October 31, 2010

Christlicher Massenmord zum Wohl des Volkes



Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

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S. 87-90) Slowakische Staatspitze offen antisemitisch-klerikal

In der Slowakei war die katholische Kirche nicht nur äußerst einflussreich – ihre Priester waren die politischen Gründer und Führer des jungen unabhängigen Staates.
Der antisemitische Pater Andrej Hlinka gründete 1905 die Slowakische Volkspartei, und nach seinem Tod im Jahr 1938 wurde Monsignore Jozef Tiso, sein Nachfolger, 1939 erster Präsident des deutschen Satellitenstaates Slowakei. Ministerpräsident wurde der ausgesprochen fromme Katholik Vojtech Tuka. Ihre Regierung erließ umfassende antisemitische Gesetze nach dem Vorbild der deutschen und zettelte die Deportation der slowakischen Juden an, indem sie Anfang 1942 die Deutschen ersuchte, 20 000 Juden zu deportieren. Nach außen hin erfüllte die Slowakei damit das ihr auferlegte Arbeitskräftekontingent. Adolf Eichmann hat später bemerkt, die slowakischen Behörden hätten den Deutschen ihre Juden wie "saures Bier" angeboten.
Im August 1942 – die Deportation der slowakischen Juden in den Tod hatte begonnen – predigte der Priester-Präsident Tiso in einer Sonntagsmesse unter Verwendung antisemitischer Floskeln und Argumente, wie sie auch die Nationalsozialisten benutzten, die Vertreibung der Juden sei eine christliche Tat, weil die Slowakei sich "ihrer Schädlinge" entledigen müsse. Er berief sich auf die Autorität seines priesterlichen Vorgängers Pater Hlinka, der im Einklang mit den Ansichten vieler Katholiken seiner Zeit – entgegen der offiziellen Politik der Kirche – die rassistische Lehrmeinung verkündet hatte: "Ein Jude bleibt ein Jude, und wenn er von hundert Bischöfen getauft ist." (Livia Rothkirchen, "The Churches and the Deportation and Persecution of Jews in Slovakia", in: Carol Rittner, Stephen Smith und Irena Steinfeldt, "The Holocaust and the Christian World", S. 106)

Einzelne slowakische Bischöfe kritisierten diese Haltung, doch die Mehrheit der Kirchenführung unterstützte den auf Ausschaltung der Juden gerichteten Kurs der Regierung. Sie brachte das auch zum Ausdruck.
Auf dem Höhepunkt der Deportationen im April 1942 verabschiedeten die slowakischen Bischöfe einen gemeinsamen Hirtenbrief, der im Grunde die Deportation der Juden als Christusmörder rechtfertigte:

"Die Tragödie des jüdischen Volkes besteht darin, dass es den Erlöser nicht anerkannte und ihm einen schrecklichen und schimpflichen Tod am Kreuz bereitete."

Dies vervollständigten sie mit modernen antisemitischen Vorwürfen:

"Auch bei uns war der Einfluss des Judentums schädlich [...] Er wirkte sich nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kultur und im sittlichen Bereich schädlich aus. Die Kirche kann somit nichts dagegen einzuwenden haben, wenn die Staatsmacht solche gesetzlichen Maßnahmen ergreift, dass dieser schädliche Einfluss der Juden verhindert werde."

Zuvor hatten die slowakischen Bischöfe bei ihrer Regierung erfolgreich zu Gunsten von Christen interveniert, die vom Judentum übergetreten waren, nicht aber zu Gunsten der Juden. Die Christen wurden nicht deportiert.
(Siehe Morley, " Vatican Diplomacy and the Jews During the Holocaust", S. 76, 84, 86 und Rothkirchen, S. 105 f.)
Nach alldem kann es niemanden mehr verwundern, was ein slowakischer Priester einem der maßgeblichen Vollstrecker bezüglich der Deportation der Juden auf den Weg gab: Vojtech Tuka, der mörderische katholische Ministerpräsident der Slowakei, vertraute einem deutschen Diplomaten an, er habe seinem Beichtvater erklärt, dass er wegen der Deportation der slowakischen Juden ein reines Gewissen habe. Der Priester, sagte Tuka, sei "nicht gegen seine Handlungsweise" gewesen, solange seine Taten "dem Wohl seines Volkes" dienten.
(Der Hirtenbrief ist zitiert nach Ladislav Lipscher, "Die Juden im Slowakischen Staat 1939-1945", München/Wien 1980 – Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 35 – S. 190. Siehe auch Rothkirchen, "The Destruction of Slovak Jewry", S. 146.)

Mit der Veröffentlichung eines Hirtenbriefes gegen die Deportation warteten die Bischöfe bis zum März 1943 – da waren die Deportationen mit all ihren offensichtlichen Brutalitäten seit fast einem Jahr im Gange, und inzwischen waren drei Viertel der slowakischen Juden in den Tod geschickt worden.
Dass sie sich zu Wort meldeten, lag ersichtlich nur daran, dass das Kriegsglück der Deutschen sich gewendet hatte – und trotzdem waren viele Bischöfe noch gegen den Brief. Die slowakischen Bischöfe beschlossen, den Brief auf Latein verlesen zu lassen, das kaum ein Slowake verstand.
Auf diese Weise animierte der Brief garantiert nicht viele dazu, Mitgefühl für die Juden zu empfinden oder ihnen zu helfen. Der Klerus wehrte sich so entschieden gegen den Brief, dass viele Priester ihn überhaupt nicht verlasen oder so verfälschten, dass er den Angriff auf die Juden nicht mehr verurteilte.
Der Vatikan protestierte mehrmals diskret, aber vergeblich bei der slowakischen Regierung, allerdings hauptsächlich zu Gunsten von Katholiken, die vom Judentum übergetreten waren oder in Mischehe lebten. Er war aufs Höchste besorgt, dieses erklärtermaßen katholische Regime könnte die Kirche und den Papst in den Massenmord verwickeln – dass die Kirche in der Slowakei das Sagen hatte, ließ sich nicht bestreiten.
Die dt. Regierung hatte zuvor mit "unverhohlener Genugtuung" bemerkt, dass die antisemitischen Gesetze der Slowaken "in einem Staat erlassen wurden, an dessen Spitze ein Mitglied des katholischen Klerus steht".

Im Oktober 1944, als die Niederlage der Deutschen absehbar war, warnte der Vertreter Pius' XII. Präsident Tiso vor dem Schaden, den weitere Deportationen der Kirche zufügen würden:

"Das von der Regierung begangene Unrecht ist dem Ansehen des Landes abträglich und wird von Gegnern ausgenutzt werden, um den Klerus und die Kirche weltweit zu diskreditieren."

Wie die Kirche selbst deutlich machte, war diese Intervention in hohem Maße von egoistischen politischen Interessen der Kirche und kaum von Mitgefühl mit den todgeweihten Juden geleitet. *)
Wie bei dem späten Appell an Horthy in Ungarn verschaffte sich die Kirche mit dieser weniger als halbherzigen Intervention ein Feigenblatt, das ihre unentschuldbare Haltung in der künftigen, von den Alliierten dominierten Welt verdecken sollte.

*) Siehe auch John F. Morley, ("Sister" Margherita Marchione) "Vatican Diplomacy ...", S. 92 f. zum zynischen internen Vermerk vom 7. April 1943, in dem Monsignore Domenico Tardini wegen der Befürchtung, die Handlungsweise Pater Tisos werde der Kirche angelastet, empfiehlt, der Vatikan solle bei Tiso protestieren.
Der Vatikan könne dann den Inhalt des Protestschreibens durchsickern lassen, "damit die Welt erfährt, dass der Heilige Stuhl seine Verpflichtung zur Nächstenliebe erfüllt." Anschließend überlegt er, dass, "falls die Juden [...] unter den Siegern sein sollten," ein solcher Protest der Kirche bei ihnen nicht verfangen werde, weil sie "dem Heiligen Stuhl und der katholischen Kirche nie sonderlich wohlgesonnen sein werden".
Diesen Zynismus kann auch nicht mildern, dass der erste Absatz des Vermerks die Verfolgungen anprangert und feststellt, dass "die Judenfrage eine Menschheitsfrage ist", die Kirche daher "vollkommen zu einer Intervention berechtigt" sei. Doch davon abgesehen könnten wir fragen, was er mit den siegreichen Juden meint. Sie wurden in Massen umgebracht, waren machtlos und hatten keine Armee.
Welche Vorstellungen hatte er von der Macht der Juden, dass er sie sich als Sieger vorstellen konnte?

Was unternahm die katholische Kirche gegen Präsident Tiso, den Priester, der unter ausdrücklicher Berufung auf die Autorität der Kirche zum Massenmord an den Juden beitrug? Was unternahm sie gegen die katholischen Geistlichen im slowakischen Parlament, von denen nicht einer gegen die Gesetze stimmte, die die Deportation der Juden in die Todeslager legitimierten? Keine öffentliche Verurteilung. Keine Exkommunikation. Nichts. Pius XII. und seine Bischöfe beließen vielmehr Monsignore Tiso und die anderen Priester in der katholischen Kirche – und das nicht bloß als Laien, sondern als Priester, die die Sakramente spendeten. Sie lehnten es ab, sich öffentlich und nachdrücklich von ihm und den anderen Priestern zu distanzieren, die zu Deportationen und Massenmord beitrugen und dem Mord ihren Segen gaben, und sie lehnten es ab, diesen Mann und die anderen, die öffentlich im Namen der Kirche agierten, zu exkommunizieren. Damit offenbarten Pius XII. und seine Bischöfe ihre Überzeugung, dass Männer, die in den Massenmord an den Juden verwickelt waren, in ihren Augen würdig waren, die katholische Kirche in ihren heiligsten Funktionen zu repräsentieren.



S. 90-93) Antisemitische christliche Kultur und ihre Winkelzüge

Dieser unglaubliche Sachverhalt trat noch deutlicher in Kroatien hervor, wo viele Priester selbst Massenmord begingen, darunter auch als Kommandanten von etwa der Hälfte der zwanzig Todeslager, die das dem Nationalsozialismus verwandte Ustascha-Regime errichtete:

"Dutzende, womöglich sogar Hunderte von Priestern und Mönchen legten ihr Priestergewand ab und zogen Ustascha-Uniformen an, um sich an dem 'heiligen Werk' von Mord, Vergewaltigung und Raub zu beteiligen."
(Menachem Shelah, "The Catholic Church in Croatia, the Vatican and the Murder of the Croatian Jews", in: Bauer et al., "Remembering for the Future", Bd. 1, S. 269)

Das berüchtigtste Lager war Jasenovac, wo die Kroaten 200.000 Juden, Serben und Zigeuner ermordeten. Vierzigtausend dieser Opfer starben unter der ungewöhnlich grausamen Herrschaft von "Bruder Satan", dem Franziskanermönch Miroslav Filipovic-Majstorovic. (Leni Yahil: Die Shoah) Er und die anderen kroatischen Priester-Vollstrecker wurden von Pius XII. weder getadelt noch bestraft, nicht während des Krieges und nicht hinterher. Stattdessen unterstützte Pius XII. das mörderische Regime ihres Landes.

In ihren Ansichten über die Juden waren die Führer der verschiedenen nationalen katholischen Kirchen (das gilt auch für die protestantischen Kirchen) stark von der Kultur und Politik ihrer jeweiligen Gesellschaft geprägt. Die überwölbende Tradition eines kulturellen und doktrinären Antisemitismus der katholischen Kirche wurde also durch die jeweilige politische Kultur gebrochen. In weniger antisemitischen Ländern wie Dänemark, Frankreich und Italien waren – in unterschiedlichem Ausmaß – auch die Kirchen weniger antisemitisch. Das galt besonders für die amerikanische katholische Kirche, die innerhalb der katholischen Welt für ihre Unabhängigkeit, ihren Pluralismus und ihre Toleranz bekannt war. Papst Leo XII. sah sich deshalb in den späten 90er Jahren des 19. Jh.s bemüßigt, die in weiten Teilen der amerikanischen Kirche herrschende Toleranz als Häresie namens "Amerikanismus" zu bezeichnen. Die Geistlichen in diesen Ländern reagierten jedenfalls häufiger mit ehrlichem Entsetzen auf den antisemitischen Angriff der Deutschen und halfen den Juden in größerem Umfang. In Ländern mit einem starken Antisemitismus wie Deutschland, Litauen, Polen, der Slowakei und der Ukraine drückten sich die Intensität und der besondere Charakter des jeweiligen Antisemitismus auch in der Haltung der Kirchenmänner aus. Als in Litauen im August 1941 der Massenmord an den Juden durch Deutsche und Litauer in vollem Gange war, meldete ein deutscher Bericht, die Führer der litauischen katholischen Kirche hätten "den Priestern verboten, Juden in irgendeiner Weise zu helfen," und sie erließen dieses Verbot, nachdem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft mit der Bitte um Hilfe an die Kirchenleitung herangetreten waren. Obwohl einzelne Priester Juden halfen, kollaborierte die litauische Kirche insgesamt sehr wohl mit den Deutschen, und manche ihrer Priester beteiligten sich an den dt. und litauischen Mordinstitutionen und stellten ihre Autorität in ihren Dienst. Erst als das Kriegsglück sich gegen Dtl. wendete, begann eine größere Anzahl von Geistlichen insbesondere jüdischen Kindern zu helfen.

Um ihre vielen unterschiedlichen Rollen während des Holocaust zu verstehen, muss man die katholische Kirche nicht bloß als einheitliche, im Vatikan angesiedelte Institution untersuchen, deren Charakter sich aus der Interpretation religiöser Doktrinen oder aus ihren politischen Bedürfnissen herleitet, sondern mindestens gleichermaßen als eine Anhäufung von diesseitigen gesellschaftlichen und politischen Institutionen, die verwandt, aber dennoch verschieden sind. Damit man die katholische Kirche – und die Kirche sich selbst – während des Holocaust umfassend beurteilen kann, bedürfte es einer Erforschung der Einstellungen und Handlungen der einzelnen nationalen katholischen Kirchen gegenüber den Juden vor und während der NS-Zeit unter politik-, sozial- und kulturgeschichtlichem Aspekt. Die gründliche, kompromisslose Darstellung der einzelnen Länder hätte natürlich auch die kleine Minderheit einzelner Bischöfe und Priester in ganz Europa zu berücksichtigen, die sich grundsätzlich gegen die Verfolgung der Juden wandten und ihnen zu helfen suchten, und sie hätte die Reaktion ihrer Amtsbrüder und Gemeindemitglieder auf die von ihnen eingenommene Haltung zu schildern.
Ein solcher Forschungsansatz, der uneingeschränkten Zugang zu allen nationalen und lokalen Kirchenarchiven und denen des Vatikans erfordern würde und bisher nicht verfolgt wurde, ist offensichtlich nötig und würde eine heilsame Abkehr von der gegenwärtigen Fixierung auf den Papst einleiten, aber auch von der apologetischen Praxis, die ausgedehnte Kirchenlandschaft in entlastender Absicht oberflächlich zu vermessen.

Die Verteidiger der Kirche ergänzen ihre Taktik, die Aufmerksamkeit auf solche Teile oder Mitglieder der Kirche zu lenken, die die Kirche bei der jeweiligen Fragestellung in einem günstigen Licht erscheinen lassen, durch einen weiteren Winkelzug: Sie stellen ganz bestimmte Fragen und schließen dadurch andere Fragen aus. Sie benutzen – dies ist das auffälligste Beispiel – Pius XII. als Blitzableiter, um die Aufmerksamkeit vom Rest der Kirche abzulenken. Ebenso irreführend ist die viel diskutierte Frage, warum die Kirche nicht mehr getan hat, um den gejagten Juden zu helfen. So wichtig diese Frage und Untersuchungen über das Verhalten des Papstes auch sind, verschleiern sie in der Regel doch nur die entscheidende, ungeprüfte und allem zu Grunde liegende Frage: Welche Einstellung hatte die Kirche – hatten ihre nationalen Kirchen, Bischöfe, Priester, Nonnen und Laien – zu den Juden und zu deren eliminatorischer Verfolgung, und zwar zur Verfolgung in all ihren Facetten und nicht nur in ihrer extremsten Ausprägung, der Massenvernichtung?



S. 94 f.) Der eiserne Vorhang in der konstantinischen Holocaust-Propaganda

Die Unterdrückung dieser Frage – nach der Einstellung der katholischen Kirche und ihres Klerus zu den Juden und deren Verfolgung – gehört zu dem zweiten Kunstgriff, der angewendet wird, um die Kirche unberechtigterweise zu entlasten: So wird ein eiserner Vorhang zwischen dem bösartigen Antisemitismus der Kirche und dem bösartigen Antisemitismus, der die Deutschen und ihre Helfer dazu brachte, Juden zu verfolgen und schließlich zu ermorden, errichtet. Die Kommission des Hl. Stuhls für die religiösen Beziehungen zu den Juden ("8. Unsere gemeinsame Überzeugung, dass das Leben auf dieser Erde in Wirklichkeit nur ein Teil der menschlichen Existenz ist, muss uns im Gegenteil dazu bringen, die größte Achtung zu bewahren gegenüber der äußeren 'Hülle' – der menschlichen Gestalt – in der die Person in dieser Welt konkrete Wirklichkeit wird. Folglich verwerfen wir gänzlich die Idee, dass die zeitlich begrenzte Natur der menschlichen Existenz auf der Erde uns erlauben könne, diese zu instrumentalisieren. In diesem Zusammenhang verurteilen wir mit Nachdruck jede Art von Blutvergießen, das die Förderung irgendeiner Ideologie zum Ziel hat – besonders dann, wenn dies im Namen der Religion geschieht. Eine solche Handlungsweise ist nichts anderes als eine Entweihung des göttlichen Namens.") erklärte in "Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah", dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten "seine Wurzeln außerhalb des Christentums hatte" – eine der eklatantesten öffentlichen Geschichtsklitterungen der letzten Zeit.
(Die amerikanischen katho. Bischöfe stellen das Verhältnis zwischen dem kirchlichen Antisemitismus und dem modernen rassistischen Antisemitismus sowie dem Holocaust sehr viel unverblümter dar und widersprechen, ohne es ausdrücklich zu sagen, dem Dokument "Wir erinnern".)

Der Antisemitismus aus dem Nichts


Die katholische Kirche und der gegenwärtige Papst, der diese Reflexion in Auftrag gegeben hatte und zu ihrer Veröffentlichung ein Begleitschreiben verfasste, wollen uns glauben machen, dass dreierlei auch dann geschehen wäre, wenn die Kirche und ihre Diener auf allen Ebenen nie den Antisemitismus, den "Wir erinnern" entschuldigend "Antijudaismus" nennt, verbreitet und so viele ihrer Anhänger mit diesem "Antijudaismus" durchtränkt hätten: Erstens hätten die Nationalsozialisten und andere Rassenantisemiten dennoch genau dieselbe mörderische Art von Antisemitismus aus dem Nichts erdacht.
Zweitens hätten all jene Menschen in Europa, die keine "neuheidnischen" Antisemiten (so bezeichnet die Kirche den modernen deutschen Antisemitismus) waren, aber gleichwohl – gerade wegen ihres religiösen Antisemitismus – die eliminatorische Verfolgung der Juden durch die Deutschen unterstützten (dies gilt zum Beispiel für viele Kroaten, Litauer, Polen, Slowaken und andere, die sich mitschuldig gemacht haben), dem Angriff der Deutschen dennoch dieselbe moralische und tätige Unterstützung gewährt.
Und drittens wären die Deutschen dennoch auf so geringen Widerstand seitens des Klerus und der Bevölkerung gestoßen und daher im Stande gewesen, den Juden so viel Leid zuzufügen und sechs Millionen von ihnen zu ermorden.

Wenn man nicht bereit ist, seine Zweifel an so unwahrscheinlichen Vorstellungen beiseite zu schieben, dann muss der eiserne Vorhang, den die Kirche zwischen ihrem Antisemitismus und dem der Deutschen errichtet hat, gelüftet werden.
Dann aber fällt der Blick unausweichlich auf die Verantwortung der Kirche nicht nur für ihre Reaktionen auf den eliminatorischen Angriff, sondern auch für den Holocaust selbst.

Mehrere Themen wären zu untersuchen, immer eingedenk der Tatsache, dass nach der Volkszählung von 1939 immerhin 95 Prozent der Deutschen noch einer christlichen Kirche angehörten und schwerlich "Neuheiden" waren (wie die katholische Kirche uns glauben machen will). Oder ist die Kirche etwa der Auffassung, dass die 43 Prozent der Deutschen, die katholisch waren, eigentlich Neuheiden waren? Wie Carroll bemerkt:

"Das deutsche Volk bewahrte, was immer es sonst tat, seine angeblich christliche Identität, und deshalb ist die Frage nach der – ganz vorsichtig ausgedrückt – Duldung von Völkermordverbrechen eine Frage nach dem Gehalt dieser Identität."

Wie hat die Kirche im Laufe der Jahrhunderte Juden wahrgenommen, beschrieben und behandelt?
Was hat die antisemitische Lehre und Praxis der Kirche zum modernen eliminatorischen Antisemitismus beigetragen, der die Nationalsozialisten, die überwältigende Mehrheit des dt. Volkes und im Großen und Ganzen die willigen Vollstrecker beseelte?
Wie hat der kirchliche Antisemitismus den gesellschaftlichen Boden bereitet, auf dem, von anderen bestellt, die Saat des Nationalsozialismus aufging, so dass der eliminatorische Angriff der Nationalsozialisten (in den Anfängen wie in den tödlichen Phasen) in Deutschland und überall in Europa breite Sympathie und zahlreiche Helfer fand?
(Dieselben Fragen müssten im Hinblick auf die protestantischen Kirchen gestellt werden, speziell die deutschen, die Träger von Luthers antisemitischem Vermächtnis.)

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