October 22, 2010

Etwas Fundamentales das Aufmerksamkeit verdient


A Moral Reckoning – The Role of the Catholic Church in the Holocaust and Its Unfulfilled Duty of Repair

Daniel Goldhagen 2003: Die Katholische Kirche und der Holocaust

pt 2 Kath. Antisemitismus + militanter Untertanengeist
pt 3 Das Axiom/Theo-Mem vom jüdischen Bolschewismus

Ullrich: "Die Radikalität, mit der Goldhagen seine Thesen entfaltet, zwingt uns zum Überdenken bisheriger Sichtweisen."
Hamm-Brücher: "Wir sind in einer Renaissance des Nachdenkens – durch Goldhagen."
Habermas: "Goldhagens Untersuchungen sind genau auf die Fragen zugeschnitten, die unsere privaten wie öffentlichen Diskussionen seit einem halben Jahrhundert polarisieren."

S. 11) In "Hitlers willige Vollstrecker" habe ich ausdrücklich keine moralischen Urteile über Schuld gefällt, auch keine mögliche Sühne oder Wiedergutmachung skizziert. Aber es war natürlich klar, dass ich die eliminatorische Verfolgung und massenhafte Ermordung der Juden durch die Deutschen und ihre Helfer ebenso wie die Verfolgung und Tötung von Angehörigen anderer Opfergruppen, der Geisteskranken, der Roma und Sinti (gewöhnlich Zigeuner genannt), der Homosexuellen, der "Asozialen", der Polen, Russen und anderer, verurteile.
Als die englische Originalausgabe Ende März 1996 erschien, griffen vor allem in Deutschland diejenigen, denen es ein Gräuel war, dass darin verschleierte Tatsachen und unliebsame Wahrheiten zur Sprache kamen, das Buch und mich persönlich an, u.a. durch den frei erfundenen Vorwurf, ich würde ausdrücklich das moralische Urteil der Kollektivschuld fällen.
Diese z.T. offenkundig ehrenrührigen Angriffe deuteten darauf hin, dass hinter der großen Aufregung um das Buch etwas Fundamentales steckte. Etwas, das unsere Aufmerksamkeit verdient.
"Hitlers willige Vollstrecker" hatte ungewollt einen moralischen Aufruhr ausgelöst und war ständig von einem moralischen Subtext umgeben, der die ausgiebige schriftliche und mündliche Diskussion um das Buch teilweise entgleiten ließ. Das Ziel des Buches war, den Deutschen wieder zu ihrem Menschsein zu verhelfen, das ihnen zuvor generell abgesprochen worden war. Hatte man sie doch entmenschlichend gängig als gedankenlose, automatenähnliche Rädchen in einer Maschine dargestellt.
Ich wandte mich entschieden gegen die landläufige Ansicht und bestand darauf, die Deutschen als das zu sehen und zu behandeln, was sie waren: Individuen und moralisch handelnde Wesen.



S. 14 ff.) Jäger die nichts riskieren

In dem weiten Bereich zwischen den Kurzstatements in Talkshows und Leitartikeln und den Fachdiskursen in philosophischen und theologischen Abhandlungen wird man heutzutage kaum auf eine Untersuchung treffen, in der Fragen von Moral und Urteil ernsthaft untersucht werden. Eine langfristige, allgemein verständliche moralische Erörterung und Bewertung und erst recht ein beständiges moralisches Urteil sind nicht beliebt. Dass man auf moralisierende, schnoddrige und beiläufige Art über ruchlose oder unanständige Politiker urteilt, ist akzeptabel. Dass man über die Täter urteilt, die mit spektakulären Verbrechen an Familienmitgliedern und anderen für die tägliche Portion Pathologie sorgen, die dem persönlichen und gesellschaftlichen Leben in unserer voyeuristischen Gesellschaft Würze verleiht, ist akzeptabel. Das ist eine unterhaltsame Großwildjagd, bei der die Jäger nichts riskieren. Befriedigung und Ruhm sind ihnen sicher. [...]

Dass unsere moralische Kultur heruntergekommen ist, liegt teils an der Oberflächlichkeit unserer öffentlichen Kultur, teils daran, dass viele Angehörige der akademischen Gemeinschaft sich ihrer Verpflichtung entziehen, auf moralische Fragen überhaupt einzugehen oder in einer Weise einzugehen, die sowohl einem hohen Anspruch genügt als auch für Menschen, die keine Philosophen sind, verständlich ist. Man muss kein Kulturkonservativer sein – ich bin es nicht – um das alles zu erkennen und zu kritisieren. Unsere moralische Kultur ist auch deshalb heruntergekommen, weil die echten Schwierigkeiten im Umgang mit dem Wertepluralismus – besonders das Problem, dass man nicht den Eindruck erwecken möchte, anderen seine eigenen Werte aufzuzwingen – viele in unserer (generell zu begrüßenden) pluralistischen Welt vor dem Wagnis zurückscheuen lassen, im öffentlichen Raum ernsthaft moralisch zu diskutieren. Diejenigen, die sich nicht von religiösen Werten leiten lassen, scheinen sich oft ungern auf diesen Bereich, den Bereich der Religion par excellence, einzulassen. Sei es, weil sie ungern über Religion reden, sei es, weil sie ohne religiöse Grundierung ins Hintertreffen zu geraten glauben, haben diejenigen, die etwas zu sagen hätten, den Bereich der ernsthaften moralischen Diskussion weitgehend den Religiösen überlassen.
Anhänger der verschiedenen Religionen dagegen sind bereit, ja sogar begierig darauf, sich dieser Aufgabe anzunehmen. Einen herausragenden Part spielt dabei überall in der Welt die am stärksten zentralisierte Religion mit der größten Zahl von Gläubigen, der Katholizismus, geführt von der römisch-katholischen Kirche und ihren einzelnen nationalen Kirchen. Sie liefert förmlich das Musterbeispiel für eine andauernde moralische Erörterung, die sich an die breite interessierte Öffentlichkeit wendet. Die Kirche und ihre Geistlichen nehmen – sei es in den zahlreichen Enzykliken, Erklärungen und Briefen der Päpste, in den Entscheidungen nationaler Kirchen und ihrer Bischöfe, in den Predigten der Priester oder in den individuellen Äußerungen zahlreicher kirchlich gebundener Intellektueller – lebhaft mit moralischen Kommentaren zu einer Vielzahl von Dingen Stellung, die nicht nur von persönlichem, sondern auch von öffentlichem Interesse sind. In den 70er Jahren propagierten lateinamerikanische Bischöfe die Befreiungstheologie, ein in der Theologie begründetes moralisches Argument für eine gegen die jeweils Herrschenden gerichtete Politik zugunsten der Armen, die auf soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Unterdrückung zielt. Sie wurden nach 1979 von dem gerade gewählten Papst Johannes Paul II. zum Schweigen gebracht, dessen Politik sich nicht mit der ihren vertrug. [...]
Das moralische Gewicht dieser und anderer Eingriffe in die öffentliche Sphäre verdankt sich der kirchlichen Tradition eines kultivierten Denkens und eines kundigen Engagements im öffentlichen Leben. Obwohl – außer bei Rebellen – die ernsthafte moralische Auseinandersetzung mit wichtigen Aspekten des öffentlichen Lebens und besonders der Politik im Westen nie sonderlich beliebt war, erlahmte das Interesse daran während des Kalten Krieges deutlich. [...] Die wohlerwogene Erörterung moralischer Fragen, Grundlage tugendhaften Handelns, muss sich ihren zentralen Platz im öffentlichen Leben wieder zurückerobern.



S. 16 ff.) Ein wirkungsvolles Denk- und Redeverbot

In der Diskussion über die NS-Zeit herrschte ein wirkungsvolles Denk- und Redeverbot über die Moral. Lange Zeit fanden, von Schlagwörtern abgesehen, praktisch keine eingehende Beschäftigung mit den relevanten moralischen Fragen und keine öffentliche Diskussion darüber statt. Westdeutschland musste rehabilitiert werden, da verschonte man es besser vom gleißenden Licht einer genauen moralischen Untersuchung. Hätte man die öffentliche Untersuchung nicht bald nach den Nürnberger Prozessen eingestellt, hätte man die Deutschen nur schwer für den Kampf gegen den Kommunismus gewinnen können, dem damals Vorrang vor allen sonstigen Erwägungen eingeräumt wurde. Man hätte den Sowjets verheerendes Propagandamaterial in die Hand gegeben, wenn man den Verbrechen nachgegangen wäre, derer sich große Teile der westlichen Bevölkerungen und ihrer Institutionen schuldig gemacht hatten, besonders in Deutschland. Außerdem hätten in Deutschland und etlichen anderen Ländern, in denen die Bevölkerung sich in bedeutendem Umfang an der Verfolgung und dem Massenmord beteiligt hatte, solche Ermittlungen das Selbstbild der Nation (zusätzlich) befleckt und dazu geführt, dass viele verurteilt worden wären, weil sie Angehörige eines Volkes verfolgt oder ermordet hatten, eben die Juden, die noch immer weithin dämonisiert und gehasst wurden. Dazu bestand wenig Neigung. Man entschied sich für den sicheren Weg, lieber nach vorn als zurückzuschauen.

Der Unwille, sich in Bezug auf die NS-Zeit und besonders den Holocaust auf eine echte öffentliche Untersuchung moralischer Fragen einzulassen, führte sogar in einem weiteren Schritt dazu, dass man die wirklich beteiligten Menschen außer Acht ließ und sich stattdessen auf die Strukturen, Kollektive und unaufhaltsame Kräfte konzentrierte. Diese Einstellung, die eine gründliche moralische Prüfung verhinderte, kam auf zwei Wegen zustande, die sich trotz ihrer scheinbaren Differenzen ergänzten.

Der erste ist der Kollektivschuld-Vorwurf, im Grunde eine Kurzformel für eine Reihe miteinander zusammenhängender Vorstellungen, denen zufolge die Schuld der Deutschen in ihrem Nationalcharakter steckt, in einer ihnen gemeinsamen, grundlegenden und unveränderlichen Eigenschaft. Deshalb betrachtete man ihre Schuld als kollektiv und generationenübergreifend.
Während des Zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit hörte man solche Vorwürfe häufig. Sie waren vor Ausbruch des Kalten Krieges so etwas wie Gemeingut. Inzwischen sind solche Vorstellungen, wenngleich sie von vielen sogar in Deutschland vertreten wurden, in der öffentlichen Diskussion im Großen und Ganzen als ungerechtfertigt erkannt worden, nur ein Häuflein Hartnäckiger äußert sie noch öffentlich. Ergänzt wurde der Kollektivschuld-Vorwurf durch all jene, die besonders in Deutschland andere mit der Behauptung attackieren, sie würfen den Deutschen fälschlich eine Kollektivschuld vor. Wer sich nicht der entlastenden These anschließt, dass die gewöhnlichen Deutschen an all den Schrecken der NS-Zeit mehr oder weniger unschuldig waren, dem kann man den Vorwurf anhängen, er befürwortete die Kollektivschuld-These.

Der Kollektivschuld-Vorwurf verhindert jegliche moralische Untersuchung.
Wird diese Schuld als eine moralische Tatsache behauptet, lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Kollektiv, das den Einzelnen seiner Individualität, seiner Eigenschaft, ein moralisch Handelnder zu sein, und seiner individuellen moralischen Verantwortung beraubt. Wird sie als Keule benutzt, schüchtert sie jene ein, die eine gründliche moralische Prüfung wünschen mögen, die wiederum zur Feststellung einer verbreiteten, wenn auch nicht kollektiven moralischen Schuld unter Deutschen und Nichtdeutschen führen könnte.



S. 18 f.) Gezielte Mythologisierung durch (eingebettete) Intellektuelle

Der andere, die Moral abstumpfende Weg war einer Untersuchung noch abträglicher.
Wissenschaftler, die sich mit dem Tatgeschehen des Holocausts befassten, sahen sowohl empirisch als auch konzeptionell von den darin verwickelten Menschen ab. Übrig blieben ein paar übermenschliche Ungeheuer wie Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Adolf Eichmann. Sie zogen die gesamte Aufmerksamkeit auf sich und lenkten damit von den zig Millionen Deutschen ab, die den Nationalsozialismus, Hitler und das übrige Führungspersonal bereitwillig unterstützt und begrüßt hatten. Die gewöhnlichen Deutschen, die dieses Regime und seine Verbrechen erst ermöglicht hatten, verwandelten sich nach dem Krieg von einem Tag auf den anderen in Wesen, die man terrorisiert und gezwungen hatte und die von nichts etwas gewusst hatten. "Der Terrorapparat" und "Wir haben nichts gewusst" wurden zu paradigmatischen Sprachklischees in einer mythologisierenden, moralisch neutralen öffentlichen Darstellung der jüngsten Vergangenheit. Deutsche wurden rückwirkend ihrer Eigenschaft, handelnde Wesen zu sein, entkleidet – viele Deutsche wirkten darauf willentlich hin, in bewussten Akten falscher Selbstdarstellung und Neuschöpfung. Die Deutschen wurden ihrer moralischen Verantwortung enthoben, im Voraus entlastet, denn unter moralischem Aspekt gab es nichts mehr oder kaum noch etwas zu untersuchen.

Wer Verbrechen begangen hatte, wurde sogar noch gründlicher seiner Eigenschaft, ein handelndes Wesen zu sein, beraubt. Intellektuelle, die großen Einfluss auf die Denkweise der Akademiker und der Öffentlichkeit hatten, äußerten sich in dem beschönigenden Geist der damaligen Zeit und leisteten diesen Tendenzen noch Vorschub. Am bemerkenswertesten gingen dabei die Vertreter der Totalitarismustheorie vor, vor allem Hannah Arendt, die gleichsam per Dekret die Täter ihres Antisemitismus entkleidete und sie in kleine Bürokraten verwandelte, die ihre Aufgabe erfüllten. Aus ihren Taten machte sie nichts anderes als einen Ausdruck der "Banalität des Bösen". Stanley Milgram, der an der Yale-Universität seine Experimente über Gehorsam machte, behauptete im Einklang damit, die Täter seien Robotern vergleichbar, nach Belieben steuerbar von jedem, der Autorität besitzt. Diese und andere Ansichten passten, so sehr sie sich auch in anderer Hinsicht unterscheiden mochten, haargenau zu der ständig gebetsmühlenartig vorgetragenen Vorstellung, die Täter seien, wie andere Deutsche auch, terrorisiert und gezwungen worden. Dass Arendt und Milgram keinerlei nennenswerte Forschung betrieben hatten, was die Täter anging, war für viele Akademiker wie Nichtakademiker unerheblich, und so schlossen sie sich gern den politisch willkommenen, moralisch abstumpfenden und daher für viele tröstlichen Behauptungen an. [...]

Die Holocaust- und NS-Forschung hat bis in die jüngste Zeit praktisch nichts über die zentralen Akteure, die Täter der Massenmorde, beigesteuert: wer sie waren, wie sie zu Tätern wurden, wie sie in den Mordinstitutionen lebten, welche Entscheidungen sie treffen konnten, wie sie ihre Opfer im Einzelnen behandelt haben – das war alles nahezu unbekannt.
Die Durchführung des Holocaust – das Töten und das scheinbar bodenlose persönliche Erniedrigen, Verhöhnen und Quälen der Juden – wurde irrigerweise unpersönlichen sozialpsychologischen Kräften, Befehlsstrukturen und autoritären Persönlichkeiten zugeschrieben, auf Zwang, bürokratische Denkschablonen, abstrakte Strukturen und Institutionen wie die SS, die NSDAP und den totalitären Terrorapparat zurückgeführt.
Nur erkennt man in diesen Theorien nicht wieder, was für die Täter des Holocaust wie für die Täter anderer Massenmorde auf der Hand liegt, sei es in Kambodscha, in Ruanda, der Türkei oder im früheren Jugoslawien: dass die Menschen, die die Opfer in großer Zahl umbrachten, bestimmte Ansichten über das hatten, was sie taten, und dass diese Ansichten ihre Entscheidungen, so und nicht anders zu handeln, wesentlich prägten.



S. 20 f.) Wissenschaftler die systematisch ignorieren

Es gab eine Gruppe, die sich dieser Tendenz nicht anschloss, die sich intensiv mit den Tätern befasste, sie gründlich kennen lernte und immer wieder zu dem Schluss kam, dass die Massenmörder der Juden nicht unter Zwang handelten, dass sie wussten, was sie taten, und dass sie durch Rassismus und Antisemitismus motiviert waren. Wir reden von den deutschen Richtern, die nach dem Krieg über die Massenmörder zu Gericht saßen. Wiederholt sprachen deutsche Gerichte die Täter nach den strengsten Regeln der Beweisführung schuldig, Juden getötet zu haben. Sie sprachen die Täter schuldig, aus dem "niedrigen Beweggrund" des "Rassenhasses" getötet zu haben.
Die Prozesse, die ab Ende der 50er Jahre bis in die 80er Jahre stattfanden, trafen in der deutschen Öffentlichkeit auf keine breite Unterstützung, und ihre Ergebnisse wurden nur dürftig verbreitet.
Die NS- und Holocaustforscher haben die wichtigen, ohne weiteres zugänglichen Daten, die in den Prozessen zutage gefördert wurden, praktisch ohne Ausnahme systematisch ignoriert.
Dazu gehört die bekannte, inzwischen seit über 30 Jahren ignorierte Tatsache, dass kein deutscher Täter, wenn er sich weigerte Juden zu töten, jemals getötet, in ein KZ geschickte oder auch nur schwer bestraft worden ist und dass viele der Täter eindeutig wussten, dass sie sich vom Töten befreien lassen konnten, sich aber dennoch nur wenige dafür entschieden haben, keine freiwilligen Vollstrecker zu sein.

Ebenso ignorierten jene, die sich mit dieser Zeit befassten, die eindeutigen Feststellungen, zu denen die Richter sich aufgrund der Beweiserhebung gezwungen sahen: dass die Täter bösartige Antisemiten waren, die vorsätzlich handelten, und dass der Vorsatz durchgängig darin bestand, ihre Opfer zu verhöhnen, zu schlagen, zu erniedrigen, zu quälen und zu töten. Die besagten Gelehrten brachten stattdessen jede erdenkliche Erklärung für das Verhalten der deutschen Täter vor, nur die eine nicht, dass Menschen handelnde Wesen sind, dass sie aufgrund ihres moralischen Weltverständnisses die Fähigkeiten besitzen, "Nein" zu sagen, und sich – ebenso wie viele andere – als es um die Verfolgung der Juden ging, oft dafür entschieden, "Ja" zu sagen.

In den letzten Jahren ist deutlich geworden, dass viele überkommene Vorstellungen über den Holocaust und die NS-Zeit einer umfassenden neuen Untersuchung bedürfen. Sie ist nötig geworden, weil viele dieser Vorstellungen, darunter solche, die den Status einer unangefochtenen Binsenwahrheit erlangt haben, als Mythen entlarvt worden sind. Was Deutschland angeht, ist das der Mythos vom Terror, der Mythos vom Zwang, der Mythos von der Unkenntnis über die Konzentrationslager und den Mord an den Juden. Außerhalb Deutschlands ist es der Mythos von der hilflosen, genötigten Schweiz, der Mythos von den völlig unterdrückten Völkern des von Deutschland besetzten Europa, die sich der verbrecherischen Politik der Deutschen auf jede nur erdenkliche Weise widersetzten.

Der mittlerweile verbreiteten Ablehnung des herrschenden Paradigmas vom äußeren Zwang liegt die Anerkennung der Tatsache zugrunde, dass Menschen handelnde Wesen sind und deshalb muss Schluss gemacht werden mit der karikierenden Vorstellung, die Deutsche wie Nichtdeutsche, ob als Täter oder als Zuschauer, als unwissende, gedankenlose Automaten oder als Herdenmenschen zeichnet, die, eingeschüchtert, einfach keine Wahl hatten. Diese jüngste Entwicklung ist begrüßenswert, denn allein durch die Anerkennung dieser Tatsache wird die moralische Verantwortung wiederhergestellt und eine gründliche moralische Prüfung möglich gemacht. Der Neubetrachtung des Holocaust und der NS-Zeit, die endlich in Gang kommt, liegt die zentrale Prämisse zugrunde, dass die Akteure des Geschehens auch in den Mittelpunkt der Untersuchung gerückt werden müssen und dass man sie als moralisch handelnde Wesen begreifen muss.



S. 21 f.) Zigtausende papistische Bücher

Es ist an der Zeit, auch die katholische Kirche einer solchen neuen Betrachtung zu unterziehen. Abgesehen von den mit Deutschland verbündeten Ländern war die Kirche die mächtigste Institution, die im von Deutschland besetzten und beherrschten Europa unangetastet und unabhängig blieb, mit ihren ungeheuer einflussreichen nationalen Kirchen in den einzelnen Ländern und mit Papst Pius XII. in Rom, der faktisch die moralische Stimme des Kontinents und einer bedrohten Zivilisation verkörperte. Obwohl über diese Zeit Zigtausende von Büchern geschrieben wurden, ist die Kirche bisher einer gründlichen Untersuchung entgangen.

In die öffentliche Kontroverse geriet das Verhalten Pius' XII. im Hinblick auf den Holocaust erstmals 1963 mit Rolf Hochhuths Stück Der Stellvertreter, das für viele Menschen in aller Welt ein Schock war, weil Hochhuth es wagte, das Schweigen des Papstes zu verurteilen. Über den Papst, die Kirche und die christliche Theologie vor dem Holocaust, währenddessen und danach war schon viel publiziert worden, doch offene Kritik am Verhalten des Papstes hatte es kaum gegeben. Er war sogar ausgiebig gelobt worden, auch von Juden, denen es offenbar eher um die aktuelle Politik ging, die verhindern wollten, dass noch mehr Antisemitismus geäußert wurde, und die mächtige Kirche vergebens dazu zu bewegen suchten, gegenüber Israel eine wohlwollende Haltung einzunehmen.
Hochhuths Stück, das den Papst verurteilte, löste eine Flut von Veröffentlichungen aus, darunter auch die elfbändige kirchliche Edition diplomatischer Dokumente mit Kommentar, Actes et Documents du Saint-Siège relatif à la Seconde Guerre Mondiale, bei deren Zusammenstellung man nach Hochhuths Angriff vor allem auf den Ruf des Papstes bedacht war.
Inzwischen ist über Pius XII. und den Holocaust eine kaum noch zu überschauende Fachliteratur entstanden, deren größter Teil der Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit entgangen ist.

Vor allem in den letzten Jahren ist eine große Zahl neuer Untersuchungen über Pius XII. und den Holocaust erschienen, und da die Kirche den Prozess der Seligsprechung von Pius XII. vorbereitet, der damit enden könnte, dass man ihn zum Heiligen salbt, ist die allgemeine Aufmerksamkeit erneut auf sein Verhalten gegenüber den Juden gelenkt worden. Die neuen Bücher haben zentrale Mythen über den Papst und die Kirche platzen lassen. Sie haben Entscheidendes zu unserem Verständnis verschiedener Aspekte der kirchlichen Handlungsweisen vor, während und nach dem Holocaust beigetragen.
Dank dieser Untersuchungen und besonders der Bücher von James Carroll, David Kertzer, Michael Phayer, Garry Wills und Susan Zuccotti, die bisher unbekannte Tatsachen zutage gefördert und neue Perspektiven eröffnet haben, ein breiteres und tieferes Verständnis für die Haltung der Kirche gegenüber den Juden und andere kritische Probleme der NS-Zeit und der zweiten Jahrhunderthälfte zu entwickeln. Dadurch sind wir in der Lage, relevante Aspekte des moralischen Charakters der Kirche und ihrer Geistlichkeit sowie der heutigen Positionen und Verhaltensweisen der Kirche einer kritischen Prüfung zu unterziehen.



S. 22 ff.) Zur Frömmigkeitspolitik deutscher Historiker

Dass man zögert, sich auf eine langfristig angelegte moralische Untersuchung einzulassen und moralische Urteile über das Verhalten von Menschen während des Holocaust zu fällen, hängt sicherlich auch damit zusammen, dass man sich scheut, bei mächtigen Institutionen Anstoß zu erregen und sich dadurch einen öffentlichen Tadel, mag er auch noch so unberechtigt sein, einzuhandeln. Wer über die Beteiligung gewöhnlicher Deutscher am Holocaust, über die Ausbeutung von Juden und Nichtjuden als Zwangsarbeiter durch die Deutschen, über die Existenz eines verbreiteten Antisemitismus in Deutschland während der NS-Zeit, über Schweizer Banken, die Holocaustopfern oder ihren Erben Geld gestohlen haben, über führende deutsche Historiker, die als ergebene Nationalsozialisten dem Regime bei seinen rassistischen, mörderischen Maßnahmen gedient und später einflussreiche deutsche Historiker der Nachkriegsgeneration ausgebildet haben, oder darüber, dass die katholische Kirche und Pius XII. nicht schuldlos sind, die schlichte Wahrheit sagt, wird persönlich mit dem Vorwurf überzogen, Vorurteilen anzuhängen und Unschuldige zu verfolgen. Man unterschiebt ihm Motive, die aus den Fingern gesogen sind, stellt ihn als deutschfeindlich, schweizfeindlich oder katholikenfeindlich hin. Man tadelt ihn, weil er es wagt, Urteile über andere zu fällen, rügt seine vermeintliche Anmaßung, ohne Rücksicht darauf, dass die Alternative zum Fällen von Urteilen über andere darin bestünde, Massenmörder und diejenigen, die ihnen auf vielfältige Weise halfen, sowie diejenigen, die von dem Massenmord in verbrecherischer Weise profitierten, ohne Rüge davonkommen zu lassen. Solche Vorwürfe sind indessen leicht als unaufrichtige, heuchlerische Angriffe zu durchschauen, mit denen eine genaue Prüfung des faktisch und moralisch Unhaltbaren abgewehrt werden soll, eine Prüfung, die als Bedrohung des aktuellen moralischen und politischen Ansehens, als Gefährdung wirtschaftlicher Interessen und akademischer Karrieren wahrgenommen wird.

Die Tatsachen: Viele gewöhnliche Deutsche waren in der NS-Zeit Antisemiten, haben die eliminatorische Verfolgung der Juden unterstützt und Massenmord begangen. Der deutsche Staat, deutsche Firmen und viele gewöhnliche Deutsche haben in breitem Umfang Menschen versklavt. Schweizer Banken (und Institutionen anderer Länder) haben die Opfer bestohlen und den apokalyptischen Angriff der Deutschen finanziert. Einige führende deutsche Historiker haben dem NS-Regime gedient und mit ihrer Arbeit u.a. seine Politik der Eroberung und Unterjochung anderer Länder gerechtfertigt, die, wie sie wussten, Massenmord einschloss. Und ihre Schüler, von denen einige zu den bedeutendsten Historikern des heutigen Deutschland gehören, haben es vertuscht. Die katholische Kirche hat in enormem Ausmaß Antisemitismus erzeugt und sich in vielerlei Weise falsch gegenüber den Juden verhalten.

Wenn man diese Tatsachen ausspricht und dabei anerkennt, dass es in jedem einzelnen Fall auch Ausnahmen von der Regel gegeben hat, und wenn man sagt, dass wir über Institutionen und Menschen, die verderbliche Ansichten gehegt und schwere Verbrechen und sonstige Vergehen begangen haben, urteilen sollten, ist das natürlich etwas anderes als die sich durch die Jahrhunderte ziehenden antisemitischen Vorwürfe gegen die im Grund machtlosen und verfolgten Juden, etwas anderes als die Märchen vom Streben der Juden nach Weltherrschaft, von ihrem Bestreben, das Christentum, Deutschland und alles Gute zu zerstören. Der berühmteste antisemitische Traktat der Neuzeit, die Protokolle der Weisen von Zion, war eine Fälschung.
Der Antisemitismus Hitlers und die verwandten Ansichten von Millionen deutscher und europäischer Zeitgenossen bestanden aus erkünstelten Fantasien. Wenn Neonazis, Antisemiten, ihre ideologischen Sympathisanten und De-facto-Unterstützer heute von einer internationalen jüdischen Verschwörung sprechen, ist das nur die neueste Version in dieser langen Geschichte der erfundenen Vorwürfe und des Hasses. Schon dass es nötig ist, auf den Unterschied hinzuweisen – auf der einen Seite die schlichte und reich dokumentierte Wahrheit über das, was viele Deutsche und Schweizer, die katholische Kirche und andere während der NS-Zeit getan haben, auf der anderen Seite die Lügen, die Antisemiten über Juden verbreitet haben – macht die Verzerrungen in der Diskussion über die NS-Zeit deutlich. Da verstoßen Kommentatoren aus politischen Motiven gewohnheitsmäßig gegen wissenschaftliche Maßstäbe, lenken von den Tatsachen ab und attackieren den Überbringer der schlechten Nachricht, um ihre unhaltbaren Behauptungen zu verteidigen.

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