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Institutionelle Kultur mit gemeinsamem Nenner



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 176-191) Der Antisemitismus – eine Geistlichkeit/Kultur des Hasses

Im Januar 1945 forderte der dt. Bischof Lorenz Jaeger (nicht zu verwechseln mit Lorenz Jäger) die Katholiken auf, sich weiterhin am Krieg Dtl.s gegen Demokratie und Kommunismus – "Liberalismus und Individualismus auf der einen, der Kollektivismus auf der anderen Seite" – zu beteiligen, und beides lasteten die katholische Kirche und die dt. katho. Kirche gern den Juden an. (Der Erzbischof wollte offenbar noch 1945 zu verstehen geben, dass der Nationalsozialismus der Demokratie vorzuziehen sei.)
Bischof Galen gestand in seiner ersten öffentlichen Äußerung nach Beginn der alliierten Besetzung zu Ostern 1945, dass sein Herz beim "Anblick der durchziehenden Truppen unserer Kriegsgegner" geblutet habe. So verständlich es ist, dass es einen traurig stimmt zu sehen, wie das eigene Land besetzt wird, war dies doch der "Gegner", den in rechtlichen Kategorien denkende Deutsche korrekt als Befreier Dtl.s vom Nationalsozialismus betrachteten.
Und Bischof Galen sagte eindeutig nicht, dass sein Herz wegen der ermordeten Juden geblutet habe.
Lewy kommt zu dem Schluss: Mit Ausnahme von Bischof Preysing "riefen alle deutschen Bischöfe die Gläubigen bis zur letzten Minute des Krieges zur Erfüllung ihrer Vaterlandspflicht auf. Wir dürfen annehmen, dass diese Haltung auf einem aufrichtigen Gefühl der Treue gegenüber ihrem Lande beruhte. Dass die Nationalsozialisten über Dtl. herrschten, die Kirche bedrängten und verfolgten und sich unaussprechlicher anderer Verbrechen schuldig gemacht hatten, änderte daran nichts." Er hätte hinzufügen können, dass es nichts daran änderte, weil die Bischöfe entweder die imperialistischen und apokalyptischen Ziele der Nationalsozialisten teilten oder weil die Verbrechen ihrer Landsleute einschließlich der Massenvernichtung der Juden in ihren Augen keine so schwerwiegenden Vergehen waren, dass sie es gerechtfertigt hätten, genau dem Krieg, der die Verbrechen ermöglichte, und dem Regime, das sie beging, ihre Hilfe und Unterstützung zu entziehen. Alles deutet darauf hin, dass es den dt. Bischöfen leicht fiel zu entscheiden, was ihnen wichtiger war: der Sieg eines Regimes, das von der übrigen Welt als zutiefst verbrecherisch betrachtet wurde, oder die Beendigung des Massenmords an den Juden.

[...] Der Antisemitismus – und dies gilt auch für andere Vorurteile – ist eine grundlose Ablehnung oder Feindseligkeit, die an sich schon eine ungerechte Diskriminierung darstellt.
Aus kirchlicher Sicht stellt er einen Verstoß gegen das 8. Gebot dar: "Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten", das nach kirchlicher Lehre in ein Verbot mündet: "Die Rücksicht auf den guten Ruf eines Menschen verbietet jede Haltung und jedes Wort, die ihn ungerechterweise schädigen könnten." Wenn Juden in einer zutiefst antisemitischen Kultur leben, leben sie in einer Kultur der Feindseligkeit, einer Kultur, die nicht nur unvermeidlich weitere ungerechte diskriminierende Akte nach sich zieht, sondern an sich schon, per definitionem, schädlich und diskriminierend ist. [...]

"Wer durch wahrheitswidrige Aussagen dem guten Ruf anderer schadet und zu Fehlurteilen über sie Anlass gibt," macht sich, wie die Kirche lehrt, der "Verleumdung" schuldig. "Verleumdung", heißt es weiter, "zerstört den guten Ruf und die Ehre des Nächsten. Nun ist aber die Ehre das gesellschaftliche Zeugnis für die Würde eines Menschen, und jeder besitzt das natürliche Recht auf die Ehre seines Namens, auf seinen guten Ruf und auf Achtung. [...]
Verleumdung verletzt somit die Tugenden der Gerechtigkeit und der Liebe."

(Katechismus §§ 2477, 2479, ferner 2. Mose 20:16. Im Judentum ist das Verbot, falsches Zeugnis abzulegen, das 9. Gebot. Für eine Verleumdung genügt es nach Ansicht der Kirche, dass die Äußerung, mit der jemand den guten Ruf eines anderen zerstört, unwahr ist – er muss nicht wissen, dass sie unwahr ist.
Die Kirche unterscheidet zwischen der Verleumdung und der Lüge, von der es heißt:
"Die Lüge ist der unmittelbarste Verstoß gegen die Wahrheit. Lügen heißt gegen die Wahrheit reden oder handeln, um jemanden zu täuschen," sie ist also eine Unwahrheit, die dem Sprecher bewusst ist.)
Der Antisemitismus, eine Kultur des Hasses, kursierte in den 30er und 40er Jahren des 20. Jh.s in der europäischen Politik und Gesellschaft, und er machte sich in den Fluren der Kirche breit, vom Petersdom bis hinab zur einfachsten Dorfkirche. Aus der christlichen Bibel und den kirchlichen Lehren abgeleitet, gehörte er wie selbstverständlich zum Weltbild der europäischen Katholiken. In vielen Ländern war es besonders für katholische Geistliche so gut wie unmöglich, nicht dem Antisemitismus ausgesetzt zu sein. Den Geistlichen war bewusst, dass er in der politischen Kultur weiter Teile Europas eine Schlüsselrolle spielte, dass er von Politikern, weltlichen wie kirchlichen, verbreitet wurde. [...]
Der Antisemitismus war in jener Zeit der gemeinsame Nenner der institutionellen Kultur der katholischen Kirche – damals war es in der Tat schwer, katholischer Priester und nicht zugleich Antisemit zu sein [...]


Die höchste sittliche Macht auf Erden und der Holocaust


Dem moralischen Tadel, den viele katholische Bischöfe und Priester sich durch die Unterstützung von Tyrannei und Antisemitismus zuzogen, entspricht politischer Tadel für ihr politisches Wirken zu Gunsten der Tyrannei und der Verbreitung von Antisemitismus. Dabei trägt niemand eine größere Bürde als die beiden Päpste Pius XI. und Pius XII. (als vatikanischer Staatssekretär), denn sie begrüßten die Machtübernahme der Nationalsozialisten, die die Zerstörung der von ihnen durchweg verachteten demokratischen Institutionen einleitete.
Ihr Konkordat verlieh dem von Hitler geführten NS-Regime schon früh politische Legitimität.
Damit wurden sie und die Kirche, für die sie sprachen, in den 30er Jahren (bis einigen dann die Augen aufgingen) zu einer wichtigen Stütze des Regimes. 1937 prahlte Kardinal Faulhaber in einer Predigt, dass die Kirche dem Nationalsozialismus mit ihrem Konkordat sehr geholfen habe:

"Zu einer Zeit, da die Oberhäupter der Weltreiche in kühler Reserve und mehr oder minder voll Misstrauen dem neuen Deutschen Reich gegenüberstehen, hat die katholische Kirche, die höchste sittliche Macht auf Erden, mit dem Konkordat der neuen deutschen Regierung ihr Vertrauen ausgesprochen. Für das Ansehen der neuen Regierung im Ausland war das eine Tat von unschätzbarer Tragweite."

Den Katholiken beizubringen, dass alle Juden schuldig seien, Jesus gekreuzigt zu haben – wohl der verheerendste antisemitische Vorwurf, der jemals geäußert wurde – war offizielle Politik der katholischen Kirche. Antisemitischer Hass und Feindseligkeit waren in der Lehre, der Theologie und der Liturgie der katholischen Kirche fest verankert und wurden alljährlich, allwöchentlich und täglich in größeren und kleineren Dosen an Katholiken nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa weitergegeben, wobei die heißeste Phase der antisemitischen Hetze natürlich in die Karwoche fiel, die Woche vor Ostern, in der sich der kirchliche Zorn offen gegen die in der Liturgie als "heimtückisch" bezeichneten Juden richtete, weil sie angeblich Jesus getötet hatten.
(Berühmtestes und theatralischstes Beispiel dafür waren die Passionsspiele von Oberammergau. Zum anhaltenden Antisemitismus in diesen Spielen siehe Leonard Swidler, "The Passion of the Jew Jesus. Recommended Changes in the Oberammergau Passion Play After 1984", 1999 hgg.v.d. Anti-Defamation League of B'nai Brith.)


"Wisst ihr, wer der Teufel ist?"


Die Nationalsozialisten fanden durch die Lehren der Kirche den Boden so fruchtbar bereitet vor, dass sie sich zwanglos und gewohnheitsmäßig christlicher antisemitischer Motive bedienten, um ihren eigenen Antisemitismus politisch wie kulturell leichter verbreiten und verstärken zu können.
Julius Streicher z.B. ("Seit März 1933 leitete er das 'Zentralkomitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze', das die Boykottmaßnahmen gegen jüdische Unternehmen, Rechtsanwälte und Ärzte vom 1. April 1933 koordinierte.") aktivierte 1936 in einer Weihnachtsansprache vor zweitausend Kindern in Nürnberg mühelos die christlichen Kenntnisse, die die Kinder schon hatten:

"Er fragt seine atemlos lauschenden Zuhörer: 'Wisst ihr, wer der Teufel ist?'

'Der Jud, der Jud,' so schallte es ihm aus tausend Kinderkehlen entgegen."
(IMG, Bd. 5, Dokument M-44, S. 128.)

Solche katechetischen Rituale zwischen NS-Lehrern und ihren bereits gut geschulten katholischen (und protestantischen) Schülern bildeten einen steten Strom. Ergänzt wurden sie durch Schilder, die in Großstädten, am Ortseingang von Kleinstädten und sogar auf dem flachen Land zu finden waren und die Juden mit dem Teufel der Christen in Verbindung brachten. Ein Jahr zuvor zog Streicher ein bei den Nationalsozialisten sehr beliebtes und häufig benutztes christliches Bild heran, als er erklärte: "Ein einziges Volk blieb in diesem furchtbaren Krieg Sieger, ein Volk, von dem Christus sagte, sein Vater sei der Teufel." Streicher kannte wie Millionen und Abermillionen in Deutschland und ganz Europa seine christliche Bibel und erinnerte hier an die berühmte Anschuldigung aus dem Johannes-Evangelium, die Juden wollten Jesus töten. Johannes lässt Jesus sagen:

"Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an, und er steht nicht in der Wahrheit. Denn es ist keine Wahrheit in ihm."

Die Juden mit dem Teufel der christlichen Vorstellungswelt gleichzusetzen war eines der gängigen Klischees von Streichers Wochenblatt Der Stürmer. Auf seinem Höhepunkt hatte Der Stürmer eine Auflage von 500.000 Exemplaren. Seine Leserschar aber war weit größer, weil er überall in Dtl. in Schaukästen ausgehängt wurde, sei es an Straßenbahnhaltestellen, Straßenkreuzungen, in Betriebskantinen oder an anderen Stellen, wo Menschen zusammenkamen. Streicher war einer der besessensten Antisemiten, den die Nationalsozialisten zu bieten hatten. Dank der Schulung durch Katholiken wie Protestanten war seine Anhängerschaft in Nürnberg und in ganz Dtl. in diesem wie in vielen weiteren antisemitischen Punkten mit ihm einig.

[...] wäre es absurd zu behaupten, die Nationalsozialisten hätten ihren Antisemitismus aus dem Nichts erdacht, oder ihre Millionen und Abermillionen zählenden eifrigen antisemitischen Anhänger hätten sich auf Gedeih und Verderb den entmenschlichenden NS-Gewaltmaßnahmen, die sich aus diesem unsinnigen, gespenstischen Vorurteil ergaben, verschrieben, wenn die katholische Kirche nicht zuvor die deutsche und europäische Kultur weitgehend mit Antisemitismus vergiftet hätte.
Kardinal Edward Cassidy, der Vorsitzende der Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden am Heiligen Stuhl, wusste, wovon er sprach, als er vor führenden jüdischen Persönlichkeiten 1998 in Washington mit dem Finger auf die katholische Kirche zeigte, indem er erklärte,

"das Ghetto, 1555 durch eine päpstliche Bulle ins Leben gerufen, wurde in NS-Deutschland zum Vorzimmer der Ausrottung."

Ebenso absurd wäre es zu meinen, die während der NS-Zeit fortgesetzte Verbreitung des Antisemitismus durch die Kirche habe nicht quer durch Europa die allgemeine Zustimmung zur eliminatorischen Verfolgung der Juden befördert. Hätten die beiden Päpste, die Kirchenführer und der niedere Klerus ihre Kanzeln und ihre zahlreichen Zeitungen und Diözesanblätter mit ihrem riesigen, treuen Leserkreis in Dtl. und Europa dazu genutzt, den Antisemitismus zu einem bösartigen Irrtum zu erklären und die Verfolgung der Juden als ein schweres Verbrechen und eine Sünde anzuprangern – die politische Geschichte Europas wäre anders verlaufen, und die Juden hätte ein weit besseres Schicksal ereilt.
Doch dazu kam es nicht. Pius XI. und Pius XII. waren Antisemiten. Sie waren anfällig für Hirngespinste und Verleumdungen über Juden, wie sie fast von den Nationalsozialisten hätten stammen können. Pius XI. lieferte dafür mit seinen Berichten aus Polen 1918 den Beweis, Pius XII. mit seinem Brief über den kommunistischen Aufstand 1919 in München. Die Billigung und Duldung, die sie Civiltà cattolica und anderen, von ihnen beaufsichtigten kirchlichen Publikationen mit ihren aufwieglerischen antisemitischen Schmähungen und Anschuldigungen gewährten, ließ auch in der NS-Zeit nicht nach.
Katholische Bischöfe und Priester in Dtl. und überall in Europa waren ebenfalls Antisemiten. Selbst die unterschlagene Enzyklika Pius' XI, die gegen die außergewöhnlich brutale Verfolgung der Juden durch die Deutschen Einspruch erhob, strotzt vor furchteinflößendem Antisemitismus. Die beiden Päpste, ihre Bischöfe und Priester hatten sich das Bild zu eigen gemacht, das ihre antisemitische Kirche von den Juden hatte, mitsamt der Feindseligkeit und der abschätzigen Redeweise über Juden.


Eine Drei-Falten-Synchronität – A Trinity Synchronicity


Die Wahrscheinlichkeit, dass die Päpste und der Klerus gleichermaßen zum Nachteil der Juden handeln würden, war besonders groß, weil sie, ähnlich der NS-Führung und vielen Deutschen,
1. den Kommunismus mit Juden gleichsetzten,
2. den Kommunismus als ihren größten Feind betrachteten und
3. den apokalyptischen Krieg der Deutschen gegen den Kommunismus in Verbindung mit einem Vernichtungskrieg gegen die Juden als einen Kampf gegen ihren gemeinsamen Widersacher, den jüdischen Bolschewismus, auffassten.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass eine beträchtliche Zahl von Geistlichen den Massenmord selbst vielleicht abgelehnt hat. Diese verhängnisvolle Gleichsetzung der Juden mit dem Bolschewismus war praktisch die offizielle Position jener nationalen Kirche, der politisch das größte Gewicht zukam und die, vielleicht mit Ausnahme der italienischen Kirche, Pius XII. am meisten am Herzen lag: der deutschen Kirche.
Die Ansichten der katholischen Geistlichen in Dtl. über die Natur der zeitgenössischen Juden hatten mit denen der Nationalsozialisten vieles gemeinsam. Die Geistlichen sahen in den Juden ein schädliches und übelwollendes Volk, die Quelle vieler der Übel, von denen Dtl. vor Hitlers Machtübernahme heimgesucht worden war.
Juden waren ihrer Ansicht nach die Urheber und Anstifter jener Entwicklungen in der modernen Welt, die ihrer Meinung nach dem Katholizismus, ja sogar dem Wohl von Gesellschaft und Religion abträglich waren. Die Juden propagierten angeblich sittliche Zügellosigkeit, predigten Unglauben, verhöhnten geheiligte Traditionen, saugten die Christen wirtschaftlich aus, zerstörten die Solidarität von Nationen und Gemeinden und förderten die Dekadenz, die moderne Kunst eingeschlossen.


Asiatischer Staatsdespotismus und dt. Ultramontanismus


Am destruktivsten von all dem vermeintlich bösartigen Treiben der Juden wirkte sich deren angeblich führende Rolle in der bolschewistischen Bewegung aus. Die Juden wurden als die ausschlaggebende Kraft betrachtet, die hinter dem Bolschewismus steckte, die verborgenen "Drahtzieher". Die Ansicht, die Juden seien die Urheber und Triebfeder des Bolschewismus, war damals der stärkste Antrieb für die Feindseligkeit des katho. Klerus gegen die Juden und für seine Unterstützung der NS-Maßnahmen gegen sie, die erst vor offenem Mord Halt machte.
Sie sahen in den Juden den Spiritus Rector der gefährlichsten politischen Bewegung, mit der es die katholische Kirche in ihrer ganzen Geschichte je zu tun hatte.
Der Bolschewismus galt als eine "satanische" Kraft, die darauf aus war, nicht nur die ganze Christenheit, sondern die europäische Zivilisation als solche zu vernichten.
Das autoritative "Handbuch der religiösen Gegenwartsfragen" der dt. katho. Kirche, 1937 verfasst, definierte den Bolschewismus als "Geisteshaltung [...] im Dienst [...] eines asiatischen Staatsdespotismus". Wer steckte dahinter? "Praktisch", erklärten die dt. Bischöfe in ihrem Handbuch, von ihnen gedacht als Leitfaden zur Aufklärung "in den eigenen von Verwirrung bedrohten Reihen [der Kirche]," stand der Bolschewismus "im Dienst einer Gruppe jüdisch geleiteter Terroristen". Den Zusammenstoß mit dem Bolschewismus stellte die dt. Kirche geradezu apokalyptisch dar. Der Kampf gegen den Bolschewismus war ein moderner Kreuzzug. Angeblich hauptsächlich von Juden angeführt, bedrohte der Bolschewismus alle Völker der Welt.
Man war Zeuge eines titanischen Ringens um die Zukunft der Menschheit. Zustimmend zitiert das Handbuch Hitler, der den Zusammenstoß mit dem Bolschewismus zum Kampf zwischen europäischer Kultur und asiatischer Unkultur erklärte. Gegen jene, die diese satanische Bewegung anführten, förderten und trugen, waren auf jeden Fall die härtesten Maßnahmen zulässig.

In den Dokumenten der dt. katho. Kirche aus der NS-Zeit findet man kaum eine Meinung, die von diesen herrschenden Ansichten über die Schädlichkeit und Schuld der Juden abwiche, nicht einmal in ihren bekannt gewordenen internen vertraulichen Diskussionen und Mitteilungen. [...] selten treffen wir in den Reihen des Klerus auf die Einsicht, dass das ganze System von Ansichten über die Juden ein Gespinst aus bösartigen Täuschungen sei. Selten begegnen wir einer Meinung wie der von Sebastian Haffner, einem kompromisslosen Gegner der Nationalsozialisten, der 1939 schrieb, die Behauptungen der Nationalsozialisten über die Juden seien "so unverblümter Nonsens, dass es eine Selbsterniedrigung bedeutet, sie auch nur bekämpfend zu diskutieren."
Was ein nüchterner, klarsichtiger, nichtantisemitischer Deutscher als ein Gewebe aus verächtlichem Unsinn durchschaute, galt katholischen Geistlichen und Theologen, gelehrten Repräsentanten der christlichen Religion, als axiomatische Wahrheit.

Die Auffassung der dt. katho. Kirche von den Juden wich nur in einer wichtigen Hinsicht von jener der Nationalsozialisten ab, nämlich in der Ansicht darüber, woher der angebliche jüdische Hang, Böses zu tun, rührt. Laut Rassenlehre der Nationalsozialisten war das Böse bei den Juden ein Teil ihrer körperlichen Veranlagung, es entsprang einem angeborenen Trieb, vergleichbar dem, der Raubtiere und Mikroorganismen dazu bringt, auf Beute auszugehen und zu zerstören. Daher waren die Juden unverbesserlich. Man musste sie auf ewig einsperren oder töten.
Einen solch kruden Rassismus konnte die katholische Kirche auf Grund ihrer theologischen Doktrinen formal nicht billigen. Sie hielt an ihrer überkommenen Lehre fest, dass das Böse bei den Juden in ihrer vermeintlich obsolet gewordenen, schädlichen Religion, ihrer willentlichen Ablehnung Jesu wurzelte. Somit waren die Juden, zumindest grundsätzlich, zu erlösen. Man konnte sie durch Bekehrung bessern: das Wasser der Taufe würde sie reinwaschen.


Ein unentwirrbares ideologisches Knäuel


Obwohl der NS-Rassismus mit dem katholischen Glauben unvereinbar war, lehnte die deutsche Kirche ihn nicht rundheraus ab, denn ihre Geistlichen, die Bischöfe eingeschlossen, waren nicht frei von dem in ihrer Gesellschaft herrschenden rassistischen Denken. Daher äußerte sich die dt. Kirche in ihren amtlichen Erklärungen nicht eindeutig über den Rassismus, während sie an bestimmten Aspekten Positives fand, verwarf sie andere Elemente, die in direktem Widerspruch zum Wesen ihres Bekenntnisses standen.
Die dt. Bischöfe bekräftigten, dass die Rassen, aus denen sich die Menschheit zusammensetzt, mit unterschiedlichen Vorzügen und Eigenschaften ausgestattet seien, unausgesprochen verwarfen sie dagegen die NS-Lehre, der zufolge die Rassen eine Rangordnung bilden, mit höherwertigen Rassen an der Spitze und solchen auf der untersten Stufe, die dermaßen primitiv, ohne jeden moralischen oder geistigen Wert sind, dass man sie zu Untermenschen erklären kann. Die dt. katho. Kirche hielt an dem Grundsatz des Katholizismus fest, dass vor Gott alle Rassen gleich und zur Erlösung fähig sind.
Die Juden nahm die deutsche Kirche allerdings davon aus, weil die Ansichten ihrer Bischöfe über das konkrete Böse und die Heimtücke der Juden sich vor diese abstrakten Erwägungen zur moralischen Gleichheit aller Menschen schoben. Sie lehnte die NS-Rassengesetze, insbesondere die Nürnberger Gesetze, nicht ab, sondern bejahte sie ausdrücklich.
Die dt. Bischöfe erklärten die Erhaltung der rassischen Eigenart zu etwas Gutem.

"Weil jedes Volk," wie das maßgebliche Handbuch erklärt, "für seinen glücklichen Bestand die Verantwortung selbst trägt und die Hereinnahme vollkommen fremden Blutes für ein geschichtlich bewährtes Volkstum immer ein Wagnis bedeutet, so darf keinem Volk das Recht abgesprochen werden, seinen bisherigen Rassenstand ungestört zu bewahren und zu diesem Zweck Sicherungen anzubringen. Die christliche Religion verlangt nur, dass die angewandten Mittel nicht gegen die sittlichen Vorschriften und die natürliche Gerechtigkeit verstoßen [...]
Die Rassengesetzgebung der Gegenwart," die Nürnberger Gesetze, "kann daher nur darin ihren Sinn haben, dass die Heimrassigkeit und die Heimkultur vor Entartung bewahrt und gepflegt werden sollen."

Hier übernahmen die dt. Bischöfe einen der Schlüsselbegriffe des rassistischen Vokabulars der Nationalsozialisten, die "Entartung", mit dem die Nationalsozialisten alles brandmarkten und diffamierten, was sie vernichten und ausrotten wollten.
Die Ansicht der dt. Kirche, die "Heimrassigkeit" der Deutschen, ihr "Blut", müssten vor der Entartung bewahrt werden, sowie ihre Auffassungen von der Rolle der Juden und der bolschewistischen Gefahr bilden ein unentwirrbares ideologisches Knäuel.

Die Bischöfe warnten:

"Kein Volk kommt um diese Auseinandersetzung zwischen seiner völkischen Überlieferung und dem von Volksfremden, meist jüdischen Revolutionshetzern angeführten Marxismus herum."

Die Bischöfe erklärten nachdrücklich:

"Hier sei nur noch hinzugefügt, dass vom Christentum her eine wissenschaftlich begründete Rassenforschung und Rassenpflege nur zu begrüßen ist."

[...] Indem der katholische Klerus die gewöhnlichen Deutschen, Franzosen, Polen und andere lehrte und ermahnte, sich vor der vermeintlichen jüdischen Gefahr zu hüten, und dadurch Feindseligkeit gegen Juden schürte, lehrte er sie zugleich, die Juden zu diskriminieren: Juden nicht zu trauen, nicht ungezwungen oder freundschaftlich mit Juden zu verkehren und sie so weit wie möglich von sich fern zu halten.
Menschen zu meiden, sie in seinen privaten Beziehungen zu diskriminieren ist kein Verbrechen, aber auf jeden Fall eine schädliche Handlungsweise. Geschieht das systematisch, wie es in Deutschland und anderswo der Fall war, bekommt es einen politischen Charakter, weil es schädliche gesellschaftliche und politische Folgen hat.

Das zentrale christliche Motiv für den Holocaust



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 162 ff.) Ehrlichkeit und Frömmigkeit

Diejenigen, die behaupten, man müsse verstehen, wie es war, während der NS-Zeit in der Haut der Täter oder Zuschauer zu stecken, lassen zumeist einen wesentlichen Teil ihrer "Umstände" aus oder verschleiern ihn: nämlich die Ansichten, Urteile und Vorstellungen über Juden und über die einzelnen Komponenten des eliminatorischen Vorgehens gegen sie. Wenn man diese Ansichten, Urteile und Vorstellungen übergeht, nimmt man aber den vielleicht entscheidenden (und oft zur Verurteilung führenden) Faktor aus der Betrachtung heraus. Deshalb ist es besonders wichtig, systematisch und gründlich zu untersuchen, was Kleriker in ganz Europa über Juden und über die verschiedenen Bestrafungen dachten, die ihnen von ihren Verfolgern zugemessen wurden.
Hielten sie die Juden für unschuldig oder für schuldig? Hielten sie die Bestrafung für gerecht oder für ungerecht?

Schließlich verlangt eine moralische Abwägung, dass wir offen, deutlich und wohlbegründet urteilen. Seien wir ehrlich. Es wird doch dauernd geurteilt, ob nun über das Verhalten der katholischen Kirche, der Päpste, der Deutschen, der Polen, der Franzosen oder anderer in der damaligen Zeit. Auch von Historikern, die abstreiten oder zu verbergen suchen, dass sie urteilen. Oft wird oberflächlich geurteilt, und bei manchen kritischen Urteilen scheint Furcht mit im Spiel zu sein. Die Maßstäbe, die angelegt werden, bleiben zumeist unausgesprochen, sie sind in sich widersprüchlich, verworren und nicht auf Prinzipien begründet, kurz, es sind Maßstäbe, die nicht zu halten sind. Das Handlungsspektrum, über das geurteilt wird, beschränkt sich auf die ungeheuerlichsten Verbrechen, oft nur auf den Massenmord als solchen. Wenn es z.B. gelingt, Pius XII. vom Vorwurf der Beihilfe zum Völkermord zu entlasten, glaubt man, er sei in jeder Hinsicht unschuldig. Viele sonstige zu missbilligende Handlungen von damals – ob sie nun von Pius XII., anderen Männern der Kirche oder solchen, die keine Männer der Kirche waren, begangen wurden – werden mit Stillschweigen übergangen, als seien sie nicht geschehen oder als verdienten sie es nicht, einer moralischen Prüfung unterzogen zu werden.

Oft geht man auf den Antisemitismus Pius' XII. und anderer nicht direkt und gründlich genug ein, oder man macht behutsam einen Bogen um ihn, so als handele es sich um einen relativ bedeutungslosen Überrest des sogenannten kirchlichen Antijudaismus. Oft werden die Maßstäbe so gewählt und das berücksichtigende Handlungsspektrum so begrenzt, dass die entlastende Absicht deutlich zutage tritt.
Diese mehrfache Verengung des moralischen Horizonts ist intellektuell unredlich, und intellektuell unredlich sich auch jene, die unmittelbar mit dem Tötungsakt als solchem zusammenhängen, so als hätten die Täter nicht auch Dinge getan, die diese Erklärungen eindeutig widerlegen – obwohl allgemein bekannt ist, dass die Täter gewohnheitsmäßig Dinge getan haben wie ihre Opfer vorsätzlich zu quälen, zu schlagen, zu erniedrigen und zu verhöhnen.

(Zu solchen Handlungen der Täter siehe Hitlers willige Vollstrecker bes. S. 440-443, 450-456 und 464-468.
Als Beispiele für Missdeutung der Grausamkeit der Täter – als sei sie den logistischen Zwängen der Mordaktion geschuldet – siehe Brownings "Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die 'Endlösung' in Polen", Reinbek bei Hamburg 1993, S. 134, und Raul Hilberg, "Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945", Frankfurt a.M./ Wien 1992, S. 67 f. Als weitere Erörterung dieser Frage siehe Goldhagen, "Die Notwendigkeit eines neuen Paradigmas. Die Zeugnisse der Opfer, wichtige Beweise und neue Perspektiven in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Holocaust", in: "Die Fratze der eigenen Geschichte. Von der Goldhagen-Debatte zum Jugoslawien-Krieg", Berlin 1998, S. 80-102, hier S. 87 ff.)

Im Hinblick auf Pius XII. und die katholische Kirche legt man ebenso moralische Scheuklappen an, wie man es bei den Vollstreckern des Holocaust und den gewöhnlichen Deutschen getan hat.
Das beschränkte, zufällige, flüchtige, verwirrende und verwässerte Urteilen, das ständig stattfindet, ist himmelweit von der ernsthaften moralischen Beurteilung entfernt, die eine moralische Institution – und als solche stellt die katholische Kirche sich ja dar – verdient. Weil wir ohnehin nicht umhinkönnen zu urteilen, brauchten wir dabei eigentlich nicht zaghaft oder verstohlen vorzugehen. Weil Urteile auf jeden Fall gefällt werden, sollten wir gut urteilen. Wir sollten die Aufgabe des Urteilens zu einer wichtigen und geschätzten Praxis erheben, und wir sollten sie formgerecht, wohlbegründet und planvoll erfüllen.
(Die moralische Handlungsfreiheit der Akteure und unsere Pflicht, über sie zu urteilen, sie gerecht zu beurteilen und nicht auf beiläufige Weise, wie es sich für eine genuine moralische Beurteilung gehört, scheinen so offenkundig zu sein, dass man nur darüber staunen kann, dass dies alles bekräftigt werden muss – und gegen so große Widerstände.) Die empirische und analytische Grundlage für die Beurteilung der Kirche ist jetzt vorhanden. [...]
Der eliminatorische Antisemitismus – der Wunsch, die Gesellschaft auf irgendeine, nicht notwendig tödliche Weise von Juden und ihrem wirklichen und angeblichen Einfluss zu befreien, das zentrale Motiv für den Holocaust – war von der Kirche und ihren Geistlichen in Dtl. und im katho. Europa verbreitet worden.

S. 166) Es muss hier betont werden, dass Kommunizieren, Reden wie Schreiben, eine Handlung ist. Über einen anderen Verleumdungen zu verbreiten ist eine Tat, und zwar eine, die großen Schaden zufügen kann. Sie verändert die Welt in ungerechter Weise, indem sie andere ermuntert, schlecht über jemanden zu denken, der es nicht verdient hat, und kann sie sogar dazu bringen, dem Geschädigten weiteren Schaden zuzufügen. Üble Nachrede wird rechtlich als Tat betrachtet. Sind bestimmte gesetzliche Tatmerkmale erfüllt, handelt es sich um Verleumdung.



S. 168 f.) Mitverantwortung:
"Die einfache Volksfrömmigkeit ist der direkte Weg in den Himmel."

Diese Kategorien von Verfehlungen und die ihnen zugeordneten Kategorien von Schadhaftigkeit sind relativ unkompliziert. Es sind allgemeine Kategorien, die auf alle Personen und alle Taten zu allen Zeiten anwendbar sind. Die Ableitung aus den beiden Dimensionen von Verfehlung – ungerechte Schädigung und Billigung – und ihre intellektuelle Berechtigung sind unabhängig davon, ob wir die katholische Kirche betrachten. Sie könnten ebenso gut auf gewöhnliche Deutsche in der NS-Zeit wie auf amerikanische Südstaatler zur Zeit der Sklaverei und der Rassendiskriminierung angewandt werden. Sie können aber – und werden es auch – auf die katholische Kirche und ihre Mitglieder angewandt werden, um unseren Blick zu schärfen und ein Urteil über sie zu fällen. Zuvor ist jedoch der Hinweis angebracht, dass die eigenen Lehren und Maximen der Kirche, die in ihrem offiziellen, autoritativen Lehrtext, dem Katechismus der Katholischen Kirche, zu finden sind, unserer Darstellung aufs Genaueste entsprechen, nur dass sie in den theologischen Begriffen der Kirche formuliert sind. [...]

So wie wir daran festhalten, dass individuelle Handlungsfreiheit real ist und der Ursprung der Vergehen und der moralischen Verantwortung eines Menschen, so sieht auch die Kirche im "freien Willen" "die Wurzel der Sünde". So wie wir in der ungerechten Schädigung eines anderen ein tadelnswertes Vergehen sehen, so sieht auch die Kirche in der Sünde eine "Beleidigung Gottes" und eine "Verfehlung gegen Gott" sowie einen Verstoß "gegen die Vernunft, die Wahrheit und das rechte Gewissen", der "die Natur des Menschen und die menschliche Solidarität verletzt". Die Sünde ist für die Kirche "ein Wort, eine Tat oder ein Begehren im Widerspruch zum ewigen Gesetz." So wie wir Schuld oder Tadel als individuell und niemals als kollektiv betrachten, so erklärt auch die Kirche:

"Die Sünde ist eine persönliche Handlung." (§§ 1849 f.)

So wie wir der Meinung sind, dass jemand nicht schon dadurch der Verantwortung für sein Handeln enthoben ist, dass er gemeinsam mit anderen oder unter dem Befehl anderer gehandelt hat, so erklärt auch die Kirche:

"Wir haben [...] eine Verantwortung für die Sünden anderer Menschen, wenn wir daran mitwirken."

So wie wir der Meinung sind, dass man durch die ungerechte Schädigung anderer Schuld oder Tadel auf sich lädt, so erklärt die Kirche, dass wir "Verantwortung für die Sünden [anderer]" haben, wenn wir uns "direkt und willentlich daran beteiligen".
So wie wir der Meinung sind, dass man durch Unterstützung der ungerechten Schädigung, die ein anderer begeht, Schuld oder Tadel auf sich lädt, so erklärt die Kirche, dass wir "Verantwortung für die Sünden [anderer]" haben, wenn wir sie "gutheißen".
Die Kirche besteht unerbittlich darauf, dass man sich mit "jeder Haltung und jedem Wort, die [einen anderen] ungerechterweise schädigen könnten," "schuldig macht".



S. 170-173) Draft Code of Offenses Against the Peace and Security of Mankind

Strafrechtliche Schuld lädt derjenige auf sich, der nach nationalem Recht oder nach Völkerrecht ein Verbrechen begeht. Das Völkerrecht enthält zahlreiche Vorschriften, die für unsere Diskussion von Belang sind. Zu den Grundsätzen des Völkerrechts gehört die Bestrafung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach der Satzung des Nürnberger Gerichtshofs zählen zu den Kriegsverbrechen "Bruch des Rechts oder der Gebräuche des Krieges, wobei die Vergehen nicht auf Mord, Grausamkeiten oder Deportation der Zivilbevölkerung in Arbeitslager oder zu einem anderen Zweck aus dem oder in das besetzte Gebiet beschränkt sind." Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind "Mord, Ausrottung, Versklavung, Verschleppung und andere unmenschliche Taten, die sich gegen die Zivilbevölkerung richten, sowie die Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, wenn die Taten in Ausführung von oder in Verbindung mit Verbrechen gegen den Frieden oder Kriegsverbrechen begangen werden." In den Grundsätzen des Völkerrechts heißt es ferner: "Der Umstand, dass das nationale Recht keine Strafe für eine Tat vorsieht, die nach Völkerrecht als Verbrechen bestimmt ist, entlastet den Täter nicht von seiner Verantwortlichkeit nach Völkerrecht."

Im Statut heißt es ausdrücklich, dass "wer ein [...] genanntes Verbrechen geplant, angeordnet, begangen oder dazu angestiftet hat oder auf andere Weise zur Planung, Vorbereitung oder Ausführung des Verbrechens Beihilfe geleistet hat [...] für das Verbrechen individuell verantwortlich [ist]."

[...] Die erwähnten und andere internationale Statuten machen deutlich, dass es mittlerweile ein eingeführter Grundsatz des Völkerrechts ist, dass nationale Gesetze, die gegen Völkerrecht und Menschenrechtsnormen verstoßen, ungültig sind und Personen, die unter ihren ungesetzlichen Auspizien Verbrechen begehen, nicht schützen. (Dieses Prinzip lag auch den Nürnberger Prozessen zu Grunde: "Jede Person, die eine Tat begeht, die nach dem Völkerrecht als Verbrechen bestimmt wurde, ist dafür verantwortlich und wird der Bestrafung zugeführt. [...] Der Umstand, dass das nationale Recht keine Strafe für eine Tat vorsieht, die nach Völkerrecht als Verbrechen bestimmt ist, entlastet den Täter nicht von seiner Verantwortlichkeit nach Völkerrecht." Siehe International Law Commission, "Die normativen Grundsätze des Internationalen Rechts, wie sie nach der Satzung des Nürnberger Gerichtshofes und dessen Urteil anerkannt sind." Zu weiteren internationalen Normen, die für die Beurteilung der Verfehlungen des katholischen Klerus während der NS-Zeit relevant sind, siehe Generalversammlung der Vereinten Nationen, "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", 12/10'48, insbes. Art. 2, 3, 5, 7-10, 12, 15-17, 21-23 und 27.) [...]


Das Verbrechen der freiwilligen Mitgliedschaft


Was die Juden betrifft, gilt für jeden, der Juden getötet oder an ihrer Tötung mitgewirkt hat, die strafrechtliche Schuld. (Selbst nach den in Deutschland zur NS-Zeit geltenden Gesetzen war es formal verboten, Juden zu töten. Wenn Deutsche in der späteren BRD wegen der Ermordung von Juden vor Gericht gestellt wurden, dann auf Grundlage der entsprechenden Gesetze. Siehe Ingo Müller, "Furchtbare Juristen – Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz", München 1987, S. 255 f.) Sie gilt für jeden, der Juden verfolgt oder auf andere Weise an ihrer Verfolgung mitgewirkt hat, beispielsweise mit der Durchführung von Rassengesetzen, die eindeutig gegen die Menschenrechte der Juden verstießen und daher verbrecherisch waren. Wer aus freien Stücken einer verbrecherischen Organisation beitritt, etwa der SS (jedenfalls nach 1933), ist ebenfalls strafrechtlich verantwortlich und daher in unserem Sinne strafrechtlich schuldig. Das Prinzip, dass die freiwillige Mitgliedschaft in einer verbrecherischen Organisation selbst ein Verbrechen ist, wurde in den Nürnberger Prozessen aufgestellt. ("Statut für den Internationalen Militärgerichtshof" [IMG], in: "Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem IMG Nürnberg, 14. November 1945 – 1. Oktober 1946", 42 Bände, Nürnberg 1947, hier Bd. 1, S. 10-18. Siehe auch "Feststellung der Kriminalität von Gruppen und Organisationen" in der Anklageschrift, S. 29-99.) Die Begründung ist einfach. Wer aus freien Stücken einer Organisation beitritt oder in einer Organisation bleibt, von der bekannt ist, dass sie ihrem Wesen nach verbrecherisch ist oder deren Tätigkeit im Wesentlichen im kriminellen Treiben ihrer Mitglieder besteht, belastet sich mittels seiner freiwilligen Mitgliedschaft selbst mit dieser Kriminalität. Letztlich ist er Teil einer Verschwörung mit verbrecherischem Ziel. Wer willentlich eine solche verbrecherische Organisation unterstützt, ist strafrechtlich schuldig. Strafrechtliche Schuld gilt außerdem für einen Vorgesetzten, wie einen Papst oder Bischof, der es versäumt, einen Untergebenen von einer Straftat abzuhalten, wenn er von der Absicht weiß.

Moralische Schuld lädt derjenige auf sich, der, ohne ein Verbrechen zu begehen, eine verbrecherische Tat unterstützt. Der Begriff der moralischen Schuld ist unkompliziert. Jemand macht moralisch gemeinsame Sache mit dem Verbrecher. Mit seiner Unterstützung vertritt er die Ansicht, dass der Verbrecher gerecht gehandelt hat und dass er im Prinzip genauso handeln würde, wenn er dazu aufgefordert würde oder selbst die Gelegenheit dazu fände. Wer eine verbrecherische Handlung unterstützt, ist jedoch nicht strafrechtlich schuldig, weil wir niemanden wegen seiner Gedanken und Einstellungen als Verbrecher verurteilen oder ihm eine strafrechtliche Schuld zumessen. Wir können jedoch ein moralisches Urteil fällen. Wer das Verbrechen unterstützt, wer mit dem Verbrecher moralisch solidarisch ist, wird moralisch in das Verbrechen verwickelt. So wie er dem Verbrechen seine moralische Unterstützung gewährt, müssen wir ihn moralisch verurteilen. Ist der Täter ein Verbrecher, so ist sein Unterstützer ein moralischer Missetäter. Der Täter ist strafrechtlich oder gesetzlich schuldig. Sein Unterstützer ist moralisch schuldig. Was die Juden betrifft, trägt jeder, der den Massenmord oder andere verbrecherische Handlungen gegen sie unterstützt hat, moralische Schuld.



S. 175 f.) Dieselben Antworten und die Logik des katholischen Beifalls

Katholische Bischöfe und Priester in ganz Europa haben politische Vergehen auf mannigfaltige Weise unterstützt. Viele haben die Zerstörung der Demokratie und die Errichtung von Diktaturen unterstützt, auf deren Fahne Verfolgung und Schikane standen, und sie haben sie auch dann noch unterstützt, als sie Zeugen der Verfolgung wurden. Alles spricht dafür, dass der Wunsch nach Zerstörung der Demokratie und Unterstützung der Tyrannei in den jeweiligen Ländern nicht auf einige wenige Geistliche beschränkt war. Bei der in der Kirche vorherrschenden Ablehnung der Moderne, vor allem der politischen und kulturellen demokratischen Grundanschauungen und Institutionen, die mit der Moderne einhergingen, zusammen mit ihrer Überzeugung, dass der Bolschewismus unbarmherzig bekämpft werden müsse, war es nahezu sicher, dass Kleriker in Dtl., Italien und anderen Ländern die Tyranneien der Nationalsozialisten, Faschisten und sonstigen rechten Bewegungen mit Erleichterung, wenn nicht gar mit Beifall aufnehmen würden. [...] In Dtl., Kroatien, Frankreich, Italien und der Slowakei war die jeweilige katholische Kirche erfreut, als die demokratischen und rechtsstaatlichen Systeme durch autoritäre Regime ersetzt wurden, die sich die Verfolgung ihrer Gegner auf die Fahnen geschrieben hatten. *)
Die dt. katho. Kirche unterstützte darüber hinaus den von Dtl. angezettelten imperialistischen Krieg und ist auch dafür moralisch zu tadeln. Die Kirche teilte die außenpolitischen Ziele Dtl.s, einschließlich des politischen Vergehens des Angriffskrieges [...] Zwei Wochen, nachdem Dtl. mit dem Angriff auf Polen den ZWK ausgelöst hatte, gaben die dt. Bischöfe in einem gemeinsamen Hirtenbrief ihrer Ansicht Ausdruck, dass dieser aggressive Krieg zur Eroberung von Lebensraum gerecht sei:

"In dieser entscheidenden Stunde ermuntern und ermahnen wir unsere katholischen Soldaten, in Gehorsam gegen den Führer, opferwillig unter Hingabe ihrer ganzen Persönlichkeit ihre Pflicht zu tun. Das gläubige Volk rufen wir auf zu heißem Gebet, dass Gottes Vorsehung den ausgebrochenen Krieg zu einem für Vaterland und Volk segensreichen Erfolg und Frieden führen möge."

*) Donald J. Dietrich, "Catholic Citizens in the Third Reich: Psycho-Social Principles and Moral Reasoning", New Brunswick, N.J., 1988, schreibt: "Die Struktur und Ideologie der Kirche förderte jedoch die Festigung der NS-Herrschaft. Katholische Einstellungen deckten sich mit denen des NS-Regimes, dessen Popularität im Grunde darauf beruhte, dass es einen Kurs verfolgte, der bei den konservativen Eliten Anklang fand – Wiedererstarken der Nation, territoriale Expansion, Abschaffung des demokratischen Pluralismus und Ethnozentrismus." (S. 207) Zum Vatikan und Italien siehe Klaus Scholder, "Die Kirchen und das Dritte Reich. Vorgeschichte und Zeit der Illusion, 1918-1934", München 2000, S. 347 ff.

Die Bischöfe unterstützten einen dt. Sieg in diesem apokalyptischen Vernichtungskrieg auch dann noch, als sie wussten, dass ihre Landsleute mit jedem deutschen Vorstoß und schließlich mit jedem weiteren Tag, um den Dtl. seine Niederlage hinauszögerte, mehr Juden ermorden und damit Hitler und seine Gesinnungsgenossen ihrem Ziel näher bringen würden: der totalen Vernichtung des jüdischen Volkes. Gordon Zahn erklärt,

"dass der deutsche Katholik, der von seinen religiösen Autoritäten geistliche Orientierung und Anleitung im Hinblick auf den Dienst in Hitlers Kriegen erwartete, im Grunde dieselben Antworten erhielt, wie er sie vom NS-Herrscher selbst erhalten hätte."
(Gordon C. Zahn, "German Catholics and Hitler's Wars – A Study in Social Control", New York 1962, S.17, The American Catholic Sociological Society 1963/64.)

Personifizierte Unschuld des Mystischen Leibes



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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(Die katholischen Bischöfe der Vereinigten Staaten, die in einer weitaus pluralistischeren und weniger antisemitischen Gesellschaft lebten, erkannten in dem Angriff auf die Juden das Verbrechen, das er war. In einem Hirtenbrief erklärten die amerikanischen Bischöfe im November 1942 den amerikanischen Katholiken:

"Seit dem mörderischen Angriff auf Polen, gänzlich bar jeden Anscheins von Menschlichkeit, gab es die vorsätzliche und systematische Ausrottung des Volkes dieser Nation. Dieselbe satanische Technik wird gegen viele andere Völker angewandt. Wir haben eine tiefe Abscheu gegen die grausamen Demütigungen, die über die Juden in den eroberten Ländern gehäuft werden und über die wehrlosen Menschen, die nicht unseres Glaubens sind."

[...] H.H. Henrix, W. Kraus , "Die Kirchen und das Judentum" [...] Da die amerikanischen katholischen Bischöfe, anders als der Vatikan, den Nationalsozialismus als unverbesserlich böse einstuften, nahmen sie eine kritische Haltung zur Neutralität des Vatikans ein, die mit Anpassung und Kooperation mit dem Nationalsozialismus einherging. Der Nationalsozialismus und seine Verbündeten hätten sich, wie es in diesem Hirtenbrief heißt, "in der Kriegsführung zusammengeschlossen, um eine Sklavenwelt zu errichten." Der "prinzipielle Gegensatz" zum Nationalsozialismus mache "einen Kompromiss unmöglich", erklärten sie in einer fast unverhüllten Rüge am Vatikan. Siehe Gerald P. Fogarty SJ, "The Vatican and the American Hierarchy from 1870 to 1965", Stuttgart 1982, S. 286 f. 05/02'05 "Pope Pius XII and the Holocaust – A Dialogue Toward Consensus and Healing")



S. 155 ff.) Die Dänisch-Lutherische Staatskirche und das dänische Volk

Katholischen Geistlichen und Nonnen, die aus eigener Initiative handelten und keinerlei Unterstützung von Seiten des Vatikans oder ihrer nationalen Kirchenführung erfuhren, gelang es mühelos, in nur einem Bruchteil der in die Zehntausende gehenden Kirchen und anderen kirchlichen Einrichtungen in ganz Europa Zehntausende von Juden zu verstecken, v.a. jüdische Kinder, von denen viele christlich getauft wurden. Die Amtskirche unternahm dagegen nur an zwei Orten Rettungsversuche auf Diözesanebene: in Berlin unter der Führung von Bischof Konrad Preysing und in Italien, wo viele Bischöfe und Priester Netzwerke bildeten, um Juden zu retten. In Italien und in anderen Ländern haben Priester und Laien heroisch gehandelt. Sogar im Vatikan haben Kleriker Juden versteckt.
Es gibt Grund zu der Annahme, dass der Papst dies zumindest eine Zeit lang geduldet hat, wenngleich er es nicht veranlasst oder gefördert hat. Es ist unklar, welche Rolle der Papst bei der berüchtigten Verfügung vom Frühjahr 1944 gespielt hat, alle "Nicht-Kleriker" aus den vatikanischen Besitzungen hinauszuwerfen, die zwar nicht strikt befolgt wurde, aber doch dazu führte, dass Juden vor die Tür gesetzt wurden. Man kann sich jedenfalls kaum vorstellen, dass es zu der von seinen direkten Untergebenen erlassenen Verfügung überhaupt gekommen wäre, wenn der Papst ein wirklicher Freund der Juden gewesen wäre. Im übrigen katholischen Europa waren die Bischöfe im Allgemeinen nicht gewillt, den Juden zu helfen. Michael Phayer kommt zu dem Schluss, dass "die Diözesanstruktur der Kirche in allen europäischen Ländern außer Polen intakt war, aber nicht von dem Geist und der Kraft erfüllt, die in Italien und Berlin zu finden waren."

(Als Darstellung der Rettung von Juden durch Katholiken, Geistliche wie Laien, siehe Phayer, "The Catholic Church and the Holocaust", S. 111-132, bes. S. 124 ff. Zur katholischen Kirche Italiens siehe Zuccotti, "The Italians and the Holocaust – Persecution, Rescue, Survival", New York 1987, S. 207-217. Zuccotti weist darauf hin, dass die Deutschen und ihre italienischen Helfer während der deutschen Besatzung über 170 Priester töteten, weil sie im Widerstand aktiv waren und Antifaschisten sowie Juden geholfen hatten. Die Zahl derer, die Juden geholfen hatten, wird nicht genannt und ist möglicherweise unbekannt. Phayer nennt die Zahl 170 und gibt zu verstehen, alle Priester seien getötet worden, weil sie Juden geholfen hatten, obwohl er Zuccotti als seine Quelle nennt.
Zur vatikanischen Ausweisungsverfügung siehe Zuccotti, UHVW, S. 224-232.)

Der Gegensatz könnte nicht größer sein: Während die katholische Kirche insgesamt ebenso wie die Mehrheit der gewöhnlichen Deutschen, Katholiken wie Protestanten, gegenüber den Juden nicht richtig gehandelt haben, haben die dänische Kirche und das dänische Volk sich gegenüber den Juden vorbildlich verhalten. Ebenso deutlich liegt die Ursache dieses unterschiedlichen Verhaltens auf der Hand. Für die Dänisch-Lutherische Staatskirche und das dänische Volk waren die Juden unschuldig. Darum haben sie sie als Menschen verteidigt und nicht bloß als die verachteten Objekte einer allzu strengen und moralisch unzulässigen Bestrafung. Sie haben sie nicht erst im letzten Moment verteidigt – unmittelbar vor ihrem Abtransport und ihrer Ermordung durch die Deutschen oder nachdem die Deutschen und ihre Helfer in ganz Europa bereits Millionen umgebracht hatten – sondern vom ersten Augenblick an, sofort nach der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen.
Schon die ersten Maßnahmen der Ausschaltungspolitik haben die Dänen weder unterstützt noch hingenommen, sie haben nicht einfach zugeschaut, sie sind nicht stumm geblieben, und sie haben nicht zugelassen, dass die Deutschen solche Maßnahmen durchsetzten.
(Angesichts des in Italien relativ schwach ausgeprägten Antisemitismus war es auch für viele italienische Geistliche und gewöhnliche Italiener eine Selbstverständlichkeit, gegen die Vernichtung der Juden Widerstand zu leisten.
Siehe Zuccotti, "The Italians and the Holocaust", S. 278-282.)
Das alles taten sie, weil die Juden unschuldig waren. Und als es gefährlich wurde, erhoben sich die Dänen mühelos und umgehend, um die Juden zu schützen, und sie halfen ihnen mit Entschlossenheit, Beharrlichkeit und Eifer.
Und ihre Rettungsmaßnahmen waren bekanntlich von Erfolg gekrönt.


Tief sitzender spirituell-politischer Antisemitismus


Die unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Handlungen und Unterlassungen auf Seiten des katho. Klerus werden nur dann verständlich, wenn wir die Ansichten der katho. Kirchenmänner über die Schuld oder Unschuld der Juden und ihre Ansichten über die Gerechtigkeit der sich verschärfenden Bestrafungsmaßnahmen in ihrem komplizierten Zusammenspiel berücksichtigen. Dabei haben natürlich auch andere Faktoren, z.B. die politischen Erwägungen dieser politischen Kirche, zur Ausgestaltung des Gesamtmusters beigetragen. Diese anderen Faktoren, etwa der Antibolschewismus des Papstes, seine behauptete Sorge um die Sicherheit der Kirche und seine angebliche persönliche Schüchternheit, werden aber entweder durch die Tatsachen widerlegt, oder sie steuern nicht das Geringste zur Erklärung des Gesamtverhaltens der Kirche bei – also der Handlungen des Papstes, der nationalen Kirchen und ihrer Geistlichen, die vermutlich nicht alle genauso schüchtern waren wie, vermeintlich, der Papst. Keiner dieser Faktoren vermag eine der grundlegenden und zentralen Tatsachen dieser Zeit größter Gefahr für Juden zu erklären: dass der Papst, die Kirche insgesamt mit ihren nationalen Kirchen und Geistlichen weiterhin Antisemitismus verbreiteten. Wenn wir an das Verhalten der Dänisch-Lutherischen Kirche und ihrer Geistlichen denken, klingen all diese vorgeschlagenen Erklärungen für das vielfältige Versagen der katholischen Kirche und ihres Klerus albern. Allein die bei der katholischen Kirche und ihrem Klerus herrschenden Ansichten über die Schuld der Juden und die Gerechtigkeit der jeweiligen Strafen vermögen ihr allgemeines Handlungsmuster zu erklären. Diesen Ansichten aber lag der tief sitzende Antisemitismus der Kirche und ihrer Geistlichkeit zu Grunde.



S. 157-161) Der Trick das Unglaubliche zu glauben

Eine moralische Beurteilung beruht auf vier Vorstellungen:
1. Dass Menschen für ihr Handeln verantwortlich sind.
2. Dass wir berechtigt sind, das Handeln anderer zu beurteilen.
3. Dass wir dafür angemessene und klare Kriterien besitzen müssen.
4. Dass unsere Urteile in ihren Schlussfolgerungen transparent sein müssen.

Die Kirche und ihre Mitglieder, vom Papst bis hinunter zu den Gemeindepfarrern und ihren Gemeindegliedern, waren, wie andere Menschen auch, frei Handelnde. Handlungsfreiheit ist die Fähigkeit eines Menschen, zu erkennen, zu beurteilen, ob etwas seinen Moralvorstellungen zufolge richtig ist, und entsprechend zu handeln.
Es ist die Fähigkeit, Nein zu sagen. Auch die katho. Kirche ist der Meinung, dass Menschen moralisch Handelnde sind. Ihre grundlegende Lehre von der "Freiheit" oder dem "freien Willen" – "die in Verstand und Willen verwurzelte Fähigkeit, zu handeln oder nicht zu handeln, dieses oder jenes zu tun und so von sich aus bewusste Handlungen zu setzen" – ist nur eine andere Bezeichnung für Handlungsfreiheit.
Grundsätzlich, philosophisch und theologisch, kann die Handlungsfreiheit der Kirche und ihrer Mitglieder nicht geleugnet werden. In der Praxis hatten die Kirche und ihre Geistlichen im Großen und Ganzen umfassende Möglichkeiten zu handeln, ohne sehr zu leiden. In vielen ihrer Handlungen waren sie vollkommen frei, etwa in der Frage, ob sie den Katholiken weiterhin Antisemitismus vermitteln wollten. [...]
Auch die katho. Kirche ist der Meinung, dass "der Mensch aufgrund seiner Freiheit für seine Taten verantwortlich ist," soweit er willentlich handelt. (Katechismus, "Die Freiheit des Menschen", §§ 1730-48)

Zweitens sind wir, die wir nicht zu den Akteuren von damals gehören und nicht "in ihrer Haut stecken", berechtigt und verpflichtet, über Lob oder Tadel zu entscheiden. Es ist sonderbar, wenn jemand etwas anderes behauptet. Wir urteilen im Alltag ständig über andere: [...] die Täter, die mit dem Anschlag vom 11. September Massenmord begangen haben [...] Pater Peter Gumpel SJ, der in Sachen Pius XII. im Grunde der amtliche Berichterstatter der Kirche ist, lobt ihn nicht nur, sondern beurteilt ihn als einen Heiligen.
Und wenn Pater Gumpel und andere die Kritiker Pius' XII. als böswillig attackieren (Pater Gumpel erfindet ein "jüdisches Lager", das etwas "gegen Katholiken" hat), dann urteilen sie über andere.
(Zitiert in James Carroll, "Constantine's Sword: The Church and the Jews", Boston 2001, S. 436.)
Wenn wir zum Lob moralisch berechtigt und verpflichtet sind, dann auch zu seinem Gegenteil, dem Tadel.

Wenn wir heute Menschen strafrechtlich und moralisch beurteilen, die einmalig Straftaten gegen einen Einzelnen begehen, warum sollten dann Leute, die in der NS-Zeit Straftaten begangen haben, von unserem Urteil ausgenommen sein? Nur weil die Zahl der Übeltäter, die Zahl und Art der Straftaten und die Zahl der Opfer allesamt so ungeheuerlich waren? Es ist eine Umkehrung von Gerechtigkeit und Moral, jemanden, der willentlich ein Verbrechen oder eine andere schädliche Tat begeht, milder zu behandeln, sofern viele andere dasselbe getan haben und die Tat überdies zum Schlimmsten gehört, was man sich vorstellen kann (wie die Massenvernichtung der Juden), als einen Einzelnen, der etwas weit weniger Schlimmes tut, zum Beispiel ein Auto stiehlt. Wer verlangt, dass wir das Verhalten von Menschen in der NS-Zeit nicht einer moralischen Untersuchung unterziehen sollten, verlangt, dass wir es in keinem Fall tun sollten, oder er behauptet, dass Deutsche und andere, die Juden ermordeten und schädigten, ein Sonderfall seien, dem moralische Immunität gebührt. Der einen wie der anderen Ansicht werden wohl nicht viele zustimmen.

Weshalb sollte man Menschen von jeglicher Verantwortung freisprechen, bloß weil die Nationalsozialisten brutal waren? Eine solche Befreiung könnten sie nur dann beanspruchen, wenn dreierlei zugetroffen hätte:
1. Dass sie richtig zu handeln wünschten.
2. Dass eindeutig sie selbst dieser Brutalität ausgesetzt waren.
3. Dass dies der Grund war, warum sie nicht ihren guten Überzeugungen gemäß handelten.
Für Kirchenmänner hieße das, dass sie die Juden für unschuldig hielten oder, falls nicht, dennoch großes Mitleid mit den Juden empfanden und ihnen zu helfen wünschten, aber durch den angeblichen Terror und nur dadurch daran gehindert wurden.
Die Kirche kann nicht beweisen, dass diese Bedingungen erfüllt waren (mehr noch, es war der eigene Wunsch und die eigene Entscheidung der Kirche, die vernichtendsten antisemitischen Vorwürfe gegen Juden zu verbreiten).

Gäbe es Dokumente über interne Diskussionen im Vatikan oder unter nationalen Kirchenführern über die Unschuld der Juden und die große Ungerechtigkeit all der Ausschaltungsmaßnahmen einschließlich derer, die in den 30er Jahren von den Deutschen ergriffen wurden – und bestimmt hätte es solche Diskussionen gegeben, wenn dies die Ansichten der Kirchenmänner gewesen wären – dann hätte die Kirche diese Dokumente zweifellos längst veröffentlicht. Selbst die bereinigte Auswahl von Materialien in der amtlichen kirchlichen Publikation von diplomatischen Dokumenten aus der Kriegszeit stützt, anders als die Kirche behauptet, diese Sichtweise nicht. Außer all den Briefwechseln und Berichten, die im Grunde die Kirche selbst anklagen, fällt in den elf Bänden vor allem wiederholt auf, was fehlt: die Anerkennung der Tatsache, dass die Juden vollkommen unschuldig waren, durch Vertreter des Vatikans sowie ein erkennbares Interesse ihrerseits am allgemeinen Wohlergehen der Juden. (Siehe die Erörterung vieler derartiger Dokumente in John F. Morley, "Vatican Diplomacy and the Jews During the Holocaust", und Zuccottis UHVW.)
Bei ihrem Bemühen, die Kirche freizusprechen, unternehmen die Kirche und ihre Verteidiger nicht einmal den Versuch zu zeigen, dass die drei Bedingungen erfüllt waren, die erfüllt sein müssen, damit die Kirche von der Verantwortung für ihre Versäumnisse entbunden werden könnte. Eine solche Vorstellung über wird durch die zahlreichen Dokumente aus dieser Zeit unbestreitbar ad absurdum geführt.
Das Beste, was die Kirche und ihre Verteidiger tun können, ist, wie ein Mantra in der einen oder anderen Form zu behaupten, die Nationalsozialisten seien brutal gewesen.

Warum sollten allein die Kirche, Pius XI. und Pius XII., Bischöfe und Priester von unserer moralischen Beurteilung ausgenommen sein, und das ausgerechnet im Hinblick auf ihr Verhalten gegenüber einem der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte? Weil sie behaupten, Diener Gottes zu sein und damit der Aufgabe verpflichtet, ein moralisches Leben zu führen? Das würde sie nicht nur unserer moralischen Beurteilung nicht entheben, sondern geradezu verlangen, einen noch strengeren Maßstab anzulegen.
Die Kirche selbst befürwortet in ihrer Lehre, dass man über andere und sie selbst urteilt.

Über Menschen, die ihre Autorität nicht anerkennen, urteilt sie z.B., sie seien nicht würdig, in den Himmel zu kommen ("außerhalb der Kirche ist kein Heil"), woraus ungeachtet einiger gegenteiliger offizieller Behauptungen streng genommen zu folgern ist, dass sie in der Hölle landen werden. (Katechismus, §§ 846 ff. u. 1257-61 über Erlösung und 1033-37 über die Hölle)
Und sie urteilt über sich selbst, die personifizierte Unschuld zu sein.

("Es ist Gegenstand des Glaubens, dass die Kirche [...] unzerstörbar heilig ist.")

Was den Holocaust angeht, scheut die Kirche sich nicht, selbst laut und nachdrücklich über sich und ihre führenden Mitglieder zu urteilen. Ihr Urteil, ungeachtet der selbstkritischen Erklärung der französischen Bischöfe von 1997 im Großen und Ganzen eine Feststellung der Unschuld. Seit wann erlauben wir es denjenigen, die möglicherweise schuldig sind, oder ihren Repräsentanten, das Urteil zu diktieren? Seit wann dürfen sie als alleinige und maßgebliche Richter in eigener Sache agieren und dabei diejenigen als voreingenommen angreifen und herabsetzen, die es – ihnen nicht zur Loyalität verpflichtet, ihre Identität nicht teilend und ihrer Institution nicht angehörend – wagen, sie einer kritischen Untersuchung und Beurteilung zu unterziehen?

Die Behauptung, wir dürften nicht über den Papst und andere Katholiken urteilen, die während des Holocaust als Katholiken agiert haben, läuft darauf hinaus, dass wir nicht über Menschen urteilen dürfen, die unter Umständen gehandelt haben, denen wir nicht ausgesetzt waren. Solch eine Regel akzeptiert oder praktiziert eigentlich niemand, mag er sagen, was er will. Das hieße, dass es keine Moral gibt, denn die Moral besteht aus Regeln für richtiges Verhalten, die für alle Menschen gelten und die wir auf alle Menschen anwenden dürfen, unabhängig davon, ob wir uns genau in ihrer Lage befunden haben oder nicht. Nicht zu urteilen hieße zu leugnen, dass Menschen Gutes, dass sie Lobenswertes tun können – und das leugnet niemand, am allerwenigsten die Kirche, die ihren Glauben an die eigene unfehlbare Löblichkeit laut ausposaunt. Nicht zu urteilen hieße, die Existenz von Moral zu leugnen. Es hieße folglich, unsere menschliche Handlungsfreiheit zu leugnen, und damit würde philosophisch, theologisch oder auch nur schlicht und einfach unser Menschsein geleugnet.
Wenn wir über den Papst, die Bischöfe und andere urteilen, so ist das kein Verstoß, sondern die Erfüllung unserer moralischen Pflichten, die wir einander als Menschen schuldig sind.

November 17, 2010

Bischöfliche Judengesetze mit Vorbildfunktion



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 140-144) Die gemeinsame Überzeugung von Christen und Rassisten

In Slowenien war Bischof Gregor Rozman von Ljubljana, der Hauptstadt des Landes, ein entschiedener Bundesgenosse der Deutschen. Er ließ katholische Streitkräfte aufstellen, die an der Seite der Deutschen und der Italiener kämpfen sollten und in denen katholische Priester bedeutende Funktionen ausübten.
Als Italien im September 1943 kapituliert hatte, half Bischof Rozman den Deutschen, ihrerseits die Kontrolle über Slowenien zu übernehmen. Er leitete außerdem die Schaffung einer slowenischen Heimwehr in die Wege, die sich unter dt. Führung an zahlreichen Verbrechen beteiligte, Massenmord inbegriffen.
Ein erhalten gebliebenes Foto zeigt, wie der Bischof, der örtliche SS-Kommandeur und der faschistische Präsident Sloweniens gemeinsam auf einer Tribüne die Truppenparade abnehmen.
Bischof Rozman rief die Slowenen wiederholt zur Unterstützung der Deutschen auf, so auch in einem Hirtenbrief vom November 1943, als die Deutschen dabei waren, ihre Herrschaft in Slowenien zu festigen.
Weshalb sollten die Slowenen ihr Schicksal an das der Deutschen knüpfen?

Nur "durch diesen unerschrockenen Kampf und fleißige Arbeit für Gott, Volk und Vaterland," erklärte der Bischof, "werden wir unter der Führung Deutschlands unsere Existenz und eine bessere Zukunft sichern, im Kampf gegen die jüdische Verschwörung."
(Siehe Mark Aarons and John Loftus, "Unholy Trinity – How the Vatican's Nazi Networks Betrayed Western Intelligence to the Soviets", New York 1991, S. 128 f.)

Mark Aarons and John Loftus 1998: Unholy Trinity – The Vatican, The Nazis, and The Swiss Banks

In Italien, wo zwei Päpste den Bolschewismus mit Juden gleichsetzten, billigte der Vatikan die judenfeindlichen Gesetze, die die faschistische Regierung in Anlehnung an die NS-Judengesetzgebung 1938 erließ, und sorgte selbst für ihre Verbreitung. Die italienischen Bischöfe griffen diese öffentliche Billigung auf.
(Siehe z.B. Zuccotti, UHVW, New Haven 2000, S. 54 f.)
Im Bulletin seiner Erzdiözese verkündete der Erzbischof von Florenz, einer der führenden Kardinäle Italiens, seinen Priestern und Gläubigen im Frühjahr 1939, die italienischen Rassengesetze stünden nicht im Widerspruch zu göttlichem Recht: Was die Juden angehe, könne "niemand die zerstörerische Arbeit vergessen, die sie häufig nicht nur gegen den Geist der Kirche, sondern auch zum Schaden der bürgerlichen Koexistenz geleistet haben."
Daher, so der Erzbischof, habe die Kirche "das Zusammenleben mit den Juden in jeder Epoche als gefährlich für die Gläubigen sowie für Ruhe und Frieden der Christenheit eingeschätzt." Deshalb hätten "die von der Kirche erlassenen Gesetze seit Jahrhunderten das Ziel verfolgt, die Juden zu isolieren" – Gesetze, die den Gesetzen des faschistischen Italien in vielerlei Hinsicht als Vorbild dienten. (Zitiert nach Kertzer S. 378 f.) [...]
Für den Historiker Guenter Lewy, der sich mit der katho. Kirche der NS-Zeit befasst hat, waren die dt. Katholiken dermaßen antisemitisch, in ihren Ansichten über die Juden von der eigenen Kirche derart vergiftet, dass – wenn die katho. Bischöfe den unwahrscheinlichen Schritt unternommen hätten, die Juden für unschuldig zu erklären – seiner Meinung nach "ihre Gläubigen [...] eine solche Sympathie für die Juden gar nicht verstanden [hätten]."

Die gemeinsame Überzeugung katholischer Geistlicher und Laien von der Schuld der Juden – ganz zu schweigen von dem eliminatorischen Charakter, der diesen Überzeugungen oft gemein ist – wurde wohl nirgendwo so deutlich wie in der ungarischen Stadt Veszprem, wo ein Flugblatt der Pfeilkreuzler, der ungarischen faschistischen Bewegung, nach der Deportation der örtlichen Juden einen Dankgottesdienst ankündigte:

"Mit Hilfe der göttlichen Vorsehung wurde unsere alte Stadt und Provinz von dem Judentum befreit, das unsere Nation besudelte. Es ist dies nicht das erste Mal in unserer tausendjährigen Nationalgeschichte, dass wir von einer Plage, die uns befallen hatte, befreit wurden.
Doch kein bisheriges Ereignis kann sich an Bedeutung mit diesem Ereignis messen, denn keinem bisherigen Feind, der uns mit Gewalt oder mit politischer Machtübernahme bedrohte, war es je gelungen, uns in dem Maße zu übermannen, wie es den Juden gelungen ist mittels ihrer vergifteten Wurzeln, die in unseren Volkskörper eindrangen und sich seiner bemächtigten.

Wir treten in die Fußstapfen unserer Väter, wenn wir uns versammeln, um unserem Gott, der uns aus jeder Not errettet, unseren Dank auszudrücken. Kommt alle zum Dankgottesdienst, der am 25. Juni um 11.30 Uhr in der Franziskanerkirche stattfindet."

Der Priester war bereit, den Gottesdienst in seiner Kirche abzuhalten, die an diesem Tag überfüllt war von ungarischen Katholiken, die ihrer Freude über die Deportation ihrer jüdischen Nachbarn Ausdruck geben wollten. Der zuständige Bischof untersagte den Gottesdienst nicht, zog es aber vor, nicht daran teilzunehmen. Nicht, weil er den Jubel nicht geteilt hätte, sondern weil unter den Deportierten auch einige vom Judentum übergetretene Christen waren. (Herczl S. 214 f.)

Wären die katholische Kirche, ihre nationalen Kirchen und ihre Geistlichen überzeugt gewesen, dass die Juden unschuldig waren, dass sie sich nicht gegen Christentum, Gesellschaft und Gott vergangen hatten, so hätten wir gewiss Kenntnis davon. Sie hätten es verkündet, öffentlich, in ganz Europa, in jedem einzelnen Land.
Stattdessen gab es einen stimmgewaltigen und anhaltenden Chor von Geistlichen, die die Juden verurteilten und zuweilen ihre Ausschaltung regelrecht feierten. Die wenigen vernehmlichen Ausnahmen unter den Kirchenmännern in diesem Verdammung fordernden Chor waren einsame Rufer. [...]

Eben weil die Kirche und ihre Führer der Ansicht waren, die Juden seien schuldig und eine stete Gefahr, kämpften sie im 19. Jh. in ganz Europa gegen deren Emanzipation, und seit die Kirche in diesem Kampf gegen die Juden geschlagen wurde, hat sie nicht aufgehört, ihre Niederlage zu beklagen. Dass kaum ein Kirchenvertreter es als grundsätzlich ungerechte Strafe empfand, als die Deutschen in den 30er Jahren versprachen, diese Emanzipation rückgängig zu machen, und das auch umzusetzen begannen, ist daher keine Überraschung.
Einige wandten sich gegen bestimmte Aspekte, z.B. gegen die gnadenlose Brutalität des tatsächlichen Ausschaltungsprogramms, und natürlich auch gegen die negativen Konsequenzen, die daraus auch für vom Judentum übergetretene oder mit Juden verheiratete Katholiken erwuchsen. Das entsprach aber keineswegs der Überzeugung, dass die Bestrafung an sich dem "Verbrechen" unangemessen sei oder dass die Juden schuldlos wären. Es hat natürlich Ausnahmen gegeben. Die wenigen in Dtl., die wie die dänische und die norwegische Kirche die Juden als unschuldig betrachteten, empfanden den eliminatorischen Angriff auf die Juden von Anfang an und in den späteren Phasen als ungerecht, ja als Verbrechen.



S. 147 f.) Religiöse und rassistische Dämonisierung

Aus dem rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten und der meisten Deutschen folgte dagegen, dass die Juden unverbesserlich seien, dass ihr Hang zum Bösen vermeintlich angeboren sei und dass die große Bedrohung, die sie angeblich für andere darstellten, demnach so lange fortbestehen würde, wie es Juden gab. Deshalb gaben sich so viele Deutsche bereitwillig zum Massenmord her oder befürworteten ihn als die einzig mögliche "Endlösung" der so genannten Judenfrage, und deshalb erschien ihnen die geschichtlich beispiellose Maßnahme plausibel, die Juden nicht nur in ihrem eigenen Land, sondern weltweit aufzuspüren und zu vernichten.
Aus dem religiös begründeten Antisemitismus der Kirche folgte theoretisch, dass Juden sich ändern konnten. Die Kirche wusste schließlich aus ihrer eigenen Erfahrung mit Übertritten vom Judentum, dass Juden zu Christen geworden waren. Gewiss, die Dämonisierung der Juden durch die Kirche hatte sich im 20. Jh. in Ton und Inhalt an die Dämonisierung durch die rassistischen Antisemiten angeglichen, und es gab namhafte Kleriker, die sich eine rassistische Konzeption des Juden zu eigen machten und sie verbreiteten. Gleichwohl war es ja gerade die Möglichkeit, die Juden zu erlösen, die über Jahrhunderte hinweg die erniedrigende und kränkende, aber streng genommen nicht tödliche eliminatorische Haltung der Kirche gegenüber den Juden geprägt hat, und viele Geistliche in der NS-Zeit kamen möglicherweise deshalb zu dem Schluss, dass die Tötung der Juden weder notwendig noch richtig war.



S. 149 f.) Weshalb die Kleriker die Vollstrecker des Holocaust nicht exkommunizierten

Wenn die Kirche und ihr Klerus von der Schuld der Juden überzeugt waren, ist es in gewissem Sinne nahe liegend und wenig bemerkenswert, dass sie in den 30er Jahren des 20. Jh.s und sogar noch danach die Katholiken lehrten, ja sogar drängten, Antisemiten zu sein, und die nicht tödlichen Ausschaltungsmaßnahmen der Deutschen und ihrer Helfer im Allgemeinen guthießen. Ebenso wenig ist es bei dieser Ansicht bemerkenswert, dass sie sich dazu hergaben, diese offenen Ausschaltungsmaßnahmen auf mancherlei Weise zu unterstützen, z.B. dadurch, dass sie in Dtl. die Abstammungsurkunden zur Verfügung stellten und zuweilen die Maßnahmen ausdrücklich begrüßten. Es ist dann ebenfalls logisch, dass sie weder selbst die Juden verteidigt noch Katholiken dazu aufgefordert haben, nicht im Falle verbaler antisemitischer Attacken, nicht im Falle des rechtlichen und physischen Angriffs.
Auch ist es nicht verwunderlich, dass die katho. Kirche, zwei Päpste und die nationalen Kirchen die Juden nie für unschuldig erklärt haben. Warum hätten sie das tun sollen? Es entsprach nicht ihrer Überzeugung.
Von den nichttödlichen Ausschaltungsmaßnahmen, die zwar gewaltsamer und brutaler waren, im Grunde aber dem Wunsch der Kirche entsprachen, die Emanzipation der Juden rückgängig zu machen, gingen die Deutschen dann zum Massenmord über. Manche ihrer ehemaligen Anhänger im Klerus wandten sich nun von den Verfolgern der Juden ab, weil sie die neue Bestrafung nicht als gerecht betrachteten. Da die Geistlichen aber immer noch der Ansicht waren, die Juden seien schuldig und eine Gefahr, waren sie vermutlich hin- und hergerissen, wie sie sich verhalten sollten. Was sie aus der Sicht eines Nicht-Antisemiten allen hätten sagen müssen, nämlich dass die Juden unschuldig seien, dazu konnten sie sich nicht durchringen. Im Grunde konnten sie jene nicht tadeln, die wie sie selbst von der extremen Schuld der Juden aufrichtig überzeugt waren, die aber, gestützt auf die gemeinsame Überzeugung, bei der Zumessung der Strafe zu weit gingen.
Deshalb unterließ es die Kirche, die Vollstrecker des Holocaust zu exkommunizieren, zu verurteilen oder ihre Bestrafung zu fordern, obwohl sie andererseits sämtliche Kommunisten der Welt auf einen Schlag exkommunizierte, unabhängig davon, ob sie überhaupt Verbrechen begangen hatten.

[...] Ein Großteil der Kirche einschließlich der dt. Kirche war zumindest moralisch tief in den Massenmord verstrickt [...] Den Massenmord zu verurteilen hieß für die Kirchen letztlich, sich selbst zu verurteilen, war doch die Massenvernichtung nur eine logische, wenn auch nicht die einzige logische oder unausweichliche praktische Verlängerung des Antisemitismus, den sie selbst verbreitet hatten, und der vorausgegangenen Ausschaltungsmaßnahmen, die sie unterstützt hatten.
Mochten die Kirchenmänner diese extremste eliminatorische Bestrafung auch missbilligen, so war ihr Antisemitismus doch derart stark, dass sie sich zu Mitleid mit den Juden kaum aufraffen konnten. Die Bedeutung der Kirche und ihre jüngste Geschichte sprachen dagegen, für die Juden einzutreten. Bischöfe und Priester hätten schlagartig und unverzüglich zu Gunsten eines Volkes umschwenken müssen, dem sie starke feindselige Gefühle entgegenbrachten, das in ihren Augen für die Tötung Jesu verantwortlich war und mit dem ihm unterstellten Bolschewismus eine schreckliche Gefahr für den bloßen Bestand der Kirche und die Wohlfahrt der Menschheit darstellte.
[...] viele dieser Geistlichen warteten bis zum letzten Moment, wenn die erwarteten Deportationen unmittelbar bevorstanden, und handelten nicht beharrlich, mit Leidenschaft und Entschlossenheit. Andere handelten erst, als der letzte Moment bereits verstrichen war und die Täter schon Juden in enormer Zahl umgebracht hatten. Pius XII. intervenierte mit seinem Telegramm an Horthy zu spät, erst nachdem die kurz darauf siegreichen Alliierten ihn heftig dazu gedrängt hatten. Auch in der Slowakei intervenierte der Vatikan zu spät und in erster Linie aus Sorge um das Ansehen der Kirche in der Nachkriegszeit, wie sein eigener Vertreter zugab.



S. 151 f.) Die Idee hinter dem Massenmord

Wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, wie es die Kirche und ihre Verteidiger uns offenbar glauben machen wollen, dass es angesichts eines so ungeheuren, sich über einen langen Zeitraum entfaltenden Übels genügt hätte, einmal und dann nie wieder gegen einen Aspekt des Ausschaltungsprogramms der Deutschen Einspruch zu erheben oder sich allenfalls auf kritische Anspielungen auf das massenhafte Morden zu beschränken. Wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, als ließe sich die Zeit völligen Schweigens nachträglich dadurch bemänteln, dass man seine Stimme erhob, als das Töten längst begonnen hatte, als schon Millionen umgekommen waren. Mit einer einzigen, verspäteten Äußerung haben sich in der Regel jene Kirchenmänner begnügt, die tatsächlich an den Ausrottungsmaßnahmen Kritik geübt haben, wie z.B. fast alle französischen Bischöfe. Wer – insbesondere als politischer oder religiöser Führer – Taten verurteilt, die er als große Verbrechen betrachtet, wird sich in der Regel nicht mit einer einmaligen, kurzen und zudem späten Äußerung seines Missfallens begnügen, besonders dann nicht, wenn diese Verbrechen in seinem Namen verübt werden. Er wird unverzüglich und dann immer wieder energisch protestieren. Das ist hier jedoch nicht geschehen.

Und es trifft jedenfalls nicht für Pius XII. zu, der wenig mehr vorzuweisen hat als seine beiden kurzen und verspäteten öffentlichen Hinweise auf Menschen, die wegen ihrer Nationalität oder ihrer Abstammung umgebracht wurden, und seinen sehr späten Appell an Horthy. Während die Deutschen und ihre Helfer Millionen umbrachten, blieb Pius XII. mehr als ein Jahr lang vollkommen stumm. Er protestierte erst, als mit einem Sieg der Deutschen nicht mehr zu rechnen und er von den Alliierten stark unter Druck gesetzt worden war. Er beließ es in seiner Weihnachtsbotschaft 1942 bei einer vagen Bemerkung, die am Ende einer langen Ansprache in einer langen Liste anderer Punkte versteckt war. Er nannte weder die Täter (Deutsche) noch die Opfer (Juden) beim Namen, und er erwähnte mit keinem Wort die Idee, die hinter dem Massenmord steckte: den Antisemitismus. Er vermittelte weder ausführliche, ausreichende Information über den Massenmord, noch bot er Katholiken wie Nicht-Katholiken hinsichtlich der Notwendigkeit, etwas für die Juden zu tun, moralische Führung an. Dass er mit diesen matten, unvollständigen, ausweichenden Äußerungen in bewegender, leidenschaftlicher Weise für die Juden eingetreten wäre, ein Volk, das damals seiner totalen Ausrottung in Europa entgegenging, und dass diese Äußerungen ihn, Pius XII., als einen engagierten Verteidiger der Juden ausweisen sollen, ist schon auf den ersten Blick nicht glaubhaft.



S. 153 f.) Gefangene einer bösartigen Lehre:
Zu viel hätte ungeschehen gemacht werden müssen

Für die Juden einzutreten bedeutete auch, dass der Papst und die Bischöfe zumindest stillschweigend hätten anerkennen müssen, dass das, was sie ihre Gläubigen über die Juden gelehrt hatten, bösartig war. Damit hätten sie ihre religiöse Glaubwürdigkeit und Autorität aufs Spiel gesetzt. Und sie hätten so viel ungeschehen machen müssen. Lewy behauptet, dass ein Protest ihrer Bischöfe zu Gunsten der Juden bei der antisemitischen deutschen Bevölkerung wahrscheinlich auf taube Ohren gestoßen wäre, "denn die Kirche hatte ja jahrelang behauptet, dass die Juden dem Deutschtum schadeten. [...] Selbst wenn die Bischöfe vielleicht bereit gewesen wären, gegen die unmenschliche Behandlung der Juden zu protestieren, hätten sie feststellen müssen, dass sie Gefangene ihrer eigenen antisemitischen Lehren waren."
[...] Wer protestiert, wird ja unvermeidlich zum Fürsprecher desjenigen, den er für einen schurkischen Verbrecher hält, er identifiziert sich mit ihm, und was vielleicht psychologisch noch wichtiger ist, er wird oft von anderen mit ihm identifiziert. [...]
Wie schwer muss es der Kirche und ihrem Klerus psychologisch gefallen sein, nachdem sie ihre Gläubigen all die Jahre hindurch vor den ernsten Gefahren gewarnt hatten, die die Juden darstellten, nun auf einmal öffentlich für eben diese Menschen eintreten zu müssen. Deshalb haben sich z.B. so viele slowakische Priester geweigert, einen verspäteten Protest ihrer Bischöfe gegen die Deportation der Juden auch nur zu verlesen, obwohl der Protest durch seine Abfassung in lateinischer Sprache ohnehin nur noch eine Alibiveranstaltung war. [...] Für Menschen einzutreten, gegen die man feindselige Gefühle hegt, von denen man sich bedroht fühlt oder die man hasst, ist moralisch-psychologisch nicht einfach: Der innere Widerstand lässt sich nur schwer überwinden.
Die protestantischen Kirchen in Norwegen und Dänemark konnten gerade deshalb, weil die Juden in ihren Augen eindeutig unschuldig waren, ohne Schwierigkeiten und mit Leidenschaft für sie eintreten. Für die Juden als Menschen und nicht bloß als Objekte einer ungerechten Bestrafung. In Skandinavien haben die Juden "denselben menschlichen Wert und damit dieselben Menschenrechte wie alle Menschen".
(Zitiert in Carol Rittner, Stephen D. Smith und Irena Steinfeldt, "The Holocaust and the Christian World – Reflections of the Past, Challenges for the Future", New York 2000, S. 242.)

Über die paradoxen Folgen der kirchlichen Haltung gegenüber den Juden sollte man nicht einfach hinweggehen. Wohl stärker als jede andere große nicht-nationalsozialistische Institution in Europa lehrte die Kirche ihre Gläubigen ein hasserfülltes, entmenschlichtes und auf Ausschaltung zielendes Bild der Juden – sie seien ein schuldbeladenes und schädliches Volk – das viele ihrer Anhänger dazu brachte, die Verfolgung der Juden zu unterstützen und vielfach willentlich daran teilzunehmen. Manche Geistliche beteiligten sich sogar an der Vernichtung der Juden.

Jüdisches Überwuchern + strenge Gewissenspflicht



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 134-140) Vorsätzlich, aktiv und konsequent (Schuld und Strafe)

Die Handlungsmuster der katholischen Kirche müssen erfasst und erklärt werden. [...] Wir müssen daher auch die schlechte Gewohnheit meiden, immer wieder von Fall zu Fall Anekdoten aufzutischen, die als Erklärungen durchgehen sollen, etwa die zumeist ohne Beweis vorgetragene Behauptung, bei dieser schlechten Handlung habe jemand Angst vor den Deutschen gehabt oder bei jener schlechten Handlung habe jemand nicht gewusst, was er tut. Diese Erklärungen werden dann [...] von den offensichtlich auf einen gegebenen Einzelfall bezogenen Tatsachen ausgehend, auf andere Handlungen derselben Person oder auf andere Akteure in derselben Situation übertragen. Da die Entscheidungen und Handlungen der Menschen sich aber in allgemeine Muster mit erkennbaren Konturen einfügen, müssen wir vielmehr nach einer allgemeinen Erklärung für diese Muster suchen, wobei es natürlich immer einzigartige Aspekte und deshalb auch Ausnahmen von der Regel gibt.
Um zu erfassen, was die Menschen – auch gewöhnliche Deutsche – in der NS-Zeit hinsichtlich der eliminatorischen Verfolgung der Juden durch die Deutschen gedacht und getan haben, lassen sich ihre Ansichten, die bisher durchgängig und in verwirrender Weise zusammengeworfen worden sind, nach zwei Dimensionen unterscheiden, und jede dieser Dimensionen lässt sich systematisch untersuchen:
1. Ansichten über die Schuld oder Unschuld von Juden und
2. Ansichten über die Angemessenheit einer bestimmten Bestrafung.

Mit dieser Unterscheidung im Hinterkopf können wir auch das Verhalten der katholischen Kirche, ihrer nationalen Kirchen und ihrer Geistlichen in jenen Jahren besser verstehen.
Und sie kann uns helfen, dieses Verhalten im Vergleich zu verstehen, und zwar in zweierlei Hinsicht:
1. gemessen an der Haltung der Kirche gegenüber anderen verbrecherischen Handlungen der Deutschen und
2. gemessen an den Reaktionen anderer Akteure, beispielsweise der Dänisch-Lutherischen Staatskirche und ihrer Geistlichkeit, auf die eliminatorische Verfolgung der Juden.
Zum ersten Thema hier nur eine vorläufige Feststellung. Die katholische Kirche hat es in der NS-Zeit auch gegenüber anderen Völkern und in vielfältiger sonstiger Weise versäumt, gut zu handeln. Doch allein den Juden – und keiner anderen Gruppe – hat die Kirche vorsätzlich, aktiv und konsequent Schaden zugefügt und ihrem Leiden Vorschub geleistet, vom ungeheuren Ausmaß des Unrechts und Leidens ganz zu schweigen.
Diese wesentliche Tatsache muss man im Blick behalten – sie bedarf der Erklärung.


Zweifellos hatten die meisten Deutschen – Urheber, Organisatoren und Haupttäter (wenn auch nicht die einzigen) des europaweiten eliminatorischen Angriffs auf die Juden – eine Vorstellung von den Juden, deren Grundzug ungeachtet aller mannigfaltigen Besonderheiten darin bestand, dass die Juden der größten Verbrechen und der verheerendsten Vergehen gegen Dtl. und die Menschheit schuldig waren und eine beständige Gefahr für die Wohlfahrt und die Existenz Dtl.s darstellten. *)
Die Frage, die sich für alle Geistlichen aller Länder stellt, vom kleinsten Gemeindepfarrer bis hin zum Papst – und die von denen, die über diese Probleme schreiben, fast durchweg ignoriert wird –
ist folgende:

Hielten diese Männer die Juden der Dinge, die ihnen vorgeworfen wurden, für schuldig oder für unschuldig?
Hielten sie, anders gesagt, die außergerichtliche, de facto strafrechtliche Verurteilung der Juden durch die Deutschen, Slowaken, Kroaten und andere für gerechtfertigt oder nicht?
Wenn sie die Juden für schuldig hielten, großes Unglück über Nichtjuden gebracht zu haben, wenn sie glaubten, man mache die Juden zu Recht für große Übel verantwortlich, stellt sich eine zweite Frage:
Betrachteten die katholischen Geistlichen die Strafen, die die Deutschen und ihre Helfer den Juden zumaßen und die sich mit der Zeit änderten, als dem Verbrechen angemessen?
Hielten die Geistlichen die wechselnden Strafen für gerecht oder ungerecht?

*) Siehe "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust", Berlin 1996.
Inzwischen haben meine diversen Feststellungen reichlich Bestätigung erfahren (sogar von jenen, die das Buch mit dem Hinweis auf Ausnahmen angegriffen oder fälschlich behauptet haben, sie hätten das schon immer gesagt). Siehe Marion A. Kaplan, "Der Mut zum Überleben. Jüdische Frauen und ihre Familien in Nazideutschland", Berlin 2001, die ihre zentralen analytischen Konzepte, den "sozialen Tod" und die Tatsache, dass die Deutschen wünschten, die Juden würden "verschwinden", formulierte, unmittelbar nachdem ich diese Begriffe (ich sprach im letzteren Fall von "ausschalten") in die Holocaustforschung eingeführt hatte. Zu einigen aus einer Vielzahl weiterer Beispiele siehe Christiane Kohl, "Der Jude und das Mädchen. Eine verbotene Freundschaft in Nazideutschland", Hamburg 1997, und Thomas Sandkühler, "'Endlösung' in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz, 1941-1944", Bonn 1996.
("Die Bezeichnung 'Oberjuden' ist auch als Ausdruck christlicher Judenfeindlichkeit belegt, so in einer Ostermontagspredigt aus dem Jahr 1836, wo die 'Hohepriester und Ältesten', Matthäus 27:20, die gemäß den Evangelien die Juden dazu bewogen haben sollen, die Kreuzigung Jesus zu fordern, als 'Oberjuden' bezeichnet werden. Auch die KPD verwendet anfangs der 1930er Jahre den Ausdruck 'Oberjuden' in einer Publikation, mit der die mit der NSDAP sympathisierenden Arbeiter angesprochen werden sollten.")
[...] wo die Ausstellung der nordelbischen evange. Landeskirche in Dtl. mit ihrem Bekenntnis: "Die Mehrheit der Kirche [...] unterstützte die Verfolgung der Juden" erörtert wird. Diejenigen, die die Ereignisse selbst miterlebt haben, die Augenzeugen, haben ebenfalls scharenweise mündlich und schriftlich ihre Zustimmung bekundet.
Zu ausgewählten Beispielen siehe "Briefe an Goldhagen", Berlin 1997.

("News about Hitler's Willing Executioners: Front page article in the 'New York Times' on October 15 2010 announces that the revolution in understanding that Hitler's Willing Executioners produced about the Holocaust has unequivocally become, just fifteen years after the book's publication, the consensus view in Germany. The establishment German Historical Museum in Berlin has opened a major exhibition that confirms and builds upon the conclusions of Hitler's Willing Executioners: 'This exhibition is about Hitler and the Germans – meaning the social and political and individual processes by which much of the German people became enablers, colluders, co-criminals in the Holocaust,' said the authoritative Constanze Stelzenmüller, until recently the director of the German Marshall Fund Berlin Office [and McCloy-Rhodes-Scholar]. 'That this was so is now a mainstream view, rejected only by a small minority of very elderly and deluded people, or the German extreme right-wing fringe. But it took us a while to get there.'" [emphasis Goldhagen] "The household items had Nazi logos and colors. The tapestry, a tribute to the union of church, state and party, was woven by a church congregation at the behest of their priest. [...] Instead, the show focuses on the society that nurtured and empowered him. It is not the first time historians have argued that Hitler did not corral the Germans as much as the Germans elevated Hitler. [...] 'The Nazis were members of high society. This was the dangerous moment.'")


Eine unbestreitbare Feststellung


Betrachten wir zunächst die der systematischen Ausrottung vorausgehende Phase der Judenverfolgung durch die Deutschen, mit all den Maßnahmen, die die Juden entmenschlichten und darauf gerichtet waren, sie und ihren Einfluss in einem Land nach dem anderen auszuschalten, so drängt sich die unbestreitbare Feststellung auf, dass praktisch der gesamte katholische Klerus und ein großer Teil seiner Gemeindeglieder die Juden schwerer Verbrechen und Vergehen für schuldig hielten. Die Schuld der Juden, aller Juden, kollektiv und generationenübergreifend, wird in der christlichen Bibel verkündet ("Da rief das ganze [jüdische] Volk: Sein [Jesu] Blut komme über uns und unsere Kinder!" Mt. 27:25). Diese dem jüdischen Volk als Volk zugeschriebene Kollektivschuld war eine zentrale Lehre der katholischen Kirche, und die Kirche hatte sie jahrhundertelang emsig verbreitet. Außerdem waren die Kirche sowie ein Großteil der katholischen Geistlichen und Laien, vor allem in Mittel- und Osteuropa, unangefochten der aus ihrer Religion abgeleiteten Meinung, die Juden hätten einen einzigartigen Hang dazu, Böses zu tun, seien die Urheber ungeheurer gesellschaftlicher und politischer Schäden, die sie ihren Gastländern zufügten, und sie seien die Schöpfer oder Lenker des kommunistischen Ungeheuers.


Donnernde Parolen der Bischöfe


Überall in Europa waren katho. Bischöfe und Priester bestrebt, die Katholiken wissen zu lassen, dass sie die Juden nicht für unschuldig hielten, und verbreiteten sich mit Leidenschaft mündlich und schriftlich über die Schuld der Juden. Hier ein paar führende Stimmen.
Auf dem Höhepunkt des Massenmords schrieb Adolf Kardinal Bertram, vielleicht der maßgebende Kardinal der dt. katho. Kirche, in einer offiziellen Eingabe über "die schädlichen Einflüsse eines Überwucherns jüdischer Einflüsse gegenüber deutscher Kultur und vaterländischer Interessen."
Ein führender österreichischer Bischof, Johannes Maria Gföllner aus Linz, veröffentlichte kurz vor Hitlers Machtübernahme einen Hirtenbrief, der den internationalen Kapitalismus, den Sozialismus und den Kommunismus – die Hauptgefahren für das Wohl der Menschheit – den Juden anlastete. Er erklärte:

"Vom jüdischen Volkstum und von der jüdischen Religion verschieden sei der jüdische, internationale Weltgeist. Zweifellos üben viele gottentfremdete Juden einen überaus schädlichen Einfluss auf fast allen Gebieten des modernen Kulturlebens aus. Presse, Theater und Kino – vorwiegend von Juden genährt – vergifteten mit zynischen Tendenzen die christliche Volksseele. Wirtschaft und Handel [...] Advokatur und Heilpraxis, soziale und politische Umwälzungen sind vielfach durchsetzt und zersetzt von materialistischen und liberalen Grundsätzen, die vorwiegend vom Judaismus stammen."

Wie sollte man darauf reagieren? Der Bischof meinte,

"diesen schädlichen Einfluss des Judentums zu bekämpfen und zu brechen", sei "nicht nur gutes Recht, sondern strenge Gewissenspflicht eines jeden überzeugten Christen."
Man könne nur hoffen, "dass auf arischer und christlicher Seite diese Gefahren und Schädigungen durch den jüdischen Geist noch mehr gewürdigt, noch nachhaltiger bekämpft" würden.
(Kardinal Bertram ist zitiert nach "Akten dt. Bischöfe über die Lage der Kirche 1933-45" Bd. 5, Mainz 1983, S. 944. Zu den anderen Zitaten siehe Kertzer, "Die Päpste gegen die Juden. Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus", Berlin/München 2001, S. 634 f.)

Nicht nur Österreicher, sondern auch Katholiken anderer Länder erfuhren von den Ansichten Bischof Gföllners, denn sein Brief wurde überall in Europa in der katholischen Presse abgedruckt. Kardinal August Hlond, der Primas von Polen, veröffentlichte im Februar 1936 einen Hirtenbrief "Über die Grundsätze der katholischen Moral":

"Solange wie Juden Juden bleiben, gibt es eine Judenfrage und wird es sie auch weiterhin geben [...]
Es ist eine Tatsache, dass Juden Krieg gegen die katholische Kirche führen und dass sie eingefleischte Freidenker sind und die Vorhut des Atheismus, der bolschewistischen Bewegung und revolutionärer Umtriebe bilden.
Es ist eine Tatsache, dass Juden einen verderblichen Einfluss auf die Moral haben und dass ihre Verlage Pornographie verbreiten.
Es ist wahr, dass Juden Betrug begehen, Wucher treiben und mit der Prostitution Geschäfte machen.
Es ist wahr, dass die jüdische Jugend in unseren Schulen einen unter religiösem und ethischem Gesichtspunkt negativen Einfluss auf die katholische Jugend hat."

[...] Im Unterschied zu den Rassisten räumte Kardinal Hlond außerdem mit Nachdruck ein, dass es viele Ausnahmen von der Regel gebe, "anständige, gerechte, freundliche und philanthropische" Juden. Gewalt gegen Juden lehnte er entschieden ab. Seine Hauptbotschaft, dass die Juden den Polen riesigen Schaden zufügten und immer zufügen würden, und seinen Aufruf zu judenfeindlichen Maßnahmen milderte Kardinal Hlond also durch seinen Appell an christliche Grundsätze wie Liebe und letztlich eine gewisse Toleranz, was im polnischen Kontext bedeutete, dass er nicht forderte, sie aus Polen zu entfernen. Der Mehrheit der polnischen Kirche galt er deshalb als zu gemäßigt, andere Kirchenführer und Publikationen forderten regelmäßig, die Juden aus Polen zu entfernen, nicht selten in Form von Vertreibung.
Die Broschüre eines polnischen Jesuiten formulierte kurz und bündig:

"Man muss die Juden aus christlichen Gesellschaften verbannen."
Die Juden sollten gehen, "damit das polnische Volk normal leben und sich normal entwickeln kann". (Celia S. Heller, "On the Edge of Destruction: Jews of Poland Between the Two World Wars", Detroit 1994, S. 109-114)

Der Erzbischof von Zagreb, Aloisius Stepinac, Oberhaupt der kroatischen katholischen Kirche und gewiss keiner der Radikalen unter den kroatischen Kirchenführern, war der Ansicht, dass die Juden ebenso wie die Serben aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben Kroatiens entfernt werden sollten, dass Juden Pornographen und es hauptsächlich ihre Ärzte seien, die das "Übel" Abtreibung vornahmen.
(Zitiert in Menachem Shelah, "The Catholic Church in Croatia, the Vatican and the Murder of the Croatian Jews", in: "Remembering for the Future: Working Papers and Addenda", Bd. 1, Oxford 1989, S. 270, 276.)
Nicht ganz so "gemäßigt" war sein Kollege, Bischof Ivan Saric von Sarajevo. Im Mai 1941 erschien in dessen Diözesanblatt ein Artikel mit dem Titel "Warum werden die Juden verfolgt?", in dem es hieß:

"Die Nachkommen derer, die Jesus hassten, ihn bis in den Tod verfolgten, ihn kreuzigten und seine Jünger verfolgten, sind größerer Sünden schuldig als ihre Vorfahren. Die jüdische Habgier wächst. Die Juden haben Europa und die Welt in die Katastrophe geführt, die moralische und wirtschaftliche Katastrophe. Ihr Appetit wird so lange wachsen, bis allein die Weltherrschaft ihn stillen wird [...]
Der Satan half ihnen bei der Erfindung des Sozialismus und des Kommunismus.
Es gibt Grenzen der Liebe. Die Bewegung zur Befreiung der Welt von den Juden ist eine Bewegung zur Erneuerung der Menschenwürde.
Der allwissende und allmächtige Gott steht hinter dieser Bewegung."
(Shelah, S. 269)

Wie hier wurde das auf die Bibel zurückgehende antisemitische Motiv des Christusmords oft nahtlos mit der von kirchlichen und weltlichen modernen Antisemiten gemeinsam benutzten Parole vermengt, die Juden würden die Welt gesellschaftlich und politisch ausplündern.
Die donnernden Parolen des Bischofs hätten problemlos in einer Veröffentlichung jener "Bewegung zur Befreiung der Welt von den Juden" erscheinen können, der er göttlichen Zuspruch verhieß: des Nationalsozialismus.
In der Slowakei wandten sich die katholischen Bischöfe mit einem Hirtenbrief an die ganze Nation und rechtfertigten die Deportation der Juden in den Tod. Die Bischöfe erklärten:

"Der Einfluss der Juden war verderblich. Sie haben zum Schaden unseres Volkes in kurzer Zeit fast das ganze Wirtschafts- und Finanzwesen unseres Landes an sich gerissen. Nicht nur wirtschaftlich, auch in kultureller und moralischer Hinsicht haben sie unserem Volk geschadet. Deshalb kann die Kirche nicht dagegen sein, wenn der Staat den gefährlichen Einfluss der Juden mit gesetzlichen Regelungen eindämmt."

[...] Als es in Ungarn darum ging, ob die Kirche gegen die Deportation der Juden in ihren sicheren Tod in Auschwitz Einspruch erheben sollte, riet der zweite Mann in der kirchlichen Hierarchie des Landes, Erzbischof Gyula Czapik, als Wortführer der Mehrheit seiner Kollegen ihrem Kirchenoberhaupt, Kardinalprimas Justinian Serédi, zur Zurückhaltung, weil viele Juden "sich gegen die ungarische Christenheit versündigt haben, ohne dass je einer von ihnen dafür gerügt worden wäre." Kardinalprimas Serédi beschloss trotzdem, dass die Kirche sich gegen den Massenmord erklären müsse, doch die Art, wie er es tat, konnte den ohnehin schon starken Antisemitismus in Ungarn nur anfachen:

"Wir leugnen nicht, dass zahlreiche Juden auf Ungarns Wirtschaft, Gesellschaft und Moral einen zersetzenden Einfluss ausgeübt haben. Ebenso ist es wahr, dass die übrigen nicht gegen die Taten ihrer Glaubensgenossen protestierten. Wir zweifeln nicht daran, dass die Judenfrage auf legale und gerechte Weise geregelt werden muss.
Deshalb haben wir gegen die getroffenen Maßnahmen nichts einzuwenden, sofern das Finanzsystem des Staates in Frage steht. Ferner protestieren wir nicht gegen die Beseitigung des schädlichen Einflusses der Juden. Im Gegenteil, wir wünschen, dass er verschwindet."

Mit diesem "Hirtenbrief", der in allen Gemeinden verlesen werden sollte, rechtfertigte die ungarische Bischofssynode insgesamt die Vorstellung, dass alle Juden schuldig seien, weil sie entweder nichtjüdischen Ungarn großen Schaden zugefügt oder andere Juden nicht daran gehindert hatten. Dass sämtliche verbrecherischen Maßnahmen, die die ungarische Regierung vor der Deportation gegen die Juden ergriffen hatte (Vertreibung aus
ihren Häusern, ihren Arbeitsstellen etc.), zu unterstützen seien und dass der Einfluss der Juden (in Wahrheit die Juden selbst) aus der ungarischen Gesellschaft entfernt werden solle. (Im Gegensatz zu den katho. Bischöfen verfassten die Bischöfe der beiden protesta. Kirchen ihren eigenen Hirtenbrief, in dem, ungeachtet seiner Probleme und des ansonsten kläglichen Verhaltens der protesta. Führung, gefordert wurde, die Gewalt gegen Juden und deren Deportation ohne Einschränkung einzustellen. Kardinal Serédi hatte mehrfache Bitten der Protestanten, angesichts des Schicksals der Juden eine Einheitsfront zu bilden, abgelehnt. Siehe Moshe Herczl, "Christianity and the Holocaust of Hungarian Jewry", New York 1993, S. 205-216.) Die katho. Bischöfe erließen diesen Brief Ende Juni 1944, als die Deportationen der ungarischen Juden in den Tod ihren Höhepunkt erreichten.