von unserem Ich entwickeln können. Erst diese liebende Anteilnahme hat uns zu selbstbewussten Personen reifen lassen.
Und darüber hinaus: Ich bin, weil Gott mich als Schöpfer anspricht und sagt: Du sollst leben!



S. 61) Marx wie er die Aufklärung aufklärt: "nach vorne offen" – Hilfe!

Die Aufklärung beantwortet in ihrem Freiheitspathos nicht, was Inhalt der Freiheit sein soll. Deswegen kann diese Freiheit auch eine Leerformel bleiben. Und insofern muss die Freiheit gebunden werden oder neu zurückgebunden werden an letztverbindliche Normen. Ohne diese Rückbindung wird Freiheit zur nach vorne offenen Beliebigkeit, zum Spiel der Interessen und der Macht.
In gewisser Weise braucht das aufgeklärte Denken also selbst Aufklärung, braucht es weiterhin das Projekt einer Dialektik der Aufklärung, einer "aufgeklärten Aufklärung".
[...] Im Zentrum dieses Projekts einer "aufgeklärten Aufklärung" stehen der Mensch und seine Würde.
Wenn wir uns nicht darüber einigen können, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und auch durch Mehrheitsmeinungen nicht einfach neu interpretiert werden kann, werden sich die Freiheitsgewinne möglicherweise gegen den Menschen richten.



S. 64) Der tiefste Sitz der Krankheit unserer Kultur

Röpke war ein großer Ökonom ("gilt als einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft"), aber er hat sich zeitlebens gegen den Ökonomismus gewendet, der das ganze menschliche Zusammenleben auf ökonomisch Verrechenbares reduzieren möchte. Das Zitat entstammt seinem Buch, das den bezeichnenden Titel Jenseits von Angebot und Nachfrage trägt. "Ich habe immer Scheu gehabt, davon zu sprechen," schreibt Röpke dort, "da ich zu denen gehöre, die ungern ihre religiösen Überzeugungen zu Markte tragen.
Um es aber bei dieser Gelegenheit mit aller Deutlichkeit zu sagen:

Der tiefste Sitz der Krankheit unserer Kultur liegt in der geistig-religiösen Krise, die sich in jedem Einzelnen vollzogen hat und nur in der Seele jedes Einzelnen auch überwunden werden kann.
Wir haben, obwohl der Mensch vor allem ein Homo religiosus ist, seit einem Jh. den immer verzweifelteren Versuch gemacht, ohne Gott auszukommen und den Menschen, seine Wissenschaft, seine Kunst, seine Technik und seinen Staat in ihrer Gottferne, ja Gottlosigkeit selbstherrlich an seine Stelle zu setzen. Man darf überzeugt sein, dass eines Tages über die meisten wie eine Sturzwelle hereinbrechen wird, was jetzt erst wenigen klar ist: Jener verzweifelte Versuch hat eine Lage geschaffen, in der der Mensch als geistig-moralisches Wesen nicht existieren kann, was so viel heißt, dass er in ihr auf die Dauer überhaupt nicht existieren kann, trotz Fernsehen, Autobahnen, Vergnügungsreisen und komfortablen Appartements. Es ist, als hätten wir den Gottesbeweisen einen neuen und überzeugenden hinzufügen wollen: den indirekten Beweis aus den praktischen Folgen der angenommenen Nichtexistenz Gottes." (Stuttgart 1979, S. 25)


S. 68) Per Personalitätsprinzip Interpretationshoheit über wahre Freiheit

Man kann sagen, dass dieses Menschenbild – man spricht auch von dem Prinzip der Personalität – der Dreh- und Angelpunkt der kirchlichen Soziallehre ist. Freiheit und Personalität gehören dabei eng zusammen, denn nur Personen können wirklich frei sein. Das Personalitätsprinzip ist in der Christlichen Sozialethik – "sprechen Katholiken mehrheitlich von Soziallehre, evangelische Christen mehrheitlich von Sozialethik" – der Ausgangspunkt bei der Suche nach der rechten und gerechten Gestaltung des Miteinanders der Menschen.
Dabei leitet die kirchliche Soziallehre nicht einfach bestimmte Normen aus dem christlichen Menschenbild ab, sondern sie fragt, was dem Menschen gemäß ist, was ihn fördert und zur wahren Freiheit führt.
Anders als manche säkulare Philosophie des 20. Jh.s hat die Kirche nie den Anspruch erhoben, eine umfassende Gesellschaftstheorie vorzulegen. Sie hat im Lauf der Geschichte mit ihrer Sozialverkündigung vielmehr in kritischer Zeitgenossenschaft immer wieder strukturelle Missachtungen der Menschenwürde angeprangert, Verletzungen der Freiheit angeklagt und Gerechtigkeit für alle Menschen eingefordert.

S. 69) An den Lehrstühlen für christliche Gesellschaftslehre, die es an den meisten theologischen Fakultäten gibt, und an anderen christlich-sozialethischen Instituten versuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sozialethische Dimension des Evangeliums auf der Höhe der heutigen sozialwissenschaftlichen Diskurse zu formulieren.


S. 70) Ein Gefüge offener Sätze

Die kirchliche Soziallehre hat bestimmte Leitideen – an der Spitze eben die Idee der Personalität, also die Idee von der Einzigartigkeit und Unaustauschbarkeit jeden einzelnen Menschen – und diese Leitideen konfrontiert sie mit der jeweiligen geschichtlichen Realität, ohne den Anspruch zu erheben, eine vollkommene Ordnung für den Menschen herstellen zu können. Es geht ihr um stetige Verbesserungen der sozialen Strukturen auf eine je gerechtere Gesellschaft hin.
Sie ist deshalb auch beschrieben worden als ein "Gefüge von offenen Sätzen".
Mit anderen Worten: Sie bietet kein Instant-Rezept zum Anrühren, sondern sie sagt, was in eine gescheite Suppe hineingehört, damit sie schmeckt. Ihr Konstruktionspunkt ist nicht ein ideales System, sondern der Mensch als Person und seine umfassend verstandene Freiheit.



S. 77 f.) Freiheit nur durch staatliche Autorität

Auch die Kirche hat in ihrer langen Geschichte hinreichend leidvolle Erfahrungen mit staatlichen Ein- und Übergriffen in ihre ureigensten Angelegenheiten sammeln können. Deshalb hegen auch die kirchliche Soziallehre und zumal der politische Katholizismus in Deutschland traditionellerweise ein gesundes Misstrauen gegenüber einem Staat, der alles und jedes bestimmen will. Das Subsidiaritätsprinzip, das den Staat in seine Schranken weist, ist sogar erstmals in einer päpstlichen Sozialenzyklika explizit formuliert worden: Quadragesimo anno (1931). Und die einschlägige Formulierung dort geht, wie wir heute wissen, auf einen Deutschen zurück, den Jesuiten Gustav Gundlach:

"Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnetere Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen. Jede Gesellschaftstätigkeit ist ihrem Wesen nach subsidiär – sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen."

Bei allem Verständnis, das ich aus dieser Tradition heraus als katholischer Bischof und Sozialethiker für die liberale Abneigung gegen zu viel Staatsaktivität habe, muss ich aber doch kritisch feststellen: Was im klassischen Wirtschaftsliberalismus meist nicht gesehen worden ist, was mitunter auch heute noch oder wieder zu wenig gesehen und anerkannt wird, ist die Tatsache, dass der Staat nicht nur eine potenzielle Bedrohung für die Freiheit ist, sondern dass Freiheit, auch Marktfreiheit, nur durch die staatliche Autorität gesichert werden kann.

S. 80 f.) Wenn der Staat sich in seinem Arbeitsrecht, seinem Mietrecht oder seinem Verbraucherschutzrecht schützend vor die schwächere Vertragspartei stellt, dann beschränkt er damit nicht Freiheit, sondern er eröffnet Freiheitsräume. [...] Tatsächlich ist mir kein einziges historisches Beispiel bekannt, dass eine freie Marktwirtschaft ohne ein gewisses Maß an staatlichen Eingriffen und Regulierung sich irgendwo auf der Welt als segensreich für die Armen erwiesen hätte.

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