May 31, 2010

Metaphysische Spitzfindigkeiten


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 4, pt 5, pt 6

Die Wiederkehr des Fetischismus im Kapitalismus: Karl Marx
S. 91 ff.)
Die eigentlichen Ursachen für die Faszination, die vom Kult materieller Objekte ausging, müssen anderswo gesucht werden. Denn offensichtlich gelangte im "Fetischismus", den man den Afrikanern und anderen außereuropäischen Völkern zuschrieb, eine Einstellung zum Ausdruck, die den Zeitgenossen im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung entschieden vertrauter war, als sie selbst sich dies eingestehen wollten. Karl Marx hat dies erkannt. In seiner Kritik der politischen Ökonomie stellte er die These auf, dass das fetischistische Denken unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise eine unerwartete Wiederkehr erfuhr.
Marx war auf den Begriff schon als junger Mann bei seiner Lektüre der seit 1785 in deutscher Übersetzung vorliegenden Abhandlung des Parlamentspräsidenten de Brosses gestoßen. In eines seiner Exzerptbücher notierte sich der damals Dreiundzwanzigjährige eine merkwürdige, bei de Brosses wiedergegebene Episode aus der frühen Entdeckungsgeschichte: Die "Wilden von Kuba" hatten einer zeitgenössischen Quelle zufolge das Gold der Spanier gesammelt und ist Meer versenkt, weil sie es für deren "Fetisch" hielten. Marx selbst verwendete den Begriff bereits ein Jahr später in seiner 1842 veröffentlichten Auseinandersetzung mit Carl Heinrich Hermes, einem Redakteur der Kölnischen Zeitung. Hermes' Auffassung, dass der "kindische Fetischismus" als "roheste Form der Religion" den Menschen bereits über die "sinnlichen Begierden" erhebe, weist Marx – hierin Hegel folgend – mit dem Argument zurück, dass der Fetischismus vielmehr selbst die "Religion der sinnlichen Begierde" sei.

In Marx' Frühschriften tauchen die Begriffe Fetisch und Fetischismus zwar hin und wieder auf, ausführlicher ist Marx auf den Fetischismus jedoch erst wieder über zwanzig Jahre später in seinem Hauptwerk zu sprechen gekommen. Als Instrument der Religionskritik interessierte er ihn damals bereits nicht mehr. Denn die Religionskritik hatte er bereits in seiner 1844 verfassten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und seinen Thesen zu Feuerbach im wesentlichen für abgeschlossen erklärt. Gleichwohl greift Marx in einem zentralen Kapitel des 1867 veröffentlichten ersten Bandes des Kapitals erneut auf die Sprache antireligiöser Polemik zurück, verwendet sie jetzt aber nur noch in einem übertragenen Sinn. Mit Hilfe des Begriffs des Fetischismus kritisiert er, was ihm als die zentrale Verkehrung der wirklichen Verhältnisse unter der Herrschaft des Kapitalismus erscheint. Dieses kurze Kapitel, auf das sich Marx-Exegeten immer wieder bezogen haben und das wahrscheinlich häufiger zitiert und interpretiert worden ist als jeder andere Abschnitt seines Werkes, trägt den Titel "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis".
Was verbirgt sich hinter dieser ominös klingenden Überschrift? Worin beruht nach Marx das Geheimnis der Ware, jenes nur scheinbar "selbstverständlichen, trivialen Dings", das freilich – wie er schreibt – "ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken"? Zum Verständnis dessen, was Marx unter diesen theologischen Mucken" versteht, ist zunächst ein kleiner Exkurs in die Überlegungen notwendig, die er im Kapital zum Wesen der Ware, zu ihrem Gebrauchs- und ihrem Tauschwertaspekt angestellt hat. [...]

Gelangt der Wert einer Ware auch erst in Erscheinung, wenn sie in ein Tauschverhältnis mit anderen Waren eintritt, so ist es dennoch nicht die Zirkulation unter den Produzenten, die der Ware ihren Wert verleiht. Sofern nach Marx allein die menschliche Arbeit wertschaffend ist, existieren die Werte bereits, bevor die Waren zu zirkulieren beginnen. Was in der Zirkulationssphäre festgelegt wird, ist allein das Wertverhältnis zwischen den Waren. Es muss keineswegs notwendig dem in das einzelne Produkt investierten Quantum an Arbeit entsprechen, sondern weicht häufig davon ab. Es kann ein mehr und es kann auch ein weniger sein. Die einfachste Form dieses Verhältnisses ist, dass eine bestimmte Quantität der Ware A gegen eine bestimmte Quantität der Ware B ausgetauscht wird. Dadurch entsteht die Vorstellung, dass jede Ware von Natur aus die Fähigkeit besitzt, in sich den Wert einer jeden anderen Ware auszudrücken. Schon die einfache Äquivalentform neigt also dazu, den Ursprung des Wertes der Ware in der menschlichen Arbeit vergessen zu machen. Der Wert wird zu einer natürlichen Eigenschaft der Dinge.
Diese Tendenz verstärkt sich, je weiter die Warenproduktion fortschreitet und je komplizierter die gesellschaftlichen Verhältnisse werden.
Ist das historische Stadium erst einmal erreicht, in dem die Waren nicht mehr gegen Waren, sondern gegen das Geld als ein allgemeines Äquivalent getauscht werden, entsteht ein Zustand, in dem

"die vermittelnde Bewegung in ihrem eigenen Resultat [verschwindet] und keine Spur [zurücklässt]. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigene Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper. Diese Dinge, Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes."

In der kapitalistischen Gesellschaft erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Die menschliche Arbeitskraft als Ursprung des Wertes einer Ware gerät schließlich vollends in Vergessenheit. Es entsteht der falsche Eindruck, dass das Kapital selbst wertschaffend sei. An dieser Stelle seiner Argumentation führt Marx den Begriff des Fetischismus ein:

"Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesell. Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesell. Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesell. Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen stehendes gesell. Verhältnis zu Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesell. Dinge. [...] Es ist nur das bestimmte gesell. Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist."

Das Eigenleben, das den Waren im Kapitalismus zugeschrieben wird, die fetischistische Illusion, dass von Menschen geschaffene Dinge selbst Wert schaffen könnten, stellt nach Marx also nur eine Verkehrung der wahren Verhältnisse dar. Der Warenfetischismus verdrängt das wirkliche Wesen des Wertes als geronnene menschliche Arbeit. [...]
Obgleich dem Geld in Gesellschaften mit einfacher Warenproduktion bereits besondere Bedeutung zugemessen wird, sind die Verhältnisse noch einigermaßen transparent. In Gesellschaften mit entwickelter kapitalistischer Warenproduktion gestalten sich die Dinge dagegen wesentlich komplizierter. (S. 96 f.) [...]

S. 98)
Nicht von ungefähr knüpft er auch mit seinen sprachlichen Wendungen an die religiöse Polemik der Propheten an. Der Kampf gegen das Kapital ist zugleich ein Kampf gegen dessen Selbstvergötterung, wie sie im Warenfetischismus zum Ausdruck gelangt.
Bei aller Differenziertheit und Schärfe seiner Analyse verkennt Marx den Zirkelschluss, in den er sich begibt, wenn er mit Hilfe eines Begriffs, der zu seiner Zeit zur Beschreibung fremder Gesellschaften gebraucht worden war, die Entfremdungsformen der eigenen Gesellschaft diagnostiziert. Wenn es nämlich richtig ist, dass die Verdinglichung aller Beziehungen ein Charakteristikum der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaftsformation ist, dann müsste der Schluss doch nahe liegen, dass auch das, was wir als den Fetischismus der "Anderen" wahrnehmen, im Prinzip nichts anderes als eine Projektion "unseres" eigenen Fetischismus ist. Marx hat mit seiner Analyse des "Fetischcharakters der Ware" einen Schlüssel zum Verständnis der erstaunlichen Konjunktur geliefert, die der Fetischismusbegriff in seiner Epoche erlebte. Sein eigener Text ist freilich Erklärung und Symptom dessen, was er zu erklären versucht, in einem.

Der Fetischbegriff in der Ethnologie und der Psychologie

In derselben Dekade, in der Karl Marx sein theoretisches Hauptwerk veröffentlichte, erfuhr in Europa auch die Ethnologie ihren ersten großen Aufschwung. Der Wissenschaftsgeschichte gilt diese für das Fach ungemein fruchtbare Phase als das "anthropologische Jahrzehnt". Zwischen 1859 und 1871 erschienen Theodor Waitz' Anthropologie der Naturvölker, Johann Jacob Bachofens Das Mutterrecht, Henry Maines Ancient Law, John F. McLennans The Worship of Plants and Animals, John Lubbocks The Origin of Civilisatin and the Primitive Condition of Man, Charles Darwins The Descent of Man, Lewis Henry Morgans Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family und Edward Burnett Tylors Primitive Culture.
Alle diese Werke waren einem neuen Paradigma verpflichtet, dem sogenannten Evolutionismus, der in Anknüpfung an die Fortschrittsidee der Aufklärung die Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen suchte, die der fortschreitenden Entwicklung der menschlichen Kultur von einfacheren zu immer komplexeren Formen zugrunde lag. Solche aufeinander folgende Entwicklungsstufen glaubte man in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft nachweisen zu können. In der Wirtschaft und in der Technik, im Recht, in den sozialen und politischen Organisationsformen und in der Religion. Umstandslos wurden dabei von den Evolutionisten bestimmte außereuropäische Gesellschaften, die scheinbar auf früheren Entwicklungsstufen stehen geblieben waren, mit den Gesellschaften der Vorgeschichte gleichgesetzt. Sie galten als "Primitive", von denen man glaubte, dass sich an ihnen die Frühformen menschlicher Kultur gewissermaßen noch in situ studieren ließen. [...]
Die Evolutionisten beließen es bei der Zusammenstellung weiterer Fallbeispiele, zu einer Neubestimmung oder gar Kritik des Begriffs trugen sie aber nichts bei. Dies überrascht zwar angesichts der zahlreichen neuen ethnographischen Daten, die zu Beginn der Ära des Imperialismus aus Afrika, Asien und Amerika in die Metropolen der Kolonialreiche gelangten, doch noch waren die meisten Ethnologen Schreibtischgelehrte, von denen nur wenige Europa je verlassen hatten. Wie schon die Philosophen stellten sie sich ihre Informationen aus den Büchern von Missionaren und Kolonialresidenten zusammen. [...]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien diese Kritik bereits so weit fortgeschritten, dass Marcel Mauss in einer 1912 veröffentlichten kleinen Abhandlung fordern konnte, den Begriff "Fetisch" ein und für allemal aus der Sprache der Wissenschaft zu verbannen:

"Wenn man einmal die Geschichte der Religionswissenschaft und der Ethnologie schreiben wird, wird man erstaunt sein über die ungebührliche und zufällige Rolle, die ein Begriff wie der des Fetischs in den theoretischen und deskriptiven Arbeiten gespielt hat. Sie entspricht nur einem ungeheuren Missverständnis zwischen zwei Zivilisationen, der afrikanischen und der europäischen. Sie gründet auf nichts anderem als auf einem blinden Gehorsam gegenüber den kolonialen Gepflogenheiten, den fränkischen Sprachen der Europäer der Westküste."

[...] Bemerkenswert bleibt, dass die Aufnahme des Begriffs des Fetischismus in das Vokabular der klinischen Psychologie durch eine ähnliche Konstellation gekennzeichnet ist wie sein Aufkommen in der Philosophie und in der Kritik der politischen Ökonomie. Ob eine Extremform des vernunftwidrigen religiösen Aberglaubens, ob ein Rückfall in eine längst überwundene Geisteshaltung, ob eine Erscheinungsform der Entfremdung im Kapitalismus oder ob ein Symptom des nationalen Sittenverfalls: in jedem Fall scheint die Verwendung des Begriffs von vornherein mit bestimmten gesellschaftskritischen Intentionen verknüpft gewesen zu sein.

Erstes geistiges Regime der Menschheit


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 4, pt 5, pt 7

Le Grand-Fétiche: Auguste Comte
S. 86 ff.)
In seinem 1842 abgeschlossenen sechsbändigen Hauptwerk, dem Cours de philosophie positive, knüpft Comte an die von de Brosses entwickelten Überlegungen an und ordnet den Fetischismus in ein allgemeines Fortschrittsmodell des menschlichen Denkens ein. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Positivismus als die von ihm verkündete höchste Form der Philosophie überhaupt. Er beruht auf der Grundidee, dass der Mensch weder das Wesen noch den Ursprung noch gar den Zweck der ihn umgebenden Phänomene erkennen könne. Sinnvoll beschäftigen könne man sich allein mit den Beziehungen zwischen den Phänomenen. Seien diese nicht zufälliger Natur, sondern dauerhaft und konstant, so ließen sie hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit die Bildung von Begriffen, hinsichtlich ihrer Abfolge aber die Bildung von Gesetzen zu. Erst das Wissen um die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Phänomenen macht nach Comte Prognosen möglich – das vorrangige Erkenntnisziel des Positivismus. Was zunächst auf dem Gebiet der "abstrakten" und "konkreten" Wissenschaften, der Arithmetik und der Geometrie, der Mechanik, der Chemie und der Biologie gelungen sei, nämlich die Gesetze aufzudecken, die den elementaren und den komplexeren Naturtatsachen zugrunde liegen, werde schließlich auch die Soziologie erreichen, obgleich sie mit den komplexesten Phänomenen überhaupt zu tun hätte: den Beziehungen zwischen den Menschen. Als Schöpfer dieser neuen Wissenschaft, der er den Namen gab und als deren Gegenstand er nicht nur einzelne Gesellschaften, sondern die gesamte Geschichte der Menschheit ansah, verstand Comte sich selbst.
Die Bescheidung der Philosophie auf die Anerkennung der Erscheinungen als Tatsachen ist nach Comte Resultat eines langen Lernprozesses, den die Menschheit als ganze durchlaufen hat. Der Positivismus steht am Ende eines Weges, der voll war von Fehlmeinungen und Irrtümern.

Comte ordnet die verschiedenen Etappen dieses Weges einem Dreistadienmodell zu:

"Jeder Zweig unserer Erkenntnisse durchläuft der Reihe nach drei verschiedene Zustände, nämlich den theologischen oder fiktiven Zustand, den metaphysischen oder abstrakten Zustand und den wissenschaftlichen oder positiven Zustand."

Innerhalb dieser drei Stadien unterscheidet Comte wiederum verschiedene Zwischenstufen. So beginnt für ihn das "theologische Zeitalter", in dem die Menschen die Unveränderlichkeit der Gesetze noch nicht entdeckt hatten und die Welt von belebten Wesen beherrscht glaubten, mit dem Fetischismus, auf den der Polytheismus und schließlich der Monotheismus folgt. Im "metaphysischen Zeitalter" verwandeln sich die Götter in abstrakte "Kräfte", "Gewalten" und "Eigenschaften". Doch erst im "positiven Zeitalter" werden die der Natur zugeschriebenen Eigenschaften und Handlungen in ihrer Scheinhaftigkeit erkannt. Erst in diesem Stadium der Gattungsgeschichte gelangen die Menschen zur Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, die den Beziehungen zwischen den Phänomenen zugrunde liegen.
De Brosses folgend, hält also auch Comte den Fetischismus für das früheste Stadium der Entwicklung des menschlichen Geistes, dem er in seiner Abhandlung fast achtzig Seiten widmet. Im Rahmen seines Dreistadienmodells stellt der Fetischismus die unterste Stufe des "theologischen Zeitalters" dar. Für Comte ist er das "erste geistige Regime der Menschheit" überhaupt. Charakteristisch sei für diese Phase "die Entwicklung unserer ursprünglichen Tendenz, alle natürlichen oder künstlichen Körper der Außenwelt als von einem Leben beseelt aufzufassen, das, die bloßen wechselseitigen Unterschiede des Intensitätsgrades abgerechnet, dem unseren wesentlich analog ist." Bemerkenswert ist, dass Comte hier ausdrücklich von "unserer ursprünglichen Tendenz" redet. Nicht nur der frühe Mensch neigte seiner Meinung nach dazu, seine Umwelt zu beseelen. Vielmehr handelte es sich um ein universelles Phänomen. Falle es uns auch in der Regel schwer, den Fetischglauben zu verstehen – so schreibt er in einem anderen Zusammenhang – so müsse ein jeder in seiner eigenen Biographie nur weit genug zurückgehen, um zu entdecken, dass auch wir manchmal ganz ähnlich dächten. Comte demonstriert an einem, im Zeitalter der Computertechnik wieder überraschend aktuell anmutenden Beispiel, was er mit diesem Hinweis meint:

"Diejenigen z.B., die am geringschätzigsten über die Naivität des Wilden gelächelt haben werden, der die Uhr, deren Spiel er betrachtet, unwillkürlich beseelt, könnten ihrerseits sich selbst mehr als einmal in einer kaum überlegenen Geistesverfassung überraschen, wenn sie, mit der Uhrmacherei völlig unbekannt, die unvermuteten und oft unerklärlichen Zufälle betrachten, die irgend einer unbemerkten Störung dieses sinnreichen Apparats zuzuschreiben sind. Es wäre uns ohne Zweifel sehr schwer, alsdann die natürliche Neigung hinlänglich im Zaum zu halten, die uns verleitet, diese Veränderungen als ebenso viele Anzeichen von Affekten oder Launen eines chimärischen Wesens anzusehen, wenn uns nicht die endlich überwiegende Macht einer früheren, bereits sehr ausgedehnten Analogie jetzt dazu führte, unsere intellektuelle Erregung durch die unmittelbare allgemeine Annahme einer gewissen, mechanischen Beschädigung zu mäßigen."

Selbst der Klügste sei nicht dagegen gefeit, in einem Zustand extremer Erregung dem nächstbesten Gegenstand Leben und einen eigenen Willen zuzuschreiben. Die fetischistische Grundhaltung äußert sich seiner Auffassung nach nicht nur in solchen, aus einer augenblicklichen Gefühlslage hervorgegangenen spontanen Fehlschlüsseln, sondern grundsätzlich in jeder Form eines Analogiedenkens, das in natürlichen Erscheinungen menschliche Eigenschaften wahrnehmen zu können glaubt. Die Sprache sei voll von sinnbildlichen Ausdrücken, die Personifizierungen von toten Objekten darstellten. Comte geht sogar noch einen Schritt weiter. Auch die Analogielehren der zeitgenössischen Philosophie, die auf reinen Spekulationen beruhten, sieht er vom selben fetischistischen Denken geprägt. Dies gelte insbesondere für den "dunklen Pantheismus" gewisser deutscher Metaphysiker. Er sei im Prinzip "nichts anderes als der Fetischismus, verallgemeinert und systematisiert, eingehüllt in einen gelehrten Apparat, geeignet, das gemeine Volk irrezuführen."

Bei der Beantwortung der Frage, weshalb die "natürliche Theologie" des Fetischismus die Menschheit so lange beherrschen konnte, bleibt Comte dann jedoch eher konventionell. Wie de Brosses und Hegel macht auch er hierfür einen Zustand verantwortlich, in dem die Affekte und Leidenschaften noch über die Vernunft herrschten. In diesem Stadium der Gattungsgeschichte seien die theologischen Ideen noch ganz an die spontanen Emotionen und Empfindungen gebunden gewesen. Dem frühen Menschen war "die Welt voll von Körpern [...], deren ein jeder Gegenstand eines bestimmten Aberglaubens war." Anders als de Brosses oder Hegel bleibt Comte jedoch weit davon entfernt, in diesem Zustand nur einen der vielen Irrwege des menschlichen Geistes sehen zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Für ihn ist die "vollkommene Harmonie", in der sich damals dem Beschauer die "äußere Welt" darbot, der "intensivste theologische Zustand" überhaupt. Der Fetischismus lieferte den Menschen eine vorläufige Synthese, die, so illusorisch sie auch gewesen sein mochte, ihr Selbstvertrauen stärkte und der Suche nach invarianten logischen Gesetzen den Weg bahnte. Gattungsgeschichtlich habe er dazu beigetragen, den "Menschen aus seinem tierischen Stumpfsinn herauszureißen". Die Anbetung der Dinge seiner Umwelt habe den frühen Menschen fest and die heimatliche Erde gebunden, seine Sesshaftwerdung befördert und die Bildung von Eigentumsvorstellungen vorangetrieben. In Vorwegnahme bestimmter Doktrinen des modernen Ökologismus – einer Bewegung, deren Aufkommen Comte bereits vorausgesagt hatte – sieht er in der kultischen Verehrung der Tiere und Pflanzen ein Mittel des frühen Naturschutzes. In einer Zeit, in der die Menschen sich noch in einem Krieg aller gegen alle befanden, habe die Heilighaltung der Schöpfung die Natur vor der menschlichen Zerstörungswut bewahrt. Auch im Polytheismus habe man die Tiere und Pflanzen noch unter den Schutz der Gottheiten gestellt. Erst unter der Herrschaft des Monotheismus, der letzten Stufe des theologischen Zeitalters, hätten die Menschen begonnen, ihre Pflichten gegenüber der Natur zu vernachlässigen, sie auszubeuten und sich rücksichtslos zu unterwerfen.

Der Fetischismus musste dem Polytheismus dennoch weichen, da er als "Zivilisationsmittel" wenig taugte. Zum einen verhinderte ein Zustand, in dem "alle Ideen notwendig besondere und konkrete sind", die Entwicklung abstrakten Denkens. Zum anderen erwies der Fetischismus sich als Hemmschuh bei der Herausbildung eines Priesterstands, sei er doch "im wesentlichen persönlicher und direkter Kult, dessen unmittelbarer Diener jeder Gläubige sein kann, ohne irgendeine Vermittlung gegenüber seinen besonderen Gottheiten zu brauchen, die ihrer Natur nach fortwährend zugänglich sind.“ Dies änderte sich mit dem Polytheismus. Erst der Glaube an unsichtbare und allgemeine Götter, die nicht mehr in einzelnen Gegenständen materiell präsent waren, habe eine eigene Klasse von religiösen Spezialisten entstehen lassen, die zwischen den Gläubigen und ihren Gottheiten vermittelten. Priester, die ihre Muße zum Nachdenken über die Zusammenhänge der Natur nutzten, erste technische Errungenschaften hervorbrachten, zur sozialen Kohäsion beitrugen und den Fortschritt vorantrieben.

Insgesamt aber geraten Comtes Ausführungen zu einer überraschenden Apologie des Fetischismus. Weit davon entfernt, ihn zur Denkform der "Primitiven" zu erklären, weist er nach, dass es sich bei der spontanen Beseelung von Gegenständen um eine universelle Neigung handelt, die tendenziell jedem Menschen zu eigen ist. Der Fetischismus beruht zwar auf einer Illusion, doch bildet er "den wahren, uranfänglichen Kern des theologischen Geistes, in seiner reinsten elementaren Einfalt und dennoch in seiner ganzen intellektuellen Vollkommenheit betrachtet." Im Fetischismus der Frühzeit sieht Comte ein in sich stimmiges System, das die Kohärenz bereits vorwegnimmt, die sich, wenngleich auch auf einer weit höheren Ebene, erst im Endstadium des Positivismus wieder einstellen wird. Mit seinem Spätwerk dem Système de politique positive aus den Jahren 1851 bis 1854, hat Comte den Positivismus selbst in den Rang einer neuen Religion zu heben versucht. In ihm erweist er dem Fetischismus denn auch ein weiteres Mal besondere Reverenz. Es sind drei große transzendente Entitäten, die er anstelle der christlichen Trinität in das Zentrum dieser neuen, menschheitsumfassenden Glaubenslehre rückt: das Grand-Être, das die gesamte Menschheit umfasst, das Grand-Milieu als Repräsentation des Weltraums, und der Grand-Fétiche, der symbolisch für die Erde steht, von der die Menschen leben.

Obgleich sich Comte bei der Konzipierung seines Hauptwerkes vom Katholizismus seiner Jugend bereits weit entfernt hatte, enthalten seine Ausführungen über den Fetischismus eine implizite Auseinandersetzung mit den Lehren des Protestantismus. Einerseits lobt er den tiefen Respekt des Fetischismus vor der Natur, dem Buch Gottes, als das sie selbst noch die Kirchenväter angesehen hatten. Dass es ihm dabei auch um eine Verteidigung katholischer Traditionen geht, zeigt eine kurze Bemerkung, die in diesem Zusammenhang fällt, und in der er den Vorwurf des Bilderkultes zurückweist, der gegen den Katholizismus von Seiten der Protestanten erhoben worden war. Andererseits betrachtet Comte es als entscheidenden Mangel des Stadiums des Fetischismus, dass er so lange Zeit das Aufkommen des Priesterstands verhindert habe. Da der Fetischdiener sich einbildete, über einen unmittelbaren Zugang zu den transzendenten Mächten zu verfügen, habe es erst im Stadium des Polytheismus zur Entstehung jener Klasse spekulativer Denker kommen können, die im weiteren Verlauf der Geschichte so viel zum Fortschritt der Menschheit beitragen sollte. Auch dieses Argument hat offensichtlich einen theologischen Hintergrund. In den Kontroversen zwischen den Reformatoren und der Amtskirche hatte die Auseinandersetzung über die Position der Priesterschaft eine zentrale Rolle gespielt. Für die römische Kirche waren die Priester Mittler zwischen Mensch und Gott. Die protestantischen Kirchen hatten dagegen die Auffassung vertreten, dass der einzelne Christ nur durch die Gnade Gottes, nicht aber durch den Priester den Weg zur Erlösung finden könne. Die Geistlichen waren lediglich Vorsteher ihrer Gemeinden, die sie zu sittsamem Handeln anleiten sollten. Der Vermittlung durch den Priesterstand bedurfte es nach dieser Lehre nicht. Schließt Comte sich auch nicht den theologischen Argumentationen der Gegenseite an, so bleibt seine Stellung zur Priesterschaft doch eindeutig affirmativ. Für ihn stellt die protestantische Lehre, dass der einzelne Christ unmittelbar zu Gott sei, einen Rückfall in die Illusionen des Fetischismus dar.

Warf Kant dem "Pfaffentum" selbst noch der lutherischen Amtskirche vor, es würde den Christen seiner moralischen Freiheit berauben und durch seine "Fetischmacherei" die Wiederkehr längst überwundener religiöser Verhaltensweisen begünstigen, so steht umgekehrt für Comte der Gläubige, der sich einbildet, auf die Vermittlung des Klerus verzichten zu können, wieder auf einer Stufe mit dem primitiven Fetischdiener. Beide wissen zwar um das Bedürfnis des Gläubigen nach materiellen Manifestationen des Transzendenten. Doch während Kant in diesem Bedürfnis das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu einer wirklichen Ethisierung der Religion erkennen zu können glaubt, will Comte es in der "heiligen Trinität" der neuen Religion des Positivismus aufgehoben sehen. Deutlich wird so an den unterschiedlichen Bewertungen der beiden Denker, wie anhand des Fetischismus religiöse Kontroversen verhandelt werden, die die Gemüter auch noch im Zeitalter der Säkularisierung heftig bewegten. Der Vorwurf des Fetischismus ist die Waffe, mit der man die jeweils andere Seite bekämpft. Fetischisten – das sind immer nur die anderen, gleichgültig of Katholiken, Protestanten oder Afrikaner.

May 27, 2010

Religion der Zauberei und kirchliche Observanzen


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 4, pt 6, pt 7
S. 8 ff.)
Die in der ethnologischen Literatur als "Cargo"-Kulte bezeichneten Bewegungen waren weit mehr als ein Versuch zur affektiven Bewältigung der eklatanten Macht- und Reichtumsunterschiede zwischen den Fremden und den Einheimischen. Mit einigem Recht hat man sie neuerdings als eine Art indigene Ethnologie bezeichnet. Denn was sie enthalten, das ist eine durchaus zutreffende Aussage über einen der charakteristischsten Züge westlicher Kultur: In kaum einer anderen spielen materielle Gegenstände eine ähnlich herausragende Rolle. Die zahllosen Produkte, die die europäische Zivilisation hervorgebracht hat und mit denen sie bis heute die ganze Welt überschwemmt, mussten sie in den Augen der Angehörigen anderer Zivilisationen tatsächlich als eine "Cargo"-Kultur erscheinen lassen. Die Verführungskraft der Waren, mit denen die Laderäume europäischer Handelsschiffe voll waren, hat zur Verwestlichung der Erde wahrscheinlich entschieden mehr beigetragen als Kolonialismus und christliche Mission. Die Notwendigkeit der Erschließung neuer Absatzmärkte seit dem Beginn der Industrialisierung hat diese Entwicklung weiter vorangetrieben. Nachdem die lokalen Verhältnisse durch die europäischen Warenimplantate erst einmal aufgebrochen und neue Bedürfnisse geweckt worden waren, bedurfte es des kolonialistischen Machtapparates nicht mehr. Die verschiedenen Globalisierungswellen des 20. Jh. zeigen, dass die Eigendynamik der einmal in Gang gesetzten Prozesse ihn schließlich überflüssig gemacht hat.

Die zunehmende Macht der Dinge über die Menschen – ein seit dem 19. Jh. geläufiger Topos europäischer Kulturkritik – hat auch unsere eigenen Sozialstrukturen von Grund auf transformiert. In unserem Alltag sind wir von einer Vielzahl von Gegenständen umgeben, auf die wir selbst dann nicht mehr verzichten könnten, wenn wir dies wollten. Das "Zeug", von dem noch Heidegger so verächtlich sprach, ist aus der modernen Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft nicht mehr wegzudenken. Heute dominiert es auch den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. Ohne Zeitung, Radio und Fernsehen, ohne Auto, Telefon oder Computer wäre unsere gegenwärtige Lebensform nicht möglich. In vielen Fällen haben die Kommunikationsmittel den direkten menschlichen Ansprechpartner sogar selbst ersetzt.
In unserem Verhältnis zu den Dingen lässt sich freilich ein merkwürdiges Paradoxon beobachten. Denn je bedeutender sie für uns werden, desto bedeutungsloser werden sie an sich. Moderne Konsumgüter zeichnen sich durch immer kürzer werdende Verfallszeiten aus. [...] In Ghana begraben die Familien ihre verstorbenen Angehörigen in Prunksärgen, die die Form von westlichen Luxuslimousinen, von Sportjachten oder Mobiltelefonen haben. Zumindest im Jenseits soll es den Toten besser gehen.

Der Fetischismus und die Herrschaft der Willkür: Hegel in Afrika
S. 80 ff.)
Kants Ausführungen in "Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" können als Versuch gewertet werden, den Fetischismusbegriff vom Odium der Primitivität zu befreien, indem er ihn universalisiert und den Spuren fetischistischen Denkens auch in der eigenen Religion nachgeht. Demgegenüber stellen die Überlegungen, die Hegel zu diesem Komplex angestellt hat, einen Rückfall dar. Subsumiert Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion den "Fetischdienst" auch unter die "Religion der Zauberei", die er in seinem religionsgeschichtlichen Entwicklungsschema auf die reine Zauberei, die niedrigste Stufe überhaupt, folgen lässt, so versteht er in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie unter Fetischismus doch allein und wesentlich die Religion der Afrikaner. Der verschlossene afrikanische Kontinent selbst aber ist ihm ein geschichtsloses "Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist" und dessen Bewohner "den natürlichen Menschen in seiner ganzen Wildheit und Unbändigkeit [darstellen]. Von aller Ehrfurcht und Sittlichkeit, von dem, was Gefühl heißt, muss man abstrahieren, wenn man ihn richtig auffassen will: es ist nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter zu finden."

So roh und unbändig Hegel die Afrikaner erscheinen, so grob und urtümlich ist seiner Ansicht nach auch ihre Religion. Die Einsicht in die Abhängigkeit des Menschen von der Natur sei ihnen ebenso fremd wie die Vorstellung eines absoluten Wesens. Sie bildeten sich ein, der Natur Befehle geben zu können, da sie noch nicht zu dem Bewusstsein gelangt seien, dass es etwas Höheres gäbe als den Menschen. Ihre Religion habe sich daher noch kaum über die Stufe der reinen Zauberei erhoben. Sie beschränke sich im wesentlichen darauf, die eigene Macht zur Anschauung zu bringen, sie äußerlich zu setzen und sich ein Bild von ihr zu machen. Dazu wäre ihnen jeder beliebige Gegenstand recht, "sei es ein Tier, ein Baum, ein Stein, ein Bild von Holz. Dies ist der Fetisch, ein Wort, welches die Portugiesen zuerst in Umlauf gebracht und welches von feitico, Zauberei, abstammt." Der Fetisch sei ihnen aber nichts Selbständiges, Festes oder Objektives, sondern in seiner Gegenständlichkeit nichts anderes "als die zur Selbstanschauung sich bringende individuelle Willkür". Dies könne man allein schon daran ersehen, dass sie ihre Fetische misshandelten, prügelten, zerstörten oder durch einen anderen ersetzten, wenn sie ihre Erwartungen nicht erfüllten. Dem Fetisch werde also keinerlei Eigenständigkeit zuerkannt, "er bleibt lediglich Geschöpf, das die Willkür des Schaffenden ausdrückt und das immer in seinen Händen verharrt. Kurz, es ist kein Verhältnis der Abhängigkeit in dieser Religion."

Von der Projektionstheorie de Brosses' unterscheidet sich Hegels eigenwillige Interpretation darin, dass sich seiner Auffassung zufolge im Fetisch keine andere Macht verkörpert als die subjektive Willkür dessen, der ihn hergestellt hat. Nicht Furcht und Schrecken haben Hegel zufolge zum Glauben an die Wirksamkeit der heiligen Kultgegenstände geführt, vielmehr gelangen in ihnen die Allmachtsvorstellungen der Afrikaner zum Ausdruck, ihre Einbildung, die Natur allein durch ihren Willen beherrschen zu können. Der Fetischdienst dient Hegel als dinglicher Beweis dafür, dass die Afrikaner noch zu keinerlei "Anschauung irgendeiner festen Objektivität" gekommen seien und dementsprechend nur den Menschen selbst als das Höchste setzen könnten. Als Symbol der reinen Willkür, die sich in ihm zur Selbstanschauung bringt, wird der Fetisch Hegel daher zum Schlüssel für eine Erklärung auch aller anderen, seiner Ansicht nach "charakteristischen" Züge der afrikanischen Gesellschaft, von der er ein abstoßendes Bild zeichnet. Da die Achtung des Menschen erst mit der Vorstellung eines außer ihm stehenden und von ihm unabhängigen Höheren entsteht, hat die Absolutsetzung des Selbst seiner Auffassung nach die "vollkommene Verachtung der Menschen" zur Folge. Der andere erscheint einem Selbst als wertlos, das keinen anderen Wert kennt als eben dieses eigene Selbst:

"Die Wertlosigkeit der Menschen geht ins Unglaubliche. Die Tyrannei gilt für kein Unrecht, und es ist als etwas ganz Verbreitetes und Erlaubtes betrachtet, Menschenfleisch zu essen. Bei uns hält der Instinkt davon ab, wenn man überhaupt beim Menschen vom Instinkte sprechen kann. Aber bei dem Neger ist dies nicht der Fall, und den Menschen zu verzehren, hängt mit dem afrikanischen Prinzip überhaupt zusammen – für den sinnlichen Neger ist das Menschenfleisch nur Sinnliches, Fleisch überhaupt. Bei dem Tode eines Königs werden wohl Hunderte geschlachtet und verzehrt, Gefangene werden gemordet und ihr Fleisch auf den Märkten verkauft. Der Sieger frisst in der Regel das Herz des getöteten Feindes."

Aus der Menschenverachtung ergibt sich nach Hegel außer der Unsitte des Kannibalismus noch ein weiteres, nicht weniger inhumanes Prinzip, nämlich der Despotismus, und zwar sowohl im häuslichen als auch im öffentlichen Bereich. In Afrika gebe es weder Familiensittlichkeit noch freie Gesetze, die den Zusammenhalt des Staates verbürgen. Die Könige herrschten allein durch Gewalt. Sie ließen sich ständig von ihren Scharfrichtern begleiten, um unliebsame Konkurrenten sofort aus dem Weg zu räumen. Ihr Despotismus erstrecke sich auch auf den Besitz. In einigen Reichen gehörten alle unverheirateten Mädchen dem Herrscher, von dem sie die Männer abkaufen müssten, und in anderen verfügten sie über das Privileg, sich alle Güter ihrer verstorbenen Untertanen aneignen zu dürfen. Diene das despotische Regime der Könige dem Zweck, die "sinnliche Rohheit" zu bändigen, so würden sie freilich auch selbst durch den "wilden Sinn" ihrer Untergebenen in Schranken gehalten. Seien diese nämlich mit ihrem Herrscher unzufrieden, so brächten sie ihn einfach um oder signalisierten ihm, dass er sich von seinen Frauen erdrosseln lassen solle.

Der geringe Wert, der dem Menschen zugeschrieben wird, erklärt nach Hegel schließlich auch die Institution der Sklaverei:

"Etwas anderes Charakteristisches in der Betrachtung der Neger ist die Sklaverei. Die Neger werden von den Europäern in die Sklaverei geführt und nach Amerika verkauft. Trotzdem ist ihr Los im eigenen Land fast noch schlimmer, wo ebenso absolute Sklaverei vorhanden ist. Denn es ist die Grundlage der Sklaverei überhaupt, dass der Mensch das Bewusstsein seiner Freiheit noch nicht hat und somit zu einer Sache, zu einem Wertlosen herabsinkt. Bei den Negern sind aber die sittlichen Empfindungen vollkommen schwach oder, besser gesagt, gar nicht vorhanden. Die Eltern verkaufen ihre Kinder und umgekehrt diese jene, je nachdem man einander habhaft werden kann. Durch das Durchgreifende der Sklaverei sind alle Bande sittlicher Achtung, die wir voneinander haben, geschwunden, und es fällt den Negern nicht ein, sich zuzumuten, was wir voneinander fordern dürfen. Die Polygamie der Neger hat häufig den Zweck, viele Kinder zu erzielen, die samt und sonders zu Sklaven verkauft werden können, und sehr oft hört man naive Klagen, wie z.B. die eines Negers in London, der darüber wehklagte, dass er nun ein ganz armer Mensch sei, weil er alle seine Verwandten bereits verkauft habe."

Fetischismus und Menschenfresserei, politische Tyrannei und häuslicher Despotismus ergeben zusammen das schaudererregende Bild des schwarzen Kontinents, das Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte entwirft. Alle diese Züge haben seiner Auffassung nach eine gemeinsame Grundlage. Sie gehen aus der "Wildheit", der "Unbändigkeit" und der "sinnlichen Rohheit" der Afrikaner hervor, die sich noch auf einer Stufe der Gattungsentwicklung befinden, in der "alle Allgemeinheit nur als Innerlichkeit der Willkür ist." Der Missachtung des menschlichen Lebens und dem entsetzlichen Brauch des Kannibalismus entspreche die blutige Schreckensherrschaft, mit der die afrikanischen Könige regierten, und diese finde ihr Gegenstück wiederum in der Gefühllosigkeit, mit der ein Familienvater seine Kinder in die Sklaverei verkaufe. Alle diese Züge aber kulminieren im Fetischismus, in dem die Willkür und Absolutsetzung des Selbst sich am sinnfälligsten zur Anschauung bringe.

Hegels Darstellung zeigt, wie unkritisch einer der größten Denker seiner Zeit den Gräuelberichten aufgesessen ist, die Missionare, Sklavenhändler und westindische Sklavenhalter über die Bewohner Afrikas verbreitet hatten. Hegel setzt die auf dem schwarzen Kontinent angeblich allenthalben herrschende "vollkommene Verachtung des Menschen" zum Fetischismus in Beziehung, den er dann auch als die spezifische Religionsform der noch ganz in einem Zustand ungebändigter Affekte lebenden Afrikaner ansieht. Lediglich einmal, und zwar in seiner Religionsphilosophie, zieht er eher zögerlich eine Parallele zum katholischen Reliquienkult, wenn er aus dem Bericht eines Kapuzinermönchs zitiert, der die einheimischen Zaubermittel der Afrikaner durch Reliquien ersetzt habe, um dadurch zu demonstrieren, dass die christliche Religion weit größere Macht besitze. Ansonsten aber dient Hegel die für Afrika angeblich so charakteristische Trias von Fetischismus, Kannibalismus und Despotie als ein wohlfeiles Argument zur Rechtfertigung des europäischen Kolonialismus, befänden sich die Afrikaner doch in einem Zustand, der "keiner Entwicklung und Bildung fähig [ist], und wie wir sie heute sehen, so sind sie immer gewesen." Für Hegel ist Afrika "kein geschichtlicher Weltteil", und mit einer gehörigen Portion Zynismus bemerkt er, dass "der einzige wesentliche Zusammenhang, den die Neger mit den Europäern gehabt haben und noch haben, der der Sklaverei [ist]." Lehnt Hegel die Sklaverei auch als Unrecht ab, so hält er sie doch in diesem spezifischen Fall für legitim, da "die Neger" in ihr "nichts ihnen Unangemessenes [sehen]", der Sklavenhandel ihre Könige dazu veranlasse, ihre Kriegsgefangenen und Untertanen an die Europäer zu verkaufen und "die Sklaverei insofern mehr Menschlichkeit unter den Negern geweckt" habe.

Als religiöser Ausdruck der Herrschaft der Willkür und der vollkommenen Menschenverachtung gerät der Fetischdienst in Hegels Geschichtsphilosophie zum Siegel für das "geschichtslose" und "unaufgeschlossene" Afrika, für jenes Kinderland, "das noch ganz im natürlichen Geist befangen ist und das hier bloß an der Schwelle der Weltgeschichte vorgeführt werden musste." Während Kant den Fetischismus universalisiert, möchte Hegel ihn wieder auf eine bestimmte geographische Region beschränkt wissen. Für ihn ist er eine "Sackgasse, in der sich – anderswo – die 'Neger' verrannt haben." Für ihn "schließt der Fetischismus einen ganzen Kontinent, nämlich Afrika, aus der Geschichte und ihrer notwendigen Entwicklung aus."

Dem ersten Blick nach haben Kants und Hegels Ausführungen über den Fetischismus nur wenig gemeinsam. Kant verwendet den Begriff des Fetischmachens, um mit seiner Hilfe gegen bestimmte Tendenzen innerhalb der Amtskirche anzukämpfen, die ihm als ein Rückfall hinter die lutherische Gnadenlehre erscheinen und einer vollständigen Ethisierung der Religion zuwiderlaufen. Für ihn befördern die statuarischen Gebote, Glaubensregeln und Observanzen der Kirche die Illusion, dass der Gläubige mit Hilfe natürlicher Mittel übernatürliche Wirkungen erzielen könne. Diese primitive und auf einem Trugschluss beruhende Einstellung müsste gattungsgeschichtlich eigentlich schon längst überwunden sein, doch ist die Gefahr ihrer Wiederkehr noch lange nicht gebannt, ist der Mensch doch, wie er in einem anderen Zusammenhang einmal bemerkt, "aus krummem Holz geschnitzt". Für Kant stellt das fetischistische Denken sowohl ein menschheitsgeschichtliches als auch ein psychisches Archaikum dar. Für Hegel ist der Fetischismus dagegen der Inbegriff der subjektiven Willkür. Zwar weist auch er ihm als einer Spielart der "Religion der Zauberei" seinen Platz in einem frühen Stadium der Gattungsgeschichte zu, die von Kant beschworene Gefahr einer Wiederkehr des fetischistischen Denkens selbst noch in den sublimsten Formen der Religion aber sieht er nicht. Der exzessive Fetischdienst mit all seinen negativen Begleiterscheinungen ist für ihn ein Sonderweg, der auf dem "schwarzen Kontinent" jede historische Weiterentwicklung verhindert hat. Für das in seiner Sittlichkeit, seiner Rechtlichkeit und seiner Staatlichkeit so viel weiter vorangeschrittene Europa hat er keinerlei Bedeutung mehr.

So unterschiedlich die Konzeptionen Kants und Hegels auch sind, so stimmen sie doch beide in ihrer negativen Bewertung des Fetischismus überein. Sie entzündet sich im einen wie im anderen Fall an der Äußerlichkeit der jeweils ins Auge gefassten religiösen Phänomene. Für Kant hält sich der kirchengläubige Christ an die äußerlichen Gebote und Observanzen, anstatt sich die Prinzipien der Sittlichkeit zu eigen zu machen. Für Hegel schafft sich der afrikanische Fetischdiener im Fetisch ein äußerliches Bild seiner selbst, das zugleich zum bevorzugten Objekt seiner eigenen Willkür wird. Und es ist ebendiese Selbstvergottung des Menschen, die die Anerkennung einer höheren Macht und mit ihr die Bildung von Sittlichkeit überhaupt verhindert. Kant wie Hegel stehen damit in der durch den Protestantismus erneuerten Tradition des alttestamentlichen Prophetismus, der zusammen mit dem Bilderkult und dem Opfer alle rein äußerlichen religiösen Handlungen verwarf und statt dessen zu einer Verinnerlichung der göttlichen Gebote aufrief. Deutlich wird dies freilich erst, wenn man ihre Verwerfung des Fetischismus mit dessen Rehabilitation durch Auguste Comte vergleicht, den in strengem katholischen Glauben erzogenen Begründer des französischen Positivismus.

May 26, 2010

Intellektuelle Vorhut der Gegenreformation


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 5, pt 6, pt 7

Die Kritik der Reformatoren
S. 66 ff.)
Einhalt geboten wurde dem immer extremer werdenden Reliquienkult erst mit der Reformation. Sie war in ihren Anfängen bekanntlich weniger eine volkstümliche Bewegung als vielmehr ein vom gelehrten Humanismus der Renaissance geprägter und von jüngeren Mitgliedern des Klerus getragener Versuch, zu den reinen Ursprüngen des Christentums zurückkehren. Die Berufung auf das Wort Gottes, wie es im Alten und Neuen Testament niedergelegt worden war, spielte dabei eine zentrale Rolle. Durch die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Glaubens sollte eine grundsätzliche renovatio ecclesiae herbeigeführt werden. Das Christentum von seinen weltlichen Überformungen und Auswüchsen zu befreien, war ein erklärtes Ziel der geistigen Führer dieser im Grunde fundamentalistischen Bewegung. Zu diesen Auswüchsen zählte nach Ansicht Melanchthons, Luthers, Zwinglis und Calvins nicht nur der politische und ökonomische Missbrauch, den das geistige Oberhaupt der Kirche in Rom mit der christlichen Religion betrieben hatte, sondern auch die Wiederkehr heidnischer Kultformen im christlichen Gewand. [...]

So üppig der Heiligenkult ins Kraut geschossen war, so radikal gestaltete sich nun seine Ablehnung. Im Deutschen Reich, in den Niederlanden, in Frankreich und in der Schweiz setzten die großen Bilderstürme ein, denen zahlreiche Kunstschätze zum Opfer fielen. Unter der kurzen Herrschaft der Wiedertäufer wurden in Münster sämtliche Bilder, Heiligenstatuen, Kruzifixe und Messgeräte aus den Kirchen entfernt, man schlug die bemalten Kirchenfenster ein, brach die Reliquienbehälter auf, warf die Knochen auf den Boden und zertrampelte sie mit den Füßen. [...]
Zwingli ließ im Großmünster von Zürich alle Kruzifixe, Altartafeln und Heiligenbilder abhängen, die Gräber der Stadtheiligen öffnen und selbst die steinernen Altäre abbrechen. Calvin verordnete in Genf ähnliche Maßnahmen. Der Gottesdienst ging in den reformierten Kirchen vor kahlen, schmucklosen Wänden vor sich, und die Gemeindemitglieder mussten sich der strengen Kirchenzucht beugen. Der Puritanismus der Bilderstürmerei fand im Postulat einer reinen christlichen Lebensführung sein Gegenstück. In Genf waren unter Calvins Regime Theater, Tanz und Gesang verboten. Wer sich dem Glücksspiel hingab, leichtsinnige Reden schwang oder gar fluchte, wurde bestraft. Auf Ehebruch stand der Tod. Der Ablehnung jeder Verkörperung des Heiligen, die sich bis hin zur rein symbolischen Deutung des Abendmahls in der calvinistischen Transsubstantiationslehre erstreckte, entsprach die Forderung nach einer vollständigen Verinnerlichung des Glaubens. [...]

Im 16. Jh. war das Verhaftetsein in traditionellen Glaubenspraktiken noch zu stark, als dass sich die radikalen Maßnahmen und Vorstellungen der Reformatoren gleich hätten durchsetzen können. Nach ihren beachtlichen Anfangserfolgen gingen die alten kirchlichen Autoritäten zum Gegenangriff über. Die Epoche der Gegenreformation begann. Sie führte zur inneren Erneuerung der katholischen Kirche, deren schlimmste Missstände beseitigt wurden und die sich effiziente neue Organisationsformen gab. Im Bündnis mit zahlreichen Territorialfürsten setzte sie die Rekatholisierung der von Rom abgefallenen Bevölkerungsgruppen durch. Ignatius von Loyola gründete 1540 den Jesuitenorden, der dem Papst bedingungslosen Gehorsam schwor und zur intellektuellen Vorhut der Gegenreformation werden sollte. In ihrem Kampf gegen den Protestantismus setzte die Kirche zugleich auf die populären Formen der Volksfrömmigkeit. Heiligenverehrung und Reliquienkult blühten erneut auf. Der Bilderfeindlichkeit der reformierten Kirchen wurde die katholische Bilderpracht entgegengestellt. Die Reliquiare und Altäre waren prunkvoller denn je. Die Innenräume der Barockkirchen verwandelten sich in irdische Abbilder des himmlischen Paradieses.

Langfristig konnte freilich auch die katholische Kirche dem Rationalisierungsschub, den die Reformation ausgelöst hatte, und den neuen Denkformen, die sie hervorgebracht hatte, nicht entgehen. Anders als noch im 16. Jh. sollte sich der Widerstand gegen die altüberlieferten Formen der Religiosität jedoch nicht mehr innerhalb der Kirche selbst artikulieren. Ausgerechnet in Frankreich, dem Land, dessen Könige ihre damals in Europa einmalige Machtfülle dem rigorosen Kampf gegen den Protestantismus verdankt hatten, bildete sich eine Gruppe von unabhängigen Schriftstellern und Denkern heraus, deren Kritik nicht mehr nur dem einen oder anderen kirchlichen Missstand, sondern bald der Religion überhaupt galt. Die Philosophen des Rationalismus bereiteten den Weg. Die Aufklärer des 18. Jh. gingen ihn konsequent weiter. "Écrasez l'infâme" hieß das Motto, unter das Voltaire und seine Zeitgenossen ihren Kampf gegen die Kirche und deren "Aberglauben" stellen sollten. Im weiteren Verlauf dieser Entwicklung wurde auch die katholische Kirche zu Konzessionen gezwungen. Jenem Rationalisierungsprozess, den Max Weber so treffend als "Entzauberung der Welt" bezeichnet hatte, fiel mit "allen magischen Mitteln der Heilssuche" schließlich auch der Reliquienkult zum Opfer. Die katholische Kirche hat ihn zwar nie offiziell abgeschafft, seine einstige theologische Bedeutung als ein möglicher Weg zum Heil aber sollte er ab dem 19. Jh. gänzlich verlieren.

Die Erfindung des Fetischismus, Reiseberichte und frühe Religionskritik
S. 69 f.)
Die Nachrichten über außereuropäische Religionen, die seit der Entdeckung der Neuen Welt, der Umschiffung der afrikanischen Küste und den ersten Weltumsegelungen aus Amerika und Afrika, aus Indien, China und Japan nach Europa gelangt waren, wurden im Zeitalter des Rationalismus und der Frühaufklärung von den Philosophen begierig gelesen. Sie zeigten, zu welchen Verirrungen der menschliche Geist fähig war. Die Übereinstimmung bestimmter christlicher Kulturpraktiken mit den "lächerlichen Zeremonien" fremder Völker lag auf der Hand. Offensichtlich war hier wie dort derselbe "Aberglaube" am Werk. Doch waren nicht alle Religionen gleich unvernünftig. Einige schienen dem Christentum in dieser Hinsicht sogar überlegen. So konnte man etwa in den Abhandlungen der Jesuitenmissionare über die Religion der Chinesen Erstaunliches lesen. Die Jesuiten lobten ihre philosophischen Grundsätze und verglichen ihren Gründer sogar mit dem Apostel Paulus. Hatte Konfuzius den Chinesen nicht eine Religion gegeben, die ganz nach den Prinzipien der Vernunft gestaltet war und sie zu einer ethischen Lebensführung anhielt, so fragte sich Leibniz nach der Lektüre ihrer Berichte. Und er schloss die Überlegung an, ob es nicht sinnvoller sei, konfuzianische Missionare nach Europa zu holen, anstatt katholische Missionare nach China zu senden.

Aus anderen Weltgegenden wussten die Missionare Ähnliches zu berichten. Viele Religionen glichen sich darin, dass in ihrem Mittelpunkt die Verehrung eines Höchsten Wesens stand. Sie stimmten auch in anderen Grundzügen überein, ließen die Menschen an die Vergeltung ihrer bösen und guten Taten im Jenseits glauben und leiteten sie so zu sittlichem Verhalten an. [...] Unwillentlich lieferten die Missionare und Reisenden den Freigeistern ein ganzes Arsenal von Waffen für ihren Kampf gegen die Lehren der Kirche. In Aufnahme von Überlegungen, die schon in der frühchristlichen und scholastischen Theologie eine wichtige Rolle gespielt hatten, glaubten sie von einer "natürlichen" Religion aller Menschen ausgehen zu können, die auf keinem anderen Prinzip beruhte als dem der reinen Vernunft. Was die Philosophen des 17. und frühen 18. Jh. den Beschreibungen der Reisenden und Missionare entnehmen konnten, schien diese alte Auffassung nun durch eine Fülle neuer empirischer Beobachtungen zu belegen. Sie ließen sich als Beweismaterial für die vormalige Existenz einer solchen, einmal allen Menschen gemeinsamen "Naturreligion" deuten. Die religio naturalis, die aus wenigen angeborenen Grundwahrheiten bestand, wurde von den Frühaufklärern den historischen Offenbarungsreligionen entgegengestellt, die auf den betrügerischen Machenschaften der Priester beruhten und von Wunderglauben überwuchert waren.

S. 74 f.)
Nicht ewige Weisheiten, sondern Tiere hätten die Ägypter in ihren theriomorphen Göttern angebetet. Auch die Tiergestalten, in die sich Zeus und andere olympische Götter in den Mythen verwandelten, wiesen auf einen ursprünglich fetischistischen Kult hin. Selbst vor dem Alten Testament macht de Brosses nicht halt. Sorgfältig listet er aus den Patriarchenerzählungen, der Mose-Überlieferung, den Königschroniken und den prophetischen Büchern alle Hinweise auf die Verehrung von heiligen Steinen, geweihten Höhen und tiergestaltigen Idolen auf, und immer wieder zieht er Parallelen zu den Fetischkulten Westafrikas. [...] Von Interesse war der Fetischismus vor allem als eine Waffe im Kampf gegen die Religion. Es ist das Christentum selbst, dem mit seiner Hilfe ein Zerrspiegel vorgehalten werden kann. De Brosses hütet sich in seiner Abhandlung zwar davor, auch noch diese Parallele zu ziehen und etwa auf die Verwandtschaft des afrikanischen Fetischdienstes mit dem Heiligen- und Reliquienkult zu verweisen. Dass er allerdings auch ihn vor Augen hatte, geht aus einer kurzen Bemerkung im letzten Teil seines Buches hervor. Wir verehren einen Heiligen nicht deshalb – so führt er hier aus – weil wir auf unseren Prozessionen sein Bild vorantragen, vielmehr tragen wir sein Bild voran, weil wir ihn verehren.
De Brosses bekleidete ein wichtiges öffentliches Amt, und sich offen gegen das Christentum zu äußern, wäre für einen Notabeln im Frankreich des Jahres 1760 noch zu gefährlich gewesen. Doch wies er der späteren Radikalisierung der Religionskritik den Weg. De Brosses schlägt den Sack und meint den Esel. Er wendet sich mit seiner Fetischismustheorie gegen die allegorischen Deutungen der Religion, eine Allegorie aber war auch sein Fetischbegriff selbst. An den Afrikanern konnte man die Gebräuche als kindisch abtun, die im Christentum lächerlich zu machen die Zensur verbot.

S. 78 ff.)
Kant wendet sich in ihr explizit gegen alle bloß äußerlichen Formen des Gottesdienstes wie Glaubensregeln, Observanzen und statuarische Gesetze. Dass er in diesem Zusammenhang Büßungen, Kasteiungen und Wallfahrten als "Religionswahn" verwarf, mochte als protestantische Polemik gegen die im Katholizismus populären Glaubenspraktiken noch angehen. Wenn er allerdings der Kirche insgesamt vorwarf, dem Offenbarungsglauben vor dem moralischen Prinzip dem Vorzug zu geben und den Ritus zum Selbstzweck werden zu lassen, so ließ sich dies ebenso auch auf den Protestantismus beziehen. Tatsächlich brachte der Antiklerikalismus dieser Abhandlung ihrem damals fast siebzigjährigen Autor erhebliche Schwierigkeiten mit den preußischen Zensurbehörden ein und hätte fast zu einem Veröffentlichungsverbot geführt.

Kants strenger eigener Definition zufolge ist die Religion "die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote". Subjektiv könne sie sich daher nicht in irgendwelchen religiösen Handlungen realisieren, sondern allein in einem "guten", und das meint für Kant eben "moralischen" Lebenswandel. Darüber hinaus gebe es keine weiteren Pflichten gegen Gott, "denn Gott kann von uns nichts empfangen – wir können auf und für ihn nicht wirken." Doch selbst der "gute Lebenswandel" laufe noch Gefahr, zum bloßen "Afterdienst" zu werden. In dem provokantesten Abschnitt seiner Abhandlung, der den Titel "Vom Pfaffenthum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips" trägt, schreibt Kant daher: "Der Mensch nun, welcher Handlungen, die für sich selbst nichts Gott Wohlgefälliges (Moralisches) enthalten, doch als Mittel braucht, das göttliche unmittelbare Wohlgefallen an ihm und hiermit die Erfüllung seiner Wünsche zu erwerben, steht in dem Wahn des Besitzes einer Kunst, durch ganz natürliche Mittel eine übernatürliche Wirkung zuwege zu bringen. Dergleichen Versuche man das Zaubern zu nennen pflegt, welches Wort wir aber (da es den Nebenbegriff einer Gemeinschaft mit dem bösen Princip bei sich führt, dagegen jene Versuche doch auch als übrigens in guter moralischer Absicht aus Mißverstande unternommen gedacht werden könnten) gegen das sonst bekannte Wort des Fetischmachens austauschen wollen."

Kant bezeichnet hier als "Fetischmachen", was auch schon Luther an der Werkgerechtigkeit der katholischen Lehre kritisiert hatte: die Vorstellung nämlich, durch bestimmte Handlungen übernatürliche Wirkungen erzielen zu können. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter und weist diese Idee auch dort zurück, wo sie einer nur oberflächlichen Betrachtung von Moralregeln zugrunde liegt. Wer annähme, sich auf diesem Weg das Wohlgefallen Gottes erkaufen zu können, begebe sich auf eine Stufe mit dem heidnischen Fetischdiener. Kants Auffassung nach kann der wahre Gottesdienst nur in einer sittlichen Lebensführung bestehen, die aus sich selbst heraus motiviert ist, die im eigentlichen Sinn uneigennützig ist und die gerade nicht auf eine wie auch immer geartete Belohnung hofft. Worum es der Kantischen Religionsphilosophie im Prinzip geht, das ist wesentlich eine Verinnerlichung aller moralischen Gebote, der gegenüber jede bloß zweckdienliche religiöse Handlung als ein Rückfall in fetischistische Glaubensformen erscheint. Aus demselben Grund verwirft er auch alle "Formeln der Anrufung", "Bekenntnisse eines Lohnglaubens" und "kirchliche Observanzen" als untaugliche Versuche, den "Beistand der Gottheit gleichsam herbeizaubern zu können". In diesem Sinn heißt es daher noch einmal in aller Deutlichkeit: "Wer also die Beobachtung statuarischer einer Offenbarung bedürfender Gesetze als zur Religion notwendig und zwar nicht bloß als Mittel für die moralische Gesinnung, sondern als die objektive Bedingung, Gott dadurch unmittelbar wohlgefällig zu werden, voranschickt und diesem Geschichtsglauben die Bestrebung zum guten Lebenswandel nachsetzt (anstatt dass die erstere als etwas, was nur bedingterweise Gott wohlgefällig sein kann, sich nach dem letzteren, was ihm allein schlechthin wohlgefällt, richten muss), der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht."
Doch seien es gerade die Kleriker und die Kirche, die diese Neigung förderten. Indem sie dem Gläubigen Gehorsam und Unterwerfung abverlangten, verhinderten sie, dass er selbst zu dem freien Entschluss gelange, den sittlichen Prinzipien zu folgen: "Das Pfaffentum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statuarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben ausmachen. Nun gibt es zwar manche Kirchenformen, in denen das Fetischmachen so mannigfaltig und mechanisch ist, dass es beinahe alle Moralität, mithin auch Religion zu verdrängen und ihre Stelle vertreten zu sollen scheint und so ans Heidentum sehr nahe angrenzt. Allein auf das Mehr oder Weniger kommt es hier nicht eben an, wo der Wert oder Unwert auf der Beschaffenheit des zuoberst verbindenden Prinzips beruht. Wenn dieses die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung als Frondienst, nicht aber die freie Huldigung auferlegt, die dem moralischen Gesetz zuoberst geleistet werden soll, so mögen der auferlegten Observanzen noch so wenig sein – genug, wenn sie für unbedingt notwendig erklärt werden – so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch den Gehorsam unter eine Kirche (nicht der Religion) ihrer moralischen Freiheit beraubt wird."

May 25, 2010

Den Kopf unterm Arm: Markt der Reliquien


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 4, pt 5, pt 6, pt 7
S. 52)
Der Religionswissenschaftler Friedrich Pfister hat in einem bereits 1930 veröffentlichten Artikel zwei Formen des Reliquienkultes unterschieden, die er als "animistisch" und "orendistisch" bezeichnete. Die von Pfister verwendete Terminologie orientierte sich am wissenschaftlichen Diskussionsstand seiner Zeit und mag daher heute etwas antiquiert wirken, doch trifft die mit ihrer Hilfe vorgenommene Unterscheidung die beiden mit der Reliquienverehrung verbundenen Vorstellungskomplexe recht gut. Der "animistische" Reliquienkult ist nach Pfister immer nur mittelbar. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Heilige in seinen sterblichen Überresten weiterhin präsent ist. Er beseelt sie gewissermaßen, ohne dass dabei seine Person ganz in ihnen aufgeht. Der Gläubige ist daher der Auffassung, dass der Heilige zum Handeln veranlasst werden kann, wenn er sich an ihn über seine Reliquie mit einer "Fürbitte" wendet. Der "orendistische" Reliquienkult ist dagegen unmittelbar. Er gilt nicht dem Heiligen, sondern den Reliquien selbst.
Er basiert auf der Vorstellung, dass im Heiligen zu dessen Lebzeiten eine mystische Kraft wirksam war, die seine irdischen Überreste auch noch nach seinem Tod erfüllt. In dieser Vorstellungsvariante dient die Reliquie nicht mehr der Vermittlung zwischen dem Gläubigen, der Person des Heiligen und Gott. Vielmehr geht in diesem Fall vom sakralen Objekt selbst die heiligende Wirkung aus. Mittels der ihr innewohnenden Kraft kann die Reliquie Wunder verrichten. Die irdischen Überreste von Heiligen besitzen oder sie auch nur zu berühren, ermöglicht dem Gläubigen überdies, an ihrer Kraft teilzuhaben.

In einem anderen Artikel führt Pfister als besonders illustratives Beispiel für diese Form des Reliquienkults die Verwendung von Heiligenschädeln als Trinkgefäße an, wie sie seit dem 6. Jahrhundert bezeugt ist. Dieser Brauch folgte der Vorstellung, dass die Kraft des Heiligen von seinem Schädel auf das Wasser und vom Wasser wiederum auf den Gläubigen übergeht. Dem Schädel ist im Volksglauben schon immer eine besondere Kraftfülle zugeschrieben worden. Die Beispiele für Schädelkulte aus den vorchristlichen Kulturen des Mittelmeerraumes und aus nicht-christlichen Kulturen sind zahlreich. Auch im christlichen Reliquienkult finden sich neben den Schädelbechern weitere Varianten des Schädelkults. Als besonders wirkmächtig galten die Köpfe Johannes des Täufers, des heiligen Jakobus, des heiligen Dionysius und anderer Märtyrer, die der Legende zufolge enthauptet worden waren. Meist wurden sie zu Heilzwecken gebraucht, wie zum Beispiel die in Würzburg aufbewahrte Schädeldecke des heiligen Makarius. Hatte jemand ein Kopfleiden oder auch nur gewöhnliche Kopfschmerzen, dann wurde er dadurch erlöst, dass er sich die Schädeldecke des Heiligen auf den Kopf legte.

("Doch der Reliquienkult mit seinem Wunderglauben blieb immer Teil der Volksreligiosität, obwohl er kritischen Theologen seit Mitte des 19. Jh.s zunehmend peinlich wurde. Moderne Theologen wollen eine Religion, die sich verbinden lässt mit der Aufklärung und ihrer Entzauberung der Welt. [...] Da wird der Kopf aus dem Schrein genommen und jeder kann sich den Kopf aufsetzen lassen, den Original-Schädel, der wird einem auf den Kopf gesetzt und dabei wird einem vom Priester versprochen, dass das also gut ist gegen Kopfweh und andere Geisteskrankheiten, und ich habe noch nie gehört, dass jemand, der mit dem Kopf in Berührung gekommen war, dass der später krank geworden sei. Dementsprechend habe ich mir auch den Kopf letztes Jahr aufsetzen lassen. Es war eine tolle Sache, die mich sehr bewegt hat. [...] Da auch durch Zerlegung der Knochen der Reliquienbedarf nicht zu decken war, kamen gewiefte Theologen auf eine Idee: Die Reliquienmultiplikation. Das ging so: Bleiben wir beim Kreuz und in Hildesheim: Hier gibt es heiliges Öl vom Kreuz: Olivenöl wird zur Reliquie, wenn es mit dem echten Kreuzesholz in Berührung gekommen ist. Ein Stück Baumwollstoff wird zur Reliquie, wenn man es eine Weile über den Schädel des Heiligen Dionysius legt. Öl und Stoff haben dann die gleiche "virtus" – also die gleiche Macht – wie das Original." Rolf Cantzen)

Es handelt sich bei diesen und zahlreichen anderen Bräuchen des Volksglaubens um klassische Fälle einer Kombination von kontagiöser Kraftübertragung und sympathetischer Magie. Die mystische Kraft des Heiligen west in dessen Überresten fort. Durch Berührung wird sie auf den Kranken übertragen. Und nach dem Prinzip, dass nur Gleiches Gleiches heilen kann, dienen die einzelnen Körperteile des Heiligen dazu, die Leiden der entsprechenden Körperorgane zu lindern. Ähnliche Vorstellungskomplexe fanden sich nahezu überall, wo Reliquien zur Heilung von Krankheiten verwendet wurden. Dabei spielte oft auch die Legende des entsprechenden Heiligen eine Rolle. An die Reliquien des heiligen Rochus, der der Legende zufolge an der Pest erkrankt war, wandte man sich, wenn Seuchen drohten. Die Reliquien des heiligen Blasius, der zu seinen Lebzeiten ein Kind, das eine Gräte verschluckt hatte, vor dem Erstickungstod bewahrt haben sollte, wurden bei Hals- und Erkältungskrankheiten angerufen. Reliquien von Märtyrerinnen, die als Jungfrauen gestorben waren, wurden von schwangeren Frauen in ihren Gürtel gelegt, um auf diese Weise das ungeborene Kind zu schützen. In der Hoffnung, durch die bloße Berührung mit den sterblichen Überresten von Heiligen von ihren Gebrechen geheilt zu werden, unternahmen Kranke mühevolle Pilgerfahrten zu den Wallfahrtsorten, deren Heiligenreliquien als besonders wundertätig galten. Und wer immer sich dies leisten konnte, versuchte, sich kleinere Reliquien zu verschaffen, die er in ein Amulett fassen ließ und als Schutzmittel ständig bei sich trug.

Doch nicht nur einzelne Gläubige erwarteten sich von den Reliquien die Abwendung von Gefahren, auch Dörfer und Städte stellten sich unter ihren Schutz. Weit verbreitet war der Glaube, dass sie der Abwehr von Epidemien, Missernten, Viehseuchen und von anderen Naturkatastrophen dienten, die Gemeinde vor feindlichen Überfällen und selbst vor der Ausbeutung durch den eigenen Feudalherrn schützten. Von bestimmten Reliquien nahm man sogar an, dass von ihnen die Wohlfahrt ganzer Königreiche abhinge.
Als Königin Mathilde, die Ehefrau Heinrich V., nach dessen Tod in ihr Geburtsland England zurückkehrte, führte sie auch die Hand des Heiligen Jakobus mit sich. Ein zeitgenössischer Chronist beklagte den "unersetzlichen Schaden", der dem Reich der Franken durch diesen Verlust widerfahren sei. Die Versuche Friedrich Barbarossas, die Rückgabe der Reliquie zu erlangen, schlugen allerdings fehl. Sie blieb in England, wo sie als eine Art Nationalheiligtum verehrt wurde. Im Deutschen Reich nahm die Heilige Lanze des Longinus, die Heinrich I. für seine Reliquiensammlung hatte erwerben können, eine ähnliche Sonderstellung ein. Wie die alten Israeliten die Bundeslade, trugen die kaiserlichen Heere Ottos I. auf ihren Feldzügen das Leidenswerkzeug Christi als Banner voran.
Die schützende Wirkung von Reliquien wurde als um so wichtiger erachtet, je unsicherer die politischen Zustände waren. In Zeiten schwacher Zentralregierungen scheint die Reliquienverehrung geradezu sprunghaft zugenommen zu haben.
Und sie verlor an Bedeutung, wenn die politischen Verhältnisse über längere Zeit stabil blieben und man auf einen starken Herrscher rechnen konnte.
Ähnlich wie die Fetissos an der westafrikanischen Küste dienten die sterblichen Überreste der Heiligen auch als Zeugen bei Vertragsabschlüssen. Man legte auf die Reliquien einen Eid ab und glaubte, dass sie über die Einhaltung der Abmachungen wachen würden. In dem Ausdruck, etwas "auf Stein und Bein" zu beschwören, hat sich die deutsche Sprache die Erinnerung an diesen Brauch bis heute bewahrt.

S. 60)
Ein weit besserer und auch sicherer Weg, in den Besitz einer Heiligenreliquie zu gelangen, war die Schenkung. Die Echtheit wurde in einem solchen Fall zwar durch die eindeutige Herkunft der Reliquie verbürgt, doch war die Schenkung dafür mit einem anderen Nachteil verknüpft. Nach Marcel Mauss' klassischer Theorie schafft die Annahme einer Gabe immer auch die Pflicht zur Erwiderung. Je größer der Wert des Geschenkes ist, desto größer sind auch die Obligationen, die der Empfänger der Gabe eingeht. In diesem Sinne wurde die Schenkung von Reliquien im Mittelalter oft systematisch dazu eingesetzt, Abhängigkeiten und Verpflichtungen zu schaffen. Die meisten und bedeutendsten Märtyrer waren bekanntlich in Rom gestorben. Doch konnte man ihre irdischen Überreste im Handel kaum mehr erwerben, nachdem die Päpste ihre Ausfuhr mit einem Verbot belegt hatten. Allerdings stand es ihnen selbst frei, sie an Könige und Mitglieder des Hochadels zu verschenken. Der Heilige Stuhl nutzte daher den Reichtum der Katakomben und Friedhöfe Roms – wahre "Steinbrüche, aus denen Überreste von Heiligen in großer Zahl zutage gefördert wurden" – um sich die Beschenkten zu verpflichten und seinen politischen Einflussbereich zu erweitern. Die Könige taten es den Päpsten bald nach. Sie sicherten sich die Loyalität der großen Fürsten ihres Reiches, indem sie diese mit Reliquien aus ihren eigenen Sammlungen beschenkten. Auch förderten sie den Kult von Lokalheiligen und deren Reliquien, um das römische Monopol zu brechen. Dass die Päpste seit Ende des 10. Jahrhunderts das Recht der Heiligsprechung für sich beanspruchten, war daher sicher auch eine Reaktion auf die Politik, die ihre königlichen und fürstlichen Widersacher mit dem Reliquienkult trieben.

S. 62)
Neben Gabentausch, Diebstahl und Raub gab es noch einen weiteren Weg, in den Besitz von echten Reliquien zu gelangen. Aus heutiger Sicht mutet er eher grauenhaft an, bestand er doch schlicht aus Leichenfledderei. Der bekannteste Fall ereignete sich nach dem Tod von Elisabeth von Thüringen, die wegen ihrer vielen guten Tagen schon zu ihren Lebzeiten als Heilige verehrt worden war. Als sie am 17. November 1231 starb und in der Hospitalkirche zu Marburg aufgebahrt wurde, sollen zeitgenössischen Berichten zufolge die Gläubigen über ihren Leichnam regelrecht hergefallen sein, ihre Haare, ihre Ohren, ihre Finger, und ihre Brustwarzen abgeschnitten haben. Selbst das Totenhemd ließ man ihr nicht. Fünf Jahre später erfolgte unter Anwesenheit Kaiser Friedrichs II. die feierliche Graberhebung, bei der ihr Haupt vom Leib getrennt und in ein kostbares Reliquiar gelegt wurde. Die Knochen der heiligen Elisabeth, ihre Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände waren bereits nach wenigen Dezennien in zahlreichen Kirchen und fürstlichen Sammlungen zu finden.
Thomas von Aquin wiederfuhr ein ähnliches Schicksal. Aus Angst davor, von den kostbaren Überresten eines Mannes, der ebenfalls bereits zu seinen Lebzeiten im Geruch eines Heiligen gestanden hatte, auch nur einen Teil zu verlieren, haben die Mönche von Fossanova den Leichnam des großen Gelehrten regelrecht eingemacht, nachdem er 1274 in ihrem Kloster verschieden war. Sie trennten den Kopf vom Leib, lösten die Knochen heraus und präparierten das Fleisch ...
Weit schlimmer noch als die heilige Elisabeth oder Thomas von Aquin aber traf es den Eremiten Romuald (952-1027). Nach der Gründung eines eigenen Ordens hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebte in den umbrischen Bergen in der Nähe eines Dorfes. Als bekannt wurde, dass er die Absicht hatte, die Gegend zu verlassen, fürchteten die Bewohner, nicht nur den Heiligen sondern auch dessen wertvolle sterbliche Überreste zu verlieren. Sie taten sich zusammen und beschlossen, ihn gemeinsam zu ermorden.

Reliquiensammlungen und religiöser Enthusiasmus
S. 64 f.)
Der Heiligen- und Reliquienkult des Mittelalters kann ähnlich wie die Verstöße gegen das Bilderverbot in der Frühgeschichte der jüdischen Religion als ein volkstümlicher Protest gegen einen abstrakten und allzu fernen Gottesbegriff gedeutet werden. In sinnfälliger Weise gelangt in ihm nicht nur die Sehnsucht nach einer Verkörperung des Heiligen zum Ausdruck, sondern auch das Unbehagen an jenem Gefühl persönlicher Ohnmacht und Nichtigkeit, das eine Theologie erzeugen musste, die Gott in den Rang eines allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Wesens erhob. Die in ihren Reliquien präsent gedachten Heiligen stellten dagegen ein persönliches Gegenüber dar. Man konnte sich ihnen gläubig unterwerfen und man konnte mit ihnen rechten, man konnte sich ihrer bemächtigen und man konnte sie sogar bestrafen, wenn sie den eigenen Erwartungen nicht entsprachen.
Reliquienkulte waren populär. Sie wurden nicht nur im einfachen Volk geschätzt, sondern fanden auch unter den Adligen, den hohen Klerikern und den Königen ihre Anhänger. [...] Im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissance sollte er noch extremere Ausmaße annehmen. Die Verehrung von Reliquien wurde zur Manie, ihr Sammeln aber zu einer regelrechten Obsession.

Große Reliquiensammlungen hatte es auch schon im Hochmittelalter gegeben. Sie galten als Ausdruck der Frömmigkeit. Der persönliche Besitz von Reliquien gab emotionale Sicherheit. Er schützte vor irdischen Gefahren, er war eine Garantie für das künftige Seelenheil und bewahrte vor den Strafen der Hölle. Das Bedürfnis, sich mit einem ganzen Schutzwall sakraler Objekte zu umgeben, musste aber in einer Zeit noch zunehmen, in der die Menschen von verheerenden Pestepidemien heimgesucht wurden, die durch politische Unsicherheiten geprägt war, in der die Kirche eine schwere Krise durchlebte und in der sich die großen sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen der kommenden Epoche bereits ankündigten. Die Wiederentdeckung der antiken Religion mit ihrer Vielzahl von materiellen Verkörperungen des Numinosen trug ihren Teil dazu bei, dass in der Frührenaissance das Sammeln von Heiligenreliquien zu einer Leidenschaft wurde, der sich zahlreiche Fürsten, Kaufleute und Gelehrte hingaben.
In Deutschland war es Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen und Beschützer Martin Luthers, der wahrscheinlich die umfänglichste private Reliquiensammlung aller Zeiten zusammengetragen hatte. Eine Inventarliste aus dem Jahr 1520 zählt nicht weniger als 18.970 Einzelstücke auf. Zu ihr gehörte ebenfalls der Leichnam eines der Opfer des bethlehemitischen Kindermords. [...] Neue Wallfahrtsorte entstanden über Nacht, wenn das Gerücht von einer besonders wunderkräftigen Reliquie in Umlauf kam. Tausende von Pilgern machten sich auf den Weg. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts waren Wallfahrten zu einem Massenphänomen geworden. Die Teilnehmer versprachen sich von der Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten und der Berührung der Reliquien Ablass von ihren Sünden, tatsächlich aber waren sie Orte enormer religiöser Erregung. Die Gläubigen agierten vor den Heiligenstatuen wie Besessene, drehten sich in Verzückungen oder fielen mit Schaum vor dem Mund auf den Boden. Es ist für diesen Zeitraum von einer regelrechten Wallfahrtshysterie gesprochen worden.

May 24, 2010

Unter der Oberfläche des Christus-Synkretismus


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 3, pt 4, pt 5, pt 6, pt 7

Zur Geschichte des Bilderverbots im Christentum
S. 40)
Findet das Bilderverbot des jüdischen Monotheismus seine theologische Begründung darin, dass er sich zur "restlosen Transzendenz Gottes, seinem alles Vorstellen und Erkennen übersteigendes Sein außer Raum und Zeit bekennt", so steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens die Überzeugung von der Menschwerdung Gottes. In Jesus Christus, Gottes eingeborenem Sohn, ist nach der christlichen Trinitätslehre der Geist Fleisch geworden. Die bildliche Darstellung des sichtbar gewordenen Gottessohns, der sich in menschlicher Gestalt verkörpert hat, widerspricht daher nicht unbedingt der christlichen Dogmatik. Dennoch ist mit den Offenbarungsschriften der Hebräischen Bibel, die dem Christentum als Zeugnis des Alten Bundes gilt, in den ersten Jahrhunderten auch das Bilderverbot übernommen worden: "denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen" – so heißt es schon bei Paulus (1. Korinther 5:7).
Außerhalb Palästinas fanden sich die frühen Christen in einer ähnlichen Situation wie die alten Israeliten in Ägypten, Kanaan oder Babylon. Ob in Kleinasien und Nordafrika, in Syrien, Griechenland oder Rom, überall sahen sie sich mit den unterschiedlichsten Formen polytheistischer Kulte konfrontiert, deren "Götzendienerei" nicht nur den Judenchristen ein Greuel war. Auch in diesem Fall wurde die Berufung auf den allgegenwärtigen einen Gott, der sich in kein Bild fassen ließ, zu einem Mittel der Abgrenzung von einer feindlichen Außenwelt. Zugleich diente sie dem inneren Zusammenhalt der christlichen Gemeinden der frühen Kirche, die sich als das erneuerte und wahre Israel verstand.

S. 44)
In seiner bedeutenden, auch heute noch lesenswerten Studie über "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten" (Leipzig 1924) hat der protestantische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack das Christentum, wie es seit dem Ende des 3. Jahrhunderts Gestalt anzunehmen begann, als eine im Grunde "synkretistische Religion" bezeichnet. Es war der Synkretismus einer Universalreligion, der es erfolgreich gelungen war, Elemente unterschiedlichster Herkunft in sich aufzunehmen. Die Erlösungslehren und der Mysterienkult des Vorderen Orients, die ethischen Grundsätze der antiken Philosophie und die Institution eines streng hierarchisch gegliederten Priesterstandes wurden mit dem monotheistischen Erbe des Judentums verknüpft. Allen konkurrierenden Religionen des Mittelmeerraumes konnte das Christentum so allmählich den Boden entziehen. Und selbst im Kampf gegen den antiken Polytheismus, dem sich die ersten Märtyrer und die frühen Kirchenväter bis zur Selbstaufopferung verschrieben hatten, kam es schließlich zu Konzessionen.
Heilige und Nothelfer, also Halbgötter, dringen in die Kirche ein. Lokalkulte und lokale heilige Stätten werden gegründet. Die Gebiete des Lebens werden an Schutzgeister aufs Neue verteilt, die alten Götter ziehen ein, nur mit neuen Masken. Rauschende Jahresfeste werden gefeiert, Amulette und Sakramentalien, Reliquien und heilige Knochen werden begehrenswerte Gegenstände. Die Religion – einst als streng geistige jede Materialisierung verbietend und bekämpfend – materialisiert sich in jeder Beziehung. Sie hat die Welt und Natur getötet, nun aber beginnt sie sie wieder zu erwecken.

Das Erbe der antiken Heroen- und Totenkulte

Ähnlich wie die Bilderverehrung stellten auch die Märtyrerkulte der frühen Kirche nur eine christliche Spielart, ja eine Übernahme der in Griechenland, Kleinasien, Israel und Rom weitverbreiteten Toten- und Heroenkulte dar. Im antiken Griechenland hatte man die Heroen dort verehrt, wo ihre sterblichen Überreste bestattet worden waren. Ihre Grabmäler galten als Heiligtümer, in denen die halbgöttlichen Helden qua ihrer materiellen Substanz anwesend schienen. Auch die den olympischen Gottheiten geweihten Tempelanlagen hatten innerhalb des témenos, des umgrenzten heiligen Bezirks, oft noch eine zweite, chthonische Kultstätte, die der Verehrung eines dort begrabenen Lokalheros diente. Die Heroengräber waren Orte der Opferhandlungen der Mitglieder der jeweiligen Lokalgemeinden. Ein Tier wurde rituell geschlachtet und von den Kultteilnehmern gemeinsam verzehrt. Auch der etruskische und der römische Totenkult wiesen ganz ähnliche Formen auf. Die Angehörigen versammelten sich um das Grab des Verstorbenen zu einem gemeinsamen Mahl, an dem man auch den Toten teilnehmen ließ, indem man ihm Trankopfer darbrachte oder einen Teil der Speisen auf sein Grabmal legte.
Die antiken Zeremonialformen wurden in den frühchristlichen Märtyrerfesten übernommen. Am Todestag des Märtyrers fanden sich die Mitglieder der Gemeinde vor dessen Grab an, rezitierten die Geschichte des Heiligen, sangen und beteten und nahmen anschließend ein gemeinsames Mahl ein. Der Todestag des Märtyrers galt als sein eigentlicher Geburtstag, da er an diesem Tag nach der christlichen Lehre im Gegensatz zu den gewöhnlichen Verstorbenen, die sich noch vor dem Jüngsten Gericht zu verantworten hatten, direkt zu Gott eingegangen war.
Die Märtyrer hatten ein vorbildhaftes Leben in Christo geführt und sich schließlich selbst für den Glauben geopfert. Sie waren verehrungswürdig. Menschen anzubeten verbot der Glaube jedoch.

Die eigentliche Grundlage für den Kult, den man ihnen entgegenbrachte, war daher die Vorstellung ihrer unmittelbaren Nähe zu Gott. Sie gab eine auch theologisch akzeptable Begründung dafür ab, dass sich die Gläubigen an ihre Heiligen mit einem Gebet wenden konnten. Denn es waren lediglich "Fürbitten", die man an sie richtete. Ora pro nobis – "Bete für uns" – lautete die klassische Formel, mit der der jeweilige Heilige aufgefordert wurde, das Gebet an den allmächtigen Herrn und Gott weiterzuleiten. Heilige waren Vermittler zu Gott. Und die Wirksamkeit ihrer Vermittlerdienste wurde durch die Präsenz ihrer sterblichen Überreste garantiert. In den Augen der Gläubigen bewirkten die Reliquien, dass die Heiligen in ihren Grabstätten, auf welche Weise auch immer, anwesend waren. Eine ausgefeilte theologische Lehre, die auf dem Boden des jüdischen Eingottglaubens und Totengedenkens entstanden war, der polytheistische Heroenkult der Antike und ein magischer Vorstellungskomplex der zweifellos noch entschieden älter war, gingen im frühchristlichen Märtyrerkult eine synkretistische Verbindung ein. Das spirituelle Gedenken an die Blutzeugen des frühen Christentums fand in der Verehrung ihrer Reliquien sein materielles Gegenstück.

Als eine der vielen Übernahmen altüberlieferter Glaubensmuster und Ritualformen hatte der Märtyrerkult erheblich zum Erfolg der neuen Religion und zur Ausbreitung der Kirche beigetragen. Zum einen lieferten die Heiligenlegenden den frühen Christen die Helden, mit deren Kampf gegen das Heidentum sich der einzelne identifizieren konnte. Ihr Tod war nur eine scheinbare Niederlage, in Wirklichkeit aber ein Sieg, da er mit dem unmittelbaren Eingang in das Reich Gottes belohnt worden war. Zum anderen – und dies war wahrscheinlich entscheidender – bot der Märtyrer- neben dem Marien- und Apostelkult die Möglichkeit, unter der Oberfläche des christlichen Bekenntnisses an überlieferten religiösen Praktiken festzuhalten. Zahlreich sind die Fälle, in denen die Kulte, die älteren Lokalgottheiten gewidmet waren, mit denen christlicher Heiliger verschmolzen.

Reliquien und Altäre

Fast gleichzeitig mit der Lockerung des Verbots der Bilderverehrung hat sich seit Anfang des 3. Jahrhunderts der Brauch durchgesetzt, das Heilige Abendmahl – die zentrale kultische Handlung einer jeden christlichen Gemeinde – über der Grabstätte eines Heiligen zu feiern. Auch hier zeigt sich wiederum eine Parallele zu antiken Kultformen.In Griechenland wurden den olympischen Hochgöttern und den chthonischen Halbgöttern oft in denselben Tempelanlagen Opfer dargebracht. Beim frühchristlichen Herrenmahl wurden das Brot und der Wein der heiligen Wandlung auf einen Tisch gestellt, den man in Entsprechung zu antiken Opferfeiern zunächst mit dem griechischen Begriff thysiasthérion für Opferpodest und später mit dem aus dem Spätlateinischen altare abgeleiteten Wort "Altar" bezeichnete. Der Brauch, die Eucharistiefeier über einem Heiligengrab zu begehen, führte dazu, dass die ersten christlichen Kirchen über Märtyrergräbern errichtet wurden. Dabei achtete man darauf, dass der Abendmahlstisch immer mit den sterblichen Überresten des Heiligen in Verbindung blieb. Da aber nicht jede Kirche über einem Märtyrergrab erbaut werden konnte, ging man in diesen Fällen dazu über, die Gräber von Heiligen zu öffnen, ihre Gebeine in einer feierlichen Prozession zu ihrer neuen Ruhestätte zu überführen und entweder unter dem oder auch im Kirchenaltar selbst beizusetzen. Die Altäre wandelten seit dem 6. Jahrhundert ihre äußere Form. Ursprünglich einmal Tische aus Holz oder Stein, wurden sie zur Aufnahme der heiligen Gebeine als kastenförmige Würfel ausgeführt. Kleinere Heiligenreliquien wurden bisweilen auch in die sogenannte confessio gelegt, eine im Altar angebrachte Höhlung, die mit einem vergitterten Fenster versehen war, um den Gläubigen den Zugang zur Reliquie zu ermöglichen. Der Altar erhielt auf diese Weise nun selbst den Charakter eines Heiligengrabes. Einst nur ein gemeinsamer Esstisch, wurde er zum eigentlichen Mittelpunkt des Gemeindelebens: Platz der heiligen Wandlung, des Opfergedenkens und Reliquienbehälter in einem.

Bereits Ende des 6. Jahrhunderts scheint im Bereich der Westkirche kaum mehr eine Kirche ohne Reliquien gewesen zu sein. Jede Gemeinde drängte darauf, ihre eigenen Heiligenreliquien zu besitzen. Der fromme Wunsch wurde schließlich Gesetz. 787 fasste das Konzil von Nicäa den Beschluss, dass künftig jeder geweihte Altar Reliquien enthalten müsse. Zwischenzeitlich war es freilich zu einer Verknappung der Märtyrerleichen gekommen. Waren die frühen Blutzeugen Christi auch zahlreich, so verfügte doch nicht jede christliche Gemeinde über einen Heiligen, der in der Nähe ihres Wohnorts für den christlichen Glauben gestorben war. Auch hatte das Christentum seit seiner Erhebung in den Rang einer Staatsreligion kaum mehr neue Märtyrer hervorgebracht. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Sendboten des Glaubens, die bei der Erfüllung ihrer missionarischen Aufgaben ums Leben gekommen waren. Erst später sollte man dazu übergehen, auch besonders vorbildhafte Männer und Frauen, Kirchenväter, Eremiten, Asketen und andere Fromme in den Rang von Heiligen zu erheben. Andererseits hatte sich das Christentum immer schneller ausgebreitet. Allenthalben waren neue Kirchen errichtet worden. Der Bedarf an Märtyrerleichen nahm stetig zu, ihre Zahl aber blieb begrenzt. Eine mögliche und vor allem später häufig praktizierte Lösung des Problems bestand darin, dass man die Leichen der Heiligen zerstückelte und ihre Körperteile an die neugegründeten Gemeinden schickte. Im oströmischen Reich schon relativ früh üblich, blieb das Aufteilen der Märtyrerleichen im Westen und vor allem in Rom selbst bis in das 10. Jahrhundert hinein untersagt. Es galt als frevelhaft, kam aber dennoch hin und wieder vor.

Vielerorts versuchte man den Mangel dadurch zu beheben, dass man nach noch unbekannten Märtyrergräbern suchte. Dabei folgte man in der Regel übernatürlichen Hinweisen, die den Gemeindemitgliedern durch Träume oder Visionen eingegeben worden waren. Heiligenreliquien waren wertvoll, und die Versuchung, sich betrügerischer Manipulationen zu bedienen, dementsprechend groß. Um einem Missbrauch vorzubeugen, wurde daher seit dem frühen Mittelalter ein ganzer Katalog von Maßregeln entwickelt. Eine Grabstätte galt nur dann als echtes Heiligengrab, wenn sich bei dessen Entdeckung – der inventio – etwas Außergewöhnliches ereignet hatte, am besten ein Wunder. Der Leichnam des Heiligen sollte nach Möglichkeit kaum Spuren der Verwesung tragen, er sollte aussehen, als würde er eigentlich nur schlafen. Ein weiteres Indiz für die Authentizität eines Heiligengrabs war der "himmlische Wohlgeruch", den es bei seiner Öffnung ausströmte. Oft wird auch von einem Lichterschein berichtet, der den Sarg des Heiligen umgab. Ursprünglich bei der Aufdeckung verborgener Märtyrergräber entwickelt, wurden diese Indizien nach der Erweiterung des Kreises der Heiligen um hervorragende fromme Menschen als Beweis dafür angesehen, dass Personen, die schon zu ihren Lebzeiten im "Geruch der Heiligkeit" gestanden hatten, sich tatsächlich der besonderen Gnade Gottes erfreuten. Nach der Graböffnung folgten die ELevatio, die Erhebung und feierliche Ausstellung des Leichnams zur öffentlichen Verehrung, seine translatio, die in einer Prozession begangene festliche Überführung zu seinem neuen Aufbewahrungsort, und seine depositio oder Neubestattung in der Kirche. Diese zeremoniellen Akte, bei denen man weitere Wunder erwartete, wurden zum Gegenstand eines ganzen liturgischen Regelwerks. Da sie der Zustimmung des Bischofs oder anderer Autoritäten bedurfte, kamen sie einer faktischen Heiligsprechung gleich. Erst seit dem Hochmittelalter beanspruchten die Päpste das Vorrecht der Kanonisation der Heiligen für sich und entwickelten hierzu das in Teilen auch heute noch gültige juristische Verfahren.