November 2, 2010

Sein Blut komme über uns und unsere Kinder



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 113-122) Faschistisch-sozialistisches SS-Regime trifft uralten Wunsch
christlicher Glaubenshüter

Dass ein solcher Antisemitismus in Civiltà cattolica in Erscheinung trat, war von ungeheurer Bedeutung. Es war innerhalb und außerhalb der Kirche bekannt, dass Civiltà cattolica die Auffassung des Heiligen Stuhls wiedergab. Pius IX. hatte das Blatt, das von einer Gruppe von Jesuiten unter der Leitung eines vom Papst ernannten Direktors gemacht wurde, im Jahr 1850 gegründet, und zwar zu dem Zweck, die Ansichten des Papstes darzustellen. Daraus erwuchs der Zeitschrift zwangsläufig großer Einfluss auf die Geistlichkeit und letztlich auch auf die katholischen Laien.
Seine herausragende autoritative Stellung rührte daher, dass es der direkten Aufsicht des vatikanischen Staatssekretärs – das war in den 30er Jahren Pacelli – und des Papstes – das war während der NS-Zeit zunächst Pius XI. und anschließend Pacelli, nunmehr Pius XII. – unterstand. Jede Ausgabe von Civiltà cattolica wurde vor Erscheinen vom Staatssekretär und oft auch vom Papst persönlich daraufhin geprüft, ob sie die Lehren der Kirche sowie die Ansichten und Interessen des Papstes korrekt darstellte. Wenn Civiltà cattolica einen schädlichen und aufwieglerischen Antisemitismus vertrat, von dem wir hier nur eine Auswahl zeigen, dann geschah das folglich mit dem Wissen und der Billigung Pacellis. Er war offenbar der Ansicht, dass die antisemitischen Anschuldigungen und Hetzreden die Ansichten der Kirche korrekt wiedergaben, und er glaubte offensichtlich, dass ihre Veröffentlichung den Interessen der Kirche dienlich sei. Andernfalls wären sie nicht veröffentlicht worden. Hätte ein Diener Gottes, der diesen Antisemitismus, solche herabsetzenden und kränkenden Ansichten nicht teilte, deren Veröffentlichung in einem der wichtigsten Organe seiner Religion wiederholt gutgeheißen? (Kertzer S. 180 f.) [...]

Wie groß muss der Antisemitismus der Kirche gewesen sein, wie teuflisch und gespenstisch muss ihr Bild von den Juden gewesen sein, dass ein namhaftes Mitglied der Kirche eine solche Idee schon 1937 ausdrücklich erörtern konnte und die einflussreichste vatikanische Zeitschrift sich mit Erlaubnis Pacellis entschied, das abzudrucken.
In den Vorstellungen der Kirche waren die Juden schlimmer als die schlimmsten Verbrecher.
Ließ sich angesichts der offiziellen kirchlichen Billigung der Todesstrafe aus der Feindschaft der Kirche gegen die Juden, aus den großen Verbrechen, derer sie die Juden für schuldig hielt, nicht ableiten, dass sie die Todesstrafe für angemessen hielt? Civiltà cattolica selbst räumte das ein. Ein solch tödliches Vorgehen gelte dann nicht als Mord, sondern als gerechte Hinrichtung – selbst wenn die Kirche eigentlich die Position vertrat, dass man die Juden am Leben lassen, aber strengen Einschränkungen und Benachteiligungen unterwerfen solle, als warnendes Beispiel für andere, die daran denken mochten, Jesus nicht als ihren Erlöser anzuerkennen.
Nur deshalb propagierte oder akzeptierte die Kirche diese Folgerung nicht offiziell als Handlungsanleitung.
Es war ein eher formales Hindernis.

Als der Entwurf der Enzyklika bei Pater Rosa einging, hatte er gerade seinen eigenen Artikel über die Frage publiziert, wie mit den Juden zu verfahren sei. Zwei Wochen zuvor hatte Italien mit dem ersten antisemitischen Dekret vom September 1938 die Ausweisung ausländischer Juden verfügt. In seinem Artikel nahm er zwar zustimmend Bezug auf eine 1890 in Civiltà cattolica erschienene Artikelserie, in der die jüdischen Ausnahmen von der jüdischen Regel verteidigt wurden: "Nicht alle Juden sind Diebe, Hetzer, Betrüger, Wucherer, Freimaurer, Schwindler und Verderber der Moral. Überall gibt es eine gewisse Zahl von ihnen, die sich an den üblen Handlungen der anderen nicht beteiligt." (Sogar für Hitler hatte es einen guten Juden gegeben. Er war Antisemit gewesen und hatte Selbstmord begangen. Siehe Henry Picker, "Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941-42", Bonn 1951, S. 346.) Aber lt. Enrico Rosa SJ zeigte die Erfahrung, dass der Polemiker im Jahr 1890 auch mit seiner Feststellung Recht hatte, die bürgerliche Gleichstellung der Juden habe

"die Folge gehabt, dass Judentum und Freimaurerei sich zusammentaten, um die katholische Kirche zu verfolgen und die jüdische Rasse über Christen zu stellen, sowohl hinsichtlich heimlicher Macht wie hinsichtlich sichtbaren Reichtums."

Die Ansichten Rosas kamen fast offiziellen Erklärungen der Kirche gleich, und in der ganzen katholischen Welt wurden sie auch als solche aufgefasst, wie der Nachruf auf ihn in der Zeitschrift der Jesuiten deutlich macht:

"Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Enrico Rosa dreißig Jahre lang als Interpret und unerschrockener Verfechter der Direktiven des Heiligen Stuhls an der Spitze des italienischen katholischen Journalismus stand." (Kertzer S. 358)

Selbst die antirassistische Enzyklika, diese von Pius XII. verworfene Verteidigung der Juden, fordert, die "eigentliche Grundlage der gesellschaftlichen Sonderstellung der Juden gegenüber der übrigen Menschheit" zu verstehen, nämlich die Religion, was dem Verfasser Gelegenheit gibt, bösartige antisemitische Vorstellungen vorzutragen. Die Enzyklika beschwört das Bild von Christusmördern – "die Tat, mit der das jüdische Volk seinen Erlöser und König tötete" – die "den göttlichen Fluch auf ihre eigenen Häupter herabbeschworen [...] wie es scheint, dazu verurteilt [...] ewig über die Erde zu irren", und getroffen vom "Zorn Gottes [...] weil es [Israel] das Evangelium zurückgewiesen hat." Sie warnt vor "den spirituellen Gefahren [...] denen der Kontakt mit den Juden die Seelen aussetzen kann," und – ganz im antisemitischen Jargon der Zeit – davor, dass Juden "revolutionäre Bewegungen [...] unterstützen [...] die auf nichts anderes abzielen, als die gesellschaftliche Ordnung umzustürzen und den Seelen die Kenntnis, den Respekt und die Liebe Gottes zu entreißen." (Passelecq und Suchecky S. 265-270)

Das war es, was Juden von ihren "Freunden" innerhalb der Kirche erhoffen konnten: eine Verurteilung von Gewalt und rassistischer Verfolgung, die im nächsten Atemzug von dem anscheinend nicht zu unterdrückenden, uralten Wunsch kirchlicher Oberhäupter untergraben wird, deutlich zu machen, dass die Juden tatsächlich von Übel seien. Damit aber wird das weltanschauliche Fundament des eliminatorischen Angriffs auf die Juden faktisch bestätigt.

Die nationalen Kirchen (Polens, der Slowakei, Frankreichs und anderer Länder) waren nicht besser und zum Teil noch schlimmer. Überall in Europa und besonders in Dtl. verbreiteten katholische Publikationen vor und während der NS-Zeit und auch dann noch, als der Massenmord an den Juden im Gange war, antisemitisches Gift, das von dem der Nationalsozialisten oft nicht zu unterscheiden war.
In Dtl. rechtfertigten sie die Entfernung der jüdischen "Fremdkörper" aus dem Land häufig mit rassistischen Begründungen. Antisemitische Aktionen waren den dt. katho. Publikationen zufolge "gerechtfertigte Notwehr, [um] schädliche Eigenarten und Einflüsse der jüdischen Rasse zu verhindern."
(Zitiert in Bernd Nellessen, "Die schweigende Kirche: Katholiken und Judenverfolgung",
in: Ursula Büttner, "Die Deutschen und die Judenverfolgung im Dritten Reich", Hamburg 1992, S. 265)
Erzbischof Conrad Gröber veröffentlichte im März 1941 einen antisemitischen Hirtenbrief, in dem er den Juden vorwarf, am Tod Jesu schuld zu sein, und gab unter Berufung auf das Matthäus-Evangelium zu verstehen, dass die damaligen Ausschaltungsmaßnahmen der Deutschen gerechtfertigt seien:

"Über Jerusalem gellt indessen der wahnsinnige, aber wahre Selbstfluch der Juden: 'Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!' Der Fluch hat sich furchtbar erfüllt. Bis auf den heute laufenden Tag." (Lewy, "Die katholische Kirche und das dritte Reich", S. 322)

Warum wurde dieser dt. Bischof nicht von den anderen dt. Bischöfen zurechtgewiesen?
Warum nicht von Pius XII.?
Das wird vielleicht verständlicher, wenn wir berücksichtigen, was der antisemitische Pius XII. der Civiltà cattolica alles zu veröffentlichen erlaubte und dass er es für nötig erachtete, im Juni 1943, auf dem Höhepunkt des Massenmords, in seiner Enzyklika Mystici corporis den Gottesmord-Vorwurf erneut heraufzubeschwören und das "alte Gesetz" als "todbringend" anzufechten.

Wir sollten uns vielleicht überlegen, wie sich die antisemitischen Lehren der Kirche auf die Bereitschaft gewöhnlicher Deutscher, Polen etc. ausgewirkt haben mag, die gewaltsame Ausschaltung der Juden zu unterstützen. Stellen wir uns einen Menschen vor, der an die dämonisierenden Vorstellungen glaubte, die Juden seien Christusmörder, Werkzeuge des Teufels, sie bedrohten das dt., litauische oder slowakische Volk, sie seien für den Bolschewismus verantwortlich, sie verursachten Wirtschaftskrisen wie die Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre, sie unterminierten die Moral und dergleichen mehr. Was würde dieser Mensch tun, wenn führende Politiker sagten: Wir müssen diese bösen Menschen ausschalten, die Ihnen, Ihrer Familie und Ihren Landsleuten so viel Leid zufügen. Würde er sich dem Vorhaben, diejenigen loszuwerden, von denen er so etwas glaubt, widersetzen, nur weil er möglicherweise auch glaubt, die Ursache ihrer Frevelhaftigkeit sei ihre Religion (was die Kirche in jenen Jahren eindeutig nicht in den Vordergrund stellte), zumal wenn er wüsste, dass eine Massenbekehrung nicht einmal eine entfernte Möglichkeit war? Und würde ihm auffallen, dass die Kirche ihn zwar zusammen mit anderen auf die extreme Gefahr aufmerksam gemacht haben mag, die von den teuflischen Juden ausgeht, dass aber nicht die Kirche, sondern die Regierung praktische Lösungen für politische Probleme – und so wurde die bedrohliche "Judenfrage" in ganz Europa letztlich verstanden – erarbeitet und verwirklicht?

Die kirchlichen Autoren waren überraschend unfähig, eine praktikable nichteliminatorische politische Lösung für das vermeintlich weltgeschichtliche "Judenproblem" vorzuschlagen, das sie doch immer wieder als so schwerwiegend dargestellt hatten. Wohl deshalb waren ihre Anhänger und sogar die Geistlichen selbst so empfänglich für die praktischen, teils sogar "endgültigen" eliminatorischen Maßnahmen der Deutschen: Die dt. katho. Kirche beliebte aktiv mit der Regierung zusammenzuarbeiten, um die eliminatorischen Rassengesetze durchzusetzen, slowakische und kroatische Geistliche gaben sich zum Massenmord her.


Was war los mit den Moralaposteln?


Diskutiert man die Rolle der katholischen Kirche bei der Vernichtung der europäischen Judenheit, trifft man oft auf eine dritte Ablenkungsstrategie: Mal wird die Kirche als moralische, mal als politische Institution präsentiert, aber ohne dass man auf ihren politischen Charakter oder auf die veränderte Diskussionsgrundlage eingeht.
Legitimiert wird die Kirche als eine moralische Institution, doch bei der Verteidigung ihrer Fehler beruft man sich auf die realen oder erfundenen Zwänge, mit denen sie als politische Institution konfrontiert war. [...]
Will die katholische Kirche ihrem Sonderstatus als universale moralische Institution gerecht werden – den sie ausdrücklich beansprucht, schließlich bedeutet katholisch allumfassend – muss sie sich wirklich in erster Linie um die Seelen und den sittlichen Lebenswandel kümmern und ihr Augenmerk auf das Wohl aller Menschen richten. [...] Wenn wir die Selbstdarstellung der Kirche ernst nehmen und sie nicht als politische, sondern als moralische Institution und ihre Führer nicht als politische, sondern als moralische Akteure beurteilen, dann müssen wir uns einigen beunruhigenden Problemen stellen.
Was war los mit dieser moralischen Institution und ihren moralischen Führern, dass sie nicht erkannten, dass der Nationalsozialismus von unübertroffenem Übel war? Schon 1933 präsentierte Hitler als Blaupause für die Veränderung der Welt eine rassistische, tödliche Auffassung von der menschlichen Natur, die für Geistliche in der Nachfolge Jesu ein Gräuel sein musste. Hitler predigte einen glühenden Hass auf die Juden und forderte schon 1920, praktisch vom Beginn seiner Politikerlaufbahn an, ausdrücklich ihre Ausschaltung.
Bereits damals machte er deutlich, dass die von ihm bevorzugte Form der Ausschaltung die Ausrottung war.

"Es beseelt uns die unerbittliche Entschlossenheit," erklärte er, "das Übel [die Juden] an der Wurzel zu packen und mit Stumpf und Stiel auszurotten [...] Um unser Ziel zu erreichen, muss uns jedes Mittel recht sein, selbst wenn wir uns mit dem Teufel verbinden müssten." (Hitler, "Sämtliche Aufzeichnungen 1905-24", hgg.v. E. Jäckel, A. Kuhn, Stuttgart 1980, S. 119 f.)

Er verherrlichte den Krieg. Er war auf die Eroberung anderer Länder aus. 1939, gar nicht zu reden von 1941, praktizierte Hitler unbestreitbar das, was er stolz und unablässig gepredigt hatte. Katholiken sollten so gut wie alle anderen wissen, dass man mit dem Teufel – oder mit dem, der ihm auf weltlicher Seite am nächsten kommt – keinen Pakt eingeht. Doch genau das tat die Kirche mit ihrem Konkordat, und sie, Pius XII. und die dt. nationale Kirche hielten sich trotz des ungeheuren Massenmords der Deutschen während des ganzen Krieges daran.

Warum lenkten diese moralische Institution und ihre moralischen Führer nicht wenigstens einen Hauch des Zorns, mit dem sie in diesen Jahren die unschuldigen und harmlosen Juden überschütteten, gegen Hitler und die Nationalsozialisten? Warum sprachen diese moralische Institution und ihre moralischen Führer trotz des unter seiner Ägide verübten Massenmords relativ maßvoll über den Nationalsozialismus, während sie die Sowjetunion mit den gehässigsten Beschimpfungen attackierten? Während die Kirche 1937 in der Enzyklika Mit brennender Sorge am Nationalsozialismus selbst nur behutsam Kritik übte (dabei aber einige gegen die Religion gerichtete Maßnahmen in Dtl. lauthals verurteilte), war die aus demselben Jahr stammende antikommunistische Enzyklika Divini Redemptoris Pius' XI. im Vergleich dazu ein donnerndes, kompromissloses Verdammungsurteil: Der Kommunismus zerstört das Christentum und die Christen "mit einem Hass, einer Barbarei und einer Grausamkeit, wie man sie in unserm Jahrhundert vorher nicht für möglich gehalten hätte."
Er ist eine "satanische Geißel", eine "falsche Erlösungsidee" und die "verheerende Seuche, die das Mark der menschlichen Gesellschaft auffrisst und sie völlig zersetzt."
Er erzeugt "Gehässigkeit und Zerstörungswut" und glaubt, dass alle, "die sich diesen systematisch geübten Gewalttätigkeiten widersetzen, als Feinde des Menschengeschlechtes vernichtet werden müssen." (Siehe auch Zuccotti S. 23.)
Warum – und diese Frage zielt auf Pius XII. selbst – war der vatikanische Staatssekretär Pacelli in den 30er Jahren so emsig bemüht, die von Kirchenvertretern geäußerte Kritik am Nationalsozialismus oder an Deutschland abzumildern? (Passelecq und Suchecky S. 131 f.)

Welche Prinzipien galten, als diese moralische Institution aus Eigennutz, nämlich um ihrer Macht willen, die Moral aufs Spiel setzte? Nehmen wir zum Beispiel die 30er Jahre, als die Nationalsozialisten die Juden einem massiven, gewalttätigen, eliminatorischen Angriff aussetzten, Konzentrationslager schufen (in die sie anfangs Kommunisten und Sozialisten sperrten, die sowohl das Regime als auch die Kirche bekämpften) und die Folter zur gängigen Praxis des Regimes machten. Von einer Existenzgefährdung der Kirche konnte nicht im Entferntesten die Rede sein, und doch blieb sie stumm, ja in manchen Gegenden gewährte sie dem Regime sogar stillschweigende oder tätige Unterstützung.

In der Diskussion der moralischen Versäumnisse der Kirche geht nicht nur ihre Pflicht gegenüber den Opfern, sondern auch, ja, ihre Pflicht gegenüber den Tätern unter. Ihre vorrangige Verantwortung gilt ja nach ihrem eigenen Selbstverständnis nicht dem Leib, sondern der Seele. Warum hat sie es dann völlig versäumt, sich um die Seelen der Massenmörder und all derer, die Juden verfolgten, zu kümmern? Warum hat sie sie nicht gewarnt, sie darüber aufgeklärt, dass die Todsünden, die sie begingen, ihr Seelenheil gefährdeten? (Katechismus §§ 1852-61)
Es machte dieser moralischen Institution nichts aus, ihre Herde in jenen Jahren vor allen möglichen geringeren Gefahren und lässlichen Sünden zu warnen, einschließlich der vermeintlichen Gefährdung christlicher Seelen durch eine herbeifantasierte jüdische Unterwanderung.
Warum wies diese moralische Institution nicht mit lauter Stimme, mehr noch, mit Pauken und Trompeten auf die Gefahr der Verdammnis hin, in die sich die willigen Vollstrecker stürzten, um einige von ihnen von der Sünde abzuhalten oder, wenn sie schon gesündigt hatten, damit sie sich um tätige Wiedergutmachung bemühten, zunächst, indem sie sich weigerten zu morden (was das NS-Regime ihnen erlaubte), und dann, indem sie den Juden in jeder erdenklichen Weise halfen? Warum predigte diese moralische Institution den Katholiken nicht mit aller Eindringlichkeit: Ihr sollt Juden nicht hassen. Ihr sollt sie nicht verfolgen. Ihr sollt nicht Massenmord begehen. Ihr sollt euch mit all eurer Kraft den Mördern widersetzen.

Eine Beurteilung der katholischen Kirche als moralische Institution muss vor allem berücksichtigen, dass die Kirche de facto Hitler diente – denn nicht zu entscheiden ist auch eine Entscheidung – dem Menschen, der dem Antichristen auf Erden am ehesten entsprach, und dass sie stillschweigend und gelegentlich auch tätig Beihilfe zum Massenmord leistete.
Es gab rechtschaffene Menschen in der Kirche.
Es gab Bischöfe, Priester, Nonnen und Laien, die Protest erhoben und halfen, Juden zu verstecken.
Sie werden in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt. Viele von ihnen, so etwa einige Mitglieder der überwiegend katholischen polnischen Organisation Zegota, wurden (auch wenn sie gleichzeitig Antisemiten waren) durch ihre religiöse Überzeugung dazu veranlasst, Juden zu retten. Aber sie handelten aus eigener Verantwortung, in deutlichem Gegensatz zur offiziellen Linie der Kirche.
Es fällt schwer, die Kirche jener Jahre als moralische Institution zu verteidigen, zumindest was den Nationalsozialismus und den Holocaust angeht. Ihre Verteidiger versuchen es denn auch kaum. Sie suchen ihre Zuflucht stattdessen darin, die Kirche als politische Institution zu verteidigen. Sie sagen, die Kirche habe diplomatische Rücksichten nehmen müssen, sie habe im Krieg neutral bleiben müssen, weil sie sich sonst selbst gefährdet hätte, sie sei überzeugt gewesen, den Kampf gegen den Kommunismus unterstützen zu müssen.
(Siehe Rychlak, HWAP, und Blet, PZWK. Selbst einige Kritiker der Kirche übernehmen diese Argumentation. Siehe Zuccotti, UHVW, S. 167 f., 313-316.) Wie steht die Kirche also da, wenn wir bei ihrer Beurteilung den Maßstab anlegen, der ihrem wahren politischen Charakter entspricht?

Tatsächlich ist die Kirche fast von Anfang an eine politische Institution gewesen, die um diesseitige Macht mindestens ebenso sehr wetteiferte, wie sie sich um jenseitige Dinge kümmerte. Im 19. Jh. vollzog die Kirche eine verhängnisvolle politische Wendung: Sie verwarf Liberalismus, Demokratie und Kapitalismus und damit die Moderne schlechthin.
In einer der bedeutendsten Enzykliken ihrer Geschichte, der Enzyklika Quanta cura von Papst Pius IX., erklärte die Kirche 1864 ausdrücklich die Vorstellung, "[d]er römische Papst kann und muss sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vergleichen," zur "Irrlehre". (Kertzer S. 170)
Es lag nahe, dass die Kirche in ihrem Kampf gegen die Moderne reflexartig zum Antisemitismus griff.
Die Juden waren in ihren Augen für die Moderne verantwortlich, ihnen lastete sie die verhassten politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen an, welche die Kirche und ihren Einfluss auf ihre Gläubigen bedrohten. So heißt es in der Enzyklika:

"Durch sie [die Sekten] gewinnt des Satans Synagoge, die ihre Heerscharen gegen die Kirche Christi um sich schart, ihre Kraft."

Diese Enzyklika, schreibt Kertzer, sollte "das kirchliche Selbstverständnis für die folgenden Jahrzehnte prägen", insbesondere ihre Berufung auf "Satans Synagoge" – so wird das jüdische Gotteshaus in der christlichen Bibel genannt – als Quelle des Übels Moderne.
(S. 169 f. In der amerikanischen Einheitsübersetzung heißt es mittlerweile "Versammlung des Satans".
Die dt. Einheitsübersetzung spricht weiterhin von "Satans Synagoge".)

Sich an alle Menschen wendend, die an umkämpften Institutionen, Gebräuchen und Traditionen festhalten wollten, versuchte die Kirche das enorme Reservoir des europäischen Antisemitismus für ihre politische Schlacht gegen die Moderne zu mobilisieren. Und so griff sie Juden unbarmherzig an. Die politische Taktik, die zumal der echten Überzeugung der Kirchenmänner entsprach, war klar. Wenn man die Moderne mit den Juden gleichsetzen konnte, war die Schlacht schon halb gewonnen.
Die Kirche bediente sich einer alltäglichen, altehrwürdigen, gesamteuropäischen politischen Strategie, die ebenso der Überzeugung wie dem zweckgerichteten Kalkül entsprang: Institutionen dadurch anzugreifen, dass man sie mit Juden gleichsetzte. Den größten Erfolg hatte sie damit natürlich in Dtl., wo rassistische Antisemiten die Juden zum zentralen Symbol für jede vermeintliche Fehlentwicklung in Deutschland und in der Moderne gemacht hatten.
(Die Rolle der Kirche bei der Entstehung des antimodernen, antidemokratischen kulturellen und politischen Klimas, das zum Aufstieg des Nationalsozialismus, des Faschismus und anderer antidemokratischer, antimoderner Institutionen im 20. Jh. führte, wird – auch jenseits von Antisemitismus und Holocaust – vielfach unterschätzt und müsste bei einer umfassenden Beurteilung der Kirche ebenfalls thematisiert werden.)

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