October 7, 2010

Die Mont Pelerin Society



Reinhard Marx 2008: Das Kapital

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S. 82 ff.) Die neoliberale Dienerin der Menschlichkeit

Die geniale und richtige Idee der Marktwirtschaft ist, dass die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der Einzelnen vielfältige Kräfte und Ressourcen freisetzen, die Ergebnisse dieses marktwirtschaftlichen Geschehens aber – durch die Verbundenheit in einer gemeinsamen Ordnung – nicht nur den einzelnen Akteuren, sondern auch dem Ganzen zugute kommen. Deshalb hat die Kirche den Wettbewerb nie abgelehnt, aber immer darauf hingewiesen, dass es sich um ein Instrument handelt, das zum Wohl aller Menschen eingesetzt werden muss, und nicht um ein regulatives Prinzip, was letztlich die Personalität des Menschen gefährden würde.
Hier hat Pius XI. in seiner berühmten Enzyklika Quadragesimo anno 1931 den entscheidenden "Grundirrtum der individualistischen Wirtschaftswissenschaft" gesehen, "aus dem all ihre Einzelirrtümer sich ableiten:

In Vergessenheit oder Verkennung der gesellschaftlichen wie der sittlichen Natur der Wirtschaft glaubte sie, die öffentliche Gewalt habe der Wirtschaft gegenüber nichts anderes zu tun, als sie frei und ungehindert sich selbst zu überlassen. Im Markte, d.h. im freien Wettbewerb, besitze diese ja ihr regulatives Prinzip in sich, durch das sie sich vollkommener selbst reguliere, als das Eingreifen irgendeines geschaffenen Geistes dies je vermöchte.
Die Wettbewerbsfreiheit – obwohl innerhalb der gehörigen Grenzen berechtigt und von zweifellosem Nutzen – kann aber unmöglich regulatives Prinzip der Wirtschaft sein."

Papst Pius XI. wollte damit sagen, dass die Marktwirtschaft kein Selbstzweck ist. Zweck an sich ist nur der Mensch mit seiner Personenwürde, der Markt aber ist ein Mittel im Dienst des Menschen.
Die großen liberalen Vordenker der marktwirtschaftlichen Erneuerung im 20. Jh. haben das übrigens genauso gesehen. Alexander Rüstow, der auf dem Walter-Lippmann-Colloquium von 1938 den Begriff des "Neoliberalismus" prägte, charakterisierte die Wirtschaft einmal als "Dienerin der Menschlichkeit".
Hier sieht man übrigens, dass "Neoliberalismus" ursprünglich etwas ganz anderes bezeichnete als das, was in der politischen Diskussion heute damit meist gemeint ist. Der Neoliberalismus wollte sich von dem alten Wirtschaftsliberalismus, dem Alt- oder Paläoliberalismus, abgrenzen und bekannte sich zu der sozialen Verantwortung der Wirtschaft und dem Primat des Gemeinwohls bzw. der Politik.
Es ist eine Schande, dass der Begriff des Neoliberalismus heute verwendet wird, um eine sich ausbreitende marktradikale kapitalistische Ideologie zu kritisieren, wo doch die ursprünglichen und eigentlichen Neoliberalen selbst diese Ideologie zeitlebens bekämpft haben.

S. 87) Nun kann man sicher sagen, dass es ziemlich leichtfertig ist, eine Immobilie zu kaufen, ohne sie gesehen zu haben. Aber die Betrogenen haben sich wohl auf die guten Namen der kreditgebenden Geldinstitute verlassen.
Und die involvierten Banken, Bausparkassen und Immobilienhändler haben dieses Vertrauen bedenkenlos ausgenutzt und ihren Informationsvorsprung gegenüber ihren Kunden ausgespielt, um sie rücksichtslos auszunehmen.

S. 88 f.) Wenn einige aber meinen, die Freiheit des Marktes dazu nutzen zu können, andere zu betrügen und zu ruinieren, dann muss der Staat das Recht haben, das zu unterbinden. Sonst diskreditieren und unterminieren diese Leute das ganze System. Wie wir eine wehrhafte Demokratie haben, die diejenigen abwehrt, die die politische Freiheit missbrauchen, brauchen wir in gewisser Weise eine "wehrhafte Soziale Marktwirtschaft", die diejenigen abwehrt, die die wirtschaftliche Freiheit missbrauchen.



S. 89 ff.) Bischof Höffners Sozioökonotheologie

Es ist mir aus mehreren Gründen ein Anliegen, an dieser Stelle noch etwas genauer auf Joseph Höffner einzugehen, der ein in mancherlei Hinsicht bemerkenswerter Mann war. Höffner, der im Westerwald in einfachen Verhältnissen aufwuchs, war eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des kirchlichen Lebens in der alten Bundesrepublik Deutschland. [...] Nach seinem Tod wurde er von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem mit dem Ehrentitel "Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet. Höffner hatte als junger Pfarrer im März 43 ein damals siebenjähriges jüdisches Mädchen in seinem Pfarrhaus in Kail, heute Landkreis Cochem-Zell in Rheinland-Pfalz, aufgenommen. Als er kurz darauf nach Trier versetzt wurde, vertraute er das Kind einer Familie in der Gemeinde an. Er sorgte aber auch dafür, dass niemand außer ihm die wahre Identität des Kindes kannte, damit die Verantwortung nur auf ihn zurückfallen konnte. Auch Höffners Schwester Helene versteckte in dem gemeinsamen Elternhaus ein jüdisches Ehepaar.

Aber Höffner war nicht nur Seelsorger, sondern auch Wissenschaftler. Von 1945-62 war er Professor – zunächst in Trier und seit 51 in Münster. Dort gründete er das Institut für Christliche Sozialwissenschaften (ICS).
Sein 62 erstmals veröffentlichtes Buch Christliche Gesellschaftslehre erfreut sich auch heute noch ungebrochener internationaler Popularität und ist eines der erfolgreichsten Lehrbücher, das jemals zur Katholischen Soziallehre verfasst worden ist. Das ist sicher auch der Tatsache zu verdanken, dass dieses Werk in einer uneitlen, schnörkellosen Sprache verfasst ist, die es nicht nur für Theologen und Sozialwissenschaftler, sondern auch für "Praktiker" aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gut lesbar macht. [...] In seiner Dissertation mit dem Titel Wirtschaftsethik und Monopole im 15.u.16. Jh. hatte er herausgearbeitet, dass die mittelalterliche Theologie, insbesondere die Spätscholastik, bereits entscheidende Elemente der späteren wirtschaftsliberalen Theorie wie die freie Preisbildung auf dem Markt befürwortet hatte.
Interessanter noch als der bloße Umstand, dass Höffner zusätzlich den Doktor der Wirtschaftswissenschaften erworben hat, ist die Tatsache, bei wem er das getan hat: bei Walter Eucken ("Eucken war, wie der Historiker Bernd Martin feststellte, 'der eigentliche Widerpart Martin Heideggers.'"), dem Begründer der sogenannten "Freiburger Schule", des geistigen Zentrums der neoliberalen Wirtschaftstheorie in Deutschland.
Der Neoliberalismus im ursprünglichen Sinne stellte, wie bereits gesagt, eine entscheidende Weiterentwicklung des klassischen Wirtschaftsliberalismus in der Tradition von Adam Smith dar. [...]



S. 91 f.) Ordoliberale(r) Think Tank/PR-Panzer/Frömmigkeitsfestung/Argumenteschmiede

Es ist kein Zufall, dass der Neoliberalismus seine geistigen Wurzeln in Deutschland hat.
Walter Eucken (see Mont Pelerin Society), Wilhelm Röpke, Franz Böhm, Alexander Rüstow und ihre geistigen Mitstreiter erlebten den Niedergang der Weimarer Republik und führten diesen auch auf wirtschaftspolitische Fehler zurück. Der Weimarer Staat war zu schwach – nicht nur gegenüber politisch, sondern auch gegenüber wirtschaftlich destruktiven Kräften. Die Kartelle, die zentrale Wirtschaftszweige im Reich beherrschten, und die mächtigen Interessengruppen hatten unselige Beiträge zum Niedergang der ersten deutschen Demokratie geleistet. Sie hatten so einen besonders traurigen Beweis dafür geliefert, dass der Markt nur dann im Dienst des Gemeinwohls wirken kann, wenn eine stabile, vom Staat garantierte Rahmenordnung besteht und wenn die Moral der handelnden Personen intakt ist. Wegen der Betonung der Wichtigkeit eines solchen Ordnungsrahmens und einer entsprechenden Ordnungspolitik wurden die Neoliberalen auch Ordoliberale genannt.



S. 94) Volle menschliche Freiheit mit religiösem Mittelpunkt

In der Enzyklika Centesimus annus (1991) von Papst Johannes Paul II. ist die Diskussion der Katholischen Soziallehre mit dem Wirtschaftsliberalismus in gewisser Weise zu Ende geführt worden. [...]
Der Papst meint, eine Antwort auf diese Fragen sei kompliziert, und er äußert sich differenziert: "Wird mit 'Kapitalismus' ein Wirtschaftssystem bezeichnet, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt, ist die Antwort sicher positiv.
Vielleicht wäre es passender, von 'Unternehmenswirtschaft' oder 'Marktwirtschaft' oder einfach 'freier Wirtschaft' zu sprechen. Wird aber unter 'Kapitalismus' ein System verstanden, in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in eine feste Rechtsordnung eingebunden ist, die sie in den Dienst der vollen menschlichen Freiheit stellt und sie als eine besondere Dimension dieser Freiheit mit ihrem ethischen und religiösen Mittelpunkt ansieht, dann ist die Antwort ebenso entschieden negativ."


S. 96) Diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg häufig auch aus ihrer christlichen Überzeugung heraus in Deutschland die Soziale Marktwirtschaft etabliert haben, waren sich in dieser Zielsetzung mit der Kirche einig. Sie wollten, wie es Alfred Müller-Armack einmal formuliert hat, "das Prinzip der Freiheit auf dem Markte mit dem des sozialen Ausgleichs verbinden."



S. 111) Der Begründer der modernen empirischen Sozialforschung

Seit der Weltwirtschaftskrise wissen wir aber nicht nur, welche Folgen Massenarbeitslosigkeit für eine Gesellschaft haben kann, sondern wir wissen auch ziemlich genau, was Arbeitslosigkeit für die einzelnen Betroffenen bedeutet. Denn mit der Massenarbeitslosigkeit entstand auch die Arbeitslosigkeitsforschung.
Der bis heute äußerst lesenswerte Klassiker dieses Genres ist die 1933 von Marie Jahoda, Hans Zeisel und Paul Lazarsfeld ("Stipendiat der Rockefeller Foundation") veröffentlichte Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal". Diese Untersuchung war der erste Versuch, mit Hilfe empirischer Forschungsmethoden die psychosozialen Folgen von Arbeitslosigkeit zu ermitteln.



S. 113 f.) Teilnahmslosigkeit

Vor der Fabrikschließung war Marienthal ein äußerst lebendiger Ort mit einem regen und bunten Vereinsleben und einer Vielzahl von politischen, kulturellen und sportlichen Veranstaltungen. [...] Nach der Fabrikschließung jedoch präsentierten sich das Dort und seine Einwohner den Forschern als eine durch und durch "müde Gemeinschaft", in der sich niemand mehr für die anderen oder die gemeinsamen Angelegenheiten interessierte, in der sich viele noch nicht einmal mehr um ihre eigenen Belange kümmerten. Sichtbarer Ausdruck dieser inneren und äußeren "Verwahrlosung" von Marienthal war beispielsweise der Park, auf dessen Pflege die Arbeiter ehedem viel Zeit und Mühen verwendet hatten. [...] Obwohl fast jeder Marienthaler mehr als genug Zeit dafür gehabt hätte, kümmerte sich niemand mehr um den Park. Die Menschen hatten einfach das Interesse verloren. Dasselbe Phänomen allgemeiner Teilnahmslosigkeit war in Marienthal an allen Ecken und Enden zu sehen. Das Vereinsleben war weitgehend zum Erliegen gekommen. Und bei der Untersuchung der Kartei der Arbeiterbücherei im Ort stellten die Forscher fest: Obwohl im Gegensatz zu der Zeit vor der Massenarbeitslosigkeit keine Leihgebühren mehr erhoben wurden und die Menschen nun viel mehr Zeit gehabt hätten, um zu lesen, waren seit der Fabrikschließung die Entleihungen um mehr als die Hälfte zurückgegangen.
Der Verlust der Kollegen und der aktive Rückzug von anderen sozialen Kontakten führten die Arbeitslosen von Marienthal in eine relative Isolation. Das Sozialleben beschränkte sich bei den meisten nur noch auf die familiären Nahbeziehungen. Und das wiederum führte in vielen Familien zu vermehrten Spannungen.



S. 121) Unterschied zwischen Marxisten und Jesuisten

Der amerikanische Ökonom Lester C. Thurow bezeichnet die wachsende Zahl der Arbeitslosen und der "working poor" in seiner Heimat mit einem bösen Wort von Karl Marx: "Lumpenproletariat".
Für das "Lumpenproletariat" seiner Zeit hatte Karl Marx übrigens nur Verachtung übrig.
Er bezeichnete es als die "passive Verfaulung der untersten Schichten" der Gesellschaft, das für die Revolution nicht zu gebrauchen war, sondern eher in der Gefahr stand, von den reaktionären Kräften gekauft zu werden. Hier liegt auch der Grund dafür, dass sich unter den Bolschewisten nicht nur "Kapitalisten" dem Generalverdacht "konterrevolutionärer Umtriebe" ausgesetzt sahen, sondern auch "Gammler", "Landstreicher" oder sonst irgendwie sozial Auffällige. Wenn es um die Ärmsten der Armen ging, hielt sich das Mitleid der Marxisten traditionell sehr in Grenzen. Eine solche Haltung kann für einen Christen nicht akzeptabel sein.
Wie die Arbeitslosen in Europa führen auch die "working poor" in den USA ein Leben am Rande der Gesellschaft. Sie haben zwar Arbeit, aber diese gibt ihnen weder das Einkommen noch die soziale Anerkennung, die man gewöhnlich mit Erwerbsarbeit verbindet.



S. 128 f.) Das Heilige Römische Reich und der Pirat

Aber die Ausrichtung auf die Gerechtigkeit hin muss bleiben, sonst hat die Politik ihren tiefsten Sinn verloren.
Denn "Gerechtigkeit ist Ziel und daher auch inneres Maß aller Politik," wie Papst Benedikt XVI. in seiner Antrittsenzyklika Deus caritas est kurz und bündig sagt.
Der Kirchenvater Augustinus hat das schon vor rund 1600 Jahren sehr schön auf den Punkt gebracht:

"Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch das ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eine Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt. Wenn dies üble Gebilde durch Zuzug verkommener Menschen so ins Große wächst, dass Ortschaften besetzt, Niederlassungen gegründet, Städte erobert, Völker unterworfen werden, nimmt es ohne weiteres den Namen Reich an, den ihm offenkundig nicht etwa hingeschwundene Habgier, sondern erlangte Straflosigkeit erwirbt. Treffend und wahrheitsgemäß war darum die Antwort, die einst ein aufgegriffener Seeräuber Alexander dem Großen gab. Denn als der König den Mann fragte, was ihm einfalle, dass er das Meer unsicher mache, erwiderte er mit freimütigem Trotz: 'Und was fällt dir ein, dass du das Erdreich unsicher machst? Freilich, weil ich's mit einem kleinen Fahrzeug tue, heiße ich Räuber. Du tust's mit einer großen Flotte und heißt Imperator.'" (De Civitate Dei IV, 4)

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