October 10, 2010

Erst theologisiert, dann säkularisiert



Reinhard Marx 2008: Das Kapital

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S. 130) Unsere Kultur ist eine durch und durch christlich-abendländische Kultur.
Und auch der agnostizistisch eingestellte Humanist wird nicht leugnen können, dass eine humanistischen Werte nichts anderes sich als säkularisierte Werte aus der jüdischen und christlichen Tradition.
Freilich: Die humanistische Philosophie der Aufklärung hat Wege entwickelt, um diese Werte ohne Rückgriff auf einen göttlichen Gesetzgeber zu begründen. Aber sie hat diese Werte nicht erfunden, sondern (vor-)gefunden in der christlich-abendländischen Kultur.



S. 130 f.) Gottes "ungeschuldetem Heilshandeln" die Treue halten

So steht am Anfang das Bild der einen Menschheitsfamilie vor Augen, in der alle Menschen Schwestern und Brüder sind. Das Leben wird hier verstanden als ein reines Geschenk der Liebe Gottes – wir haben darauf keinen Anspruch. Aber gerade weil unsere Würde Geschenk Gottes ist, sind wir verpflichtet, einander zu achten und das Leben jedes Menschen zu schützen. Mit der Gabe Gottes ist auch die Aufgabe für den Menschen verbunden.
In diesem Sinne ist die Gleichheit aller Menschen vor Gott Ausgangspunkt und Maßstab der Leitidee Gerechtigkeit.
Diese biblische Option für die Gerechtigkeit wurde im Lauf der Geschichte dahingehend präzisiert, dass jede Frau und jeder Mann einen Anspruch darauf hat, als Person mit einer unveräußerlichen Würde anerkannt zu werden und ein dementsprechendes menschenwürdiges Dasein zu führen. Als Ziel steht damit eine Gesellschaft vor Augen, die allen – besonders den Armen und Schwachen – ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. [...]
Gerecht wird in der Bibel zunächst derjenige genannt, der Gott und seinem Auftrag, seinem Wort die Treue hält. Ein solcher Gerechter steht an dem Beginn der Geschichte Israels, des Gottesvolkes des Alten Testaments, er steht in gewisser Weise am Beginn der Geschichte aller, die gerecht sind vor Gott: Es ist Abraham, der erste der drei sogenannten Erzväter.



Werkzeug für die Einheit


S. 132) Gnade – Gebot, Frohbotschaft – Drohbotschaft (Himmel/Hölle, Heiler/Teufel etc. pp.)

Ein gerechtes Leben, eine moralische Lebensführung überhaupt, ist nach dem biblischen Verständnis ein wesentlicher Bestandteil der Antwort des Menschen auf das liebende Handeln Gottes. Gottes Gnade und Gottes Gebote gehören zusammen. Gut sichtbar wird das in der Einleitung zu den Zehn Geboten in Alten Testament, wo von Gott nicht primär als einem Gesetzgeber, sondern von Gott als dem Befreier seines Volkes die Rede ist:
"Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus." (Ex 20:2, Dtn 5:6)
An dieser Reihenfolge hat sich bis heute nichts geändert. Manche kirchenkritische Zeitgenossen behaupten zwar das Gegenteil, sie sagen, die Kirche habe die "Frohbotschaft" in eine "Drohbotschaft" verwandelt und drangsaliere die Menschen – etwa auf dem Gebiet der Sexualethik – mit lebensfremden und lustfeindlichen Ge- und Verboten. Das verkehrt aber die Verhältnisse. Die Gebote der Bibel wollen, dass das Leben des Menschen glückt.
Die Kirche ist, wie das ZVK sagt, "Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit." (Lumen Gentium 1) Damit kann es der Kirche aber nicht gleichgültig sein, wie die Menschen miteinander und wie sie mit sich selbst umgehen.


S. 135) Die alttestamentlichen Gebote, den Armen und Fremden beizustehen, sind nach dem biblischen Selbstverständnis nicht irgendwelche nebensächlichen Zusatzvorschriften, durch deren Erfüllung sich der Fromme noch einmal besonders auszeichnen könnte.
Frömmigkeit und Gerechtigkeit, Gottes- und Nächstenliebe gehören vielmehr zusammen.
Man kann nicht fromm sein, ohne gerecht zu sein, und man kann nicht Gott lieben, ohne seinen Nächsten zu lieben. Gottes Geschenk der Befreiung und des verheißenden Landes und Gottes Gebot der Gerechtigkeit und der Solidarität stehen im Alten Testament in einem untrennbaren Zusammenhang. (Propheten: Ohne diese Ausrichtung auf die Gerechtigkeit sei aller Glaube wertlos und alle Gottesdienste überflüssig.)



S. 136 f.) Die Sakralisierung der Gerechtigkeit – etwas Revolutionäres

Diese deutliche Sozialkritik des Propheten, die sich gegen das Establishment, die Reichen und Mächtigen seiner Zeit richtet, macht zugleich deutlich, dass in der Botschaft des Alten Testaments etwas Revolutionäres steckt.
In den antiken Hochkulturen des Orients einschließlich Ägyptens waren weltliche Macht und die Sphäre des Heiligen bzw. Göttlichen in einer politischen Theologie ineinander verwoben.
Die Machthaber, der Pharao oder der König, konnten nicht als gerecht oder ungerecht qualifiziert werden, denn sie verkörperten ja selbst das göttliche Gesetz und damit die Gerechtigkeit.
Anders in Israel: Indem im Alten Testament Gott der Sphäre dieser Welt enthoben wird bzw. als Schöpfer und überirdischer Herrscher dieser Welt geglaubt wird, emanzipiert sich die Religion von der Politik. Die Politik wird gleichsam entsakralisiert. Und dadurch wird so etwas wie Sozialkritik überhaupt erst möglich. Der Begriff der Gerechtigkeit erhält so eine theologische Bedeutung, und Gott selbst wird zum Garanten der Gerechtigkeit.
Die wahren Propheten im alten Israel waren deshalb auch keine Hofbeamten mehr, die den Königen und Mächtigen nach dem Mund redeten, sondern sie fühlten sich Gott und damit einem höheren Recht, einer höheren Gerechtigkeit verpflichtet. Dadurch gerieten sie nicht selten in Konflikt mit der Macht, wurden angefeindet und verfolgt.



S. 138 f.) Inkassofonds – Experts in Debt Restructuring

Unglaublich aber wahr: Während die internationale Staatengemeinschaft sich den Kopf darüber zerbricht, wie man die Schuldenprobleme von Entwicklungsländern in den Griff bekommen kann, haben sich gewissenlose Spekulanten gerade auf Geschäfte mit diesen Schulden spezialisiert. Ihren Namen haben sich diese Spezialfonds redlich verdient: "Geierfonds" (vulture funds). Wenn ein Land nachhaltig in Zahlungsschwierigkeiten gerät, kaufen die "Geier" unter den Hedgefonds mit hohen Abschlägen auf die ursprüngliche Kreditsumme dessen Schulden auf und verklagen es dann auf Rückzahlung der vollen Beträge einschließlich Zins und Zinseszins.
Dieses Geschäft ist so simpel und lukrativ, wie es unmoralisch ist.
Erfinder dieses "Investmentmodells" ist der New Yorker Milliardär Paul Singer. Dessen Hedgefonds Elliott Associates hatte 1996 Schulden von Peru in Höhe von 20 Millionen Dollar für rund 11 Millionen gekauft und verklagte dann das Land auf Rückzahlung der vollen Summe plus Zinsen, Zinseszinsen und Anwaltshonorare.
Weil Singer damit drohte, dass er peruanische Gelder im Ausland gerichtlich pfänden bzw. einfrieren lassen werde und dass er über Klagen und politische Einflussnahme versuchen werde, die Verhandlungen mit den internationalen Institutionen über eine Neustrukturierung der Schulden Perus zu blockieren, hatte er Erfolg.
Während die Gläubigermehrheit ein Umschuldungsprogramm unterstützte, erstritt sich Elliott Associates vor Gericht 58 Millionen Dollar – nach einer ursprünglichen "Investition" von wie gesagt 11 Millionen Dollar.
Ein so lukratives "Geschäftsmodell" hat inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden.


S. 140) Als der BBC-Reporter Greg Palast den Gründer von Donegal, Michael Sheehan, darauf ansprach, ob er bei seinen Geschäften mit der Not der Ärmsten der Armen keine Gewissensbisse habe, antwortete Sheehan ungerührt: "Das sind nicht meine Schulden. Ich hatte lediglich die Möglichkeit zu einem Investment."



S. 142) Kanonisierte Du-Sollst-Religion: Jesus first

Auf die Frage nach dem wichtigsten aller Gebote antwortet Jesus:

"Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinen Gedanken. Das ist das wichtigste und erste Gebot.
Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten." (Mt 22:37-40)

Das heißt ganz unmissverständlich: Die Nächstenliebe ist nicht das Sahnehäubchen auf der Festtagstorte des christlichen Lebens, also etwas, was man zur Not auch weglassen könnte.
Nein, ohne Nächstenliebe kein Christsein!



S. 144) Der endgültige Christus

Erst nach diesen Seligpreisungen der Heilszusage Gottes an die Menschen also, formuliert Jesus in den Antithesen der Bergpredigt jene Gebote, in denen er seinen Jüngern die "größere Gerechtigkeit" abverlangt. Jesus wendet sich hier gegen eine legalistische Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes, wie sie von vielen Schriftgelehrten und Pharisäer seiner Zeit praktiziert wurde. ("Die Hauptkontrahenten von einst, die Römisch-Katholische Kirche und die Evangelisch-Lutherischen Kirchen, haben am Reformationstag 1999 ihren Streit beigelegt.") Für Jesus kommt es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den Geist des Gesetzes an, das er im Lichte des Liebesgebotes auslegt. So zeigt er auf, was möglich ist, wenn der Mensch auf die in ihm, dem Christus, endgültig offenbar gewordene Liebe Gottes mit aller Konsequenz antwortet. Das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe weitet sich in der Predigt Jesu vor diesem Horizont bis hin zu dem Gebot der Feindesliebe:

"Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist, du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch, liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen." (Mt 5:43 f.)

Natürlich steckt in diesem Gebot der Feindesliebe [...] insgesamt eine enorme Herausforderung [...] auch für mich als Bischof.

S. 147) Wie Jesus sollten wir Christen in die bisweilen düsteren Realitäten dieser Welt die frohe Botschaft von dem kommenden und in Christus schon angebrochenen Reich Gottes verkünden und in tätiger Nächstenliebe erlebbar machen. [...] Gottesliebe vollzieht sich gemäß der Botschaft Jesu in der Menschenliebe.



S. 150) Der gemarterte Messias und die Institution der Kranken- und Elendsfürsorge

Diese Praxis christlicher Nächstenliebe war in der Antike ein Missionsfaktor ersten Ranges, denn die Fürsorge für Notleidende außerhalb der eigenen Familie und des eigenen Freundeskreises war innerhalb der Welt der Spätantike keine moralische Pflicht. Natürlich gab es auch in der heidnischen Antike spontane Regungen des Mitleids gegenüber der Not anderer, aber es gab keine allgemein anerkannte Tugend der Nächstenliebe und erst recht keine Institutionen, in denen eine solche Tugend gepflegt worden wäre.
Der frühe christliche Schriftsteller Tertullian (ca. 160-220) berichtet, wie sehr die Sorge der Christen für ihre notleidenden Mitmenschen ihre heidnische Umwelt in Erstaunen versetzt hat.
Nehmen wir als Beispiel die Krankenfürsorge. Krankenhäuser gab es in der Spätantike nicht.
Es gab zwar an einzelnen Tempeln, die zu Ehren von Heilgöttern errichtet worden waren, Herbergen, in denen sich wohlhabende Leute aufnehmen und von Priesterärzten behandeln lassen konnten. Und es gab auf großen Landgütern und in römischen Heerlagern Lazarette, sogenannte Valetudinarien, für Sklaven und Soldaten. Aber diese verfolgten kein fürsorgerisches Ideal, sondern ein rein pragmatisches Interesse: Sie dienten der Erhaltung der Arbeitskraft der Sklaven beziehungsweise der Wehrtüchtigkeit. Valetudinarien zur Gesundheitsversorgung der einfachen Bevölkerung in großen Städten sind hingegen bisher nicht entdeckt worden.
Krankenhäuser zur allgemeinen Krankenbetreuung, die auch und gerade Kranken aus den armen Bevölkerungsschichten offen standen, sind erstmals in großen christlichen Gemeinden errichtet worden, früh nachweisbar etwa von Bischof Basilius von Caesarea (ca. 330-379).



S. 152 ff.) Politische Wohltätigkeit gerade in Trier

Er, der aus einer reichen Familie stammte, brauchte sein ganzes eigenes Vermögen für die Armenfürsorge auf und griff in der "Suppenküche" auch schon mal selbst zur Schöpfkelle. Er errichtete eine ganze "Sozialstadt", die sogenannte Basilias, die er einem eigenen Bischof unterstellte und in der Obdachlose, Kranke, Fremde und Aussätzige Zuflucht fanden.
Natürlich muss ich zugeben, dass nicht jeder Christenmensch und beileibe auch nicht jeder Bischof im Lauf der Kirchengeschichte einen solchen Sensus für die soziale Dimension des Evangeliums hatte, aber es gibt viele beeindruckende Zeugnisse davon, wie bereits in der Spätantike zahlreiche einzelne Christen und ganze Gemeinden sich finanziell völlig verausgabten, um Witwen und Waisen zu versorgen, Arme und Kranke zu betreuen, Sklaven und Gefangene loszukaufen und Fremde zu beherbergen. Gerade in Trier, wo es schon seit dem 3. Jh. einen Bischof gab, habe ich auf Schritt und Tritt den Atem der Geschichte des Christentums gespürt.
Und das hat mich immer wieder mit großem Respekt und Dankbarkeit erfüllt.
Es stimmt, dass die Kirche im Lauf der Geschichte vor allem im europäischen Mittelalter zu einem gewaltigen Reichtum gekommen ist. Und es stimmt auch, dass viele Bischöfe zu dieser Zeit von diesem Reichtum fürstlich gelebt haben und sich um die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen wenig geschert haben.
Aber dennoch bleibt es wahr, dass im gesamten Mittelalter die Kirche die einzige öffentliche Institution war, die die Fürsorge für die Armen und Kranken wahrnahm und dafür auch beträchtliche Mittel aufwendete. Neben Bischofskirchen und Klöstern wurden Hospitäler und Herbergen errichtet. Ganze Ordensgemeinschaften widmeten sich der Betreuung von Armen, Waisen, Alten, Pilgern, Kranken und Aussätzigen.


Gottesfrieden als Vorläufer von Rechtsstaat und Gewaltmonopol


Die Kirche beschränkte sich aber nicht nur auf die Einrichtung und Unterhaltung solcher karitativer Einrichtungen, sondern versuchte durchaus auch strukturelle Verbesserungen für die Bedürftigen zu erreichen. So gab es erhebliche kirchliche Anstrengungen, die waffenlose einfache Bevölkerung vor Übergriffen des bewaffneten Adels zu schützen. Im Mittelalter trugen Adelige immer wieder bewaffnete Privatfehden aus.
Weil die verfehdeten Ritter einander dabei aber meist nicht gefahrlos habhaft werden konnten, drangsalierten sie vorzugsweise die wehrlosen Untertanen ihres jeweiligen Gegners, raubten deren Bauern das Vieh, vergewaltigten Frauen, mordeten und brandschatzten. Die Grenzen zwischen Fehde und Raubrittertum waren dabei fließend und für die einfachen Menschen, die unter diesen immer wiederkehrenden Ausschreitungen erheblich zu leiden hatten, ohnehin nicht erkennbar.
Zur Bekämpfung dieses Fehdewesens entwickelte sich die sogenannte kirchliche "Gottesfriedensbewegung".
Durch den Gottesfrieden sollten Kleriker, Frauen, Bauern und deren Vieh vor Übergriffen geschützt werden. Wer gegen den Gottesfrieden verstieß, musste mit empfindlichen Kirchenstrafen bis hin zur Exkommunikation rechnen. Und die Bischöfe versuchten auch, die Politik, also Kaiser und Hochadel, auf ihre Seite zu ziehen, damit diese Friedensmilizen aufstellten, um die Einhaltung des Gottesfriedens durch den niederen Adel kontrollieren zu können. Die Gottesfriedensbewegung bildete so einen entscheidenden Ausgangspunkt für die Entwicklung hin zum Gewaltmonopol des Staates, einer wesentlichen Voraussetzung des modernen Rechtsstaates.
Und Theologen und Kirchenjuristen waren es, die im 16. Jh. wesentlich beigetragen haben zur Entstehung des Völkerrechts, also einer globalen Vorstellung von Recht und Gerechtigkeit.

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