October 10, 2010

Katholisch geprägte Kommunisten



Reinhard Marx 2008: Das Kapital

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S. 154 ff.) Luigi Taparelli SJ und Carlo Maria Curci SJ

Wer um diese christlich-kirchliche "Gerechtigkeitstradition" weiß, den kann es eigentlich nicht verwundern, dass auch das moderne Nachdenken über soziale Gerechtigkeit im Umfeld der Kirche ihren Anfang genommen hat. Der Begriff der "sozialen Gerechtigkeit" tauchte erstmals zu Beginn der 40er Jahre des 19. Jh.s auf, und zwar bei einem der Begründer der kirchlichen Soziallehre, dem sizilianischen Jesuiten Luigi Taparelli. ("In 1850, Taparelli was granted permission by Pope Pius IX to co-found Civiltà Cattolica with Carlo Maria Curci. In particular, he attacked the tendency to separate morality from positive law, and also the 'heterodox spirit' of unconstrained freedom of conscience which destroyed the unity of society. [...] Curci harshly criticized Italian clergy for neglecting to study Scripture.")
Angesichts der damaligen umwälzenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft war Taparelli klargeworden, dass Gerechtigkeit nicht allein eine Kategorie zur moralischen Bewertung individuellen Verhaltens, sondern auch zur Qualifizierung gesellschaftlicher Zustände und Strukturen ist. Nicht nur ein einzelner Mensch, auch eine Gesellschaft kann gerecht oder ungerecht sein. Um dieser Erkenntnis Ausdruck zu geben, kreierte Taparelli einen neuen Begriff: soziale Gerechtigkeit. ("... weil die katholisch geprägten französischen Sozialisten und Kommunisten mit den deutschen Atheisten unter Marx nicht zusammenarbeiten wollten.")

Lauf der Geschichte und Sozialismus/Solidarismus theologisch verknüpft


Sowenig die Menschen im 19. Jh. anfangs wussten, wie sie auf die sozialen Herausforderungen der Zeit, insbesondere die Arbeiterfrage, reagieren sollten, so vage blieb zunächst auch die Vorstellung Taparellis von der sozialen Gerechtigkeit. Er beschreibt sie als ein gesellschaftspolitisches Leitprinzip, das "faktisch alle Menschen gleichstellen muss in dem, was die Rechte der Menschheit im Allgemeinen betrifft – eben so, wie der Schöpfer jedem Menschen die gleiche menschliche Natur gab."
Diese Definition ist zwar wenig konkret, aber doch bemerkenswert und entspricht ganz der biblischen Tradition. Denn unverkennbar verknüpft Taparelli hier den Begriff der sozialen Gerechtigkeit mit einer von dem christlichen Schöpfungsglauben abgeleiteten Vorstellung natürlicher Menschenrechte.
Das ist deshalb so bemerkenswert, weil die Kirche im 19. Jh. in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu dem politischen Liberalismus und dessen Menschenrechtsvorstellungen stand. Und Taparelli war nicht irgendwer, sondern einer der wichtigsten Vordenker der Katholischen Soziallehre. An der päpstlichen Universität Gregoriana in Rom war er der akademische Lehrer von Vincenzo Gioachino Pecci, dem späteren Papst Leo XIII. ("Enzyklikenpapst", "Arbeiterpapst"), der 1891 die erste Sozialenzyklika Rerum novarum veröffentlichte.
Taparellis Denken zeigt, dass das Verhältnis zwischen Kirche und Liberalismus bereits im 19. Jh. komplexer war, als manche klischeehaften Darstellungen es wahrhaben wollen.
Freilich kann man der Kirche vorwerfen, dass ihre Vorstellungen von politischen Freiheitsrechten damals noch defizitär waren, aber man muss genauso anerkennen, dass die Kirche bei der Idee sozialer Grundrechte eine Vorreiterrolle hatte. Hier hinkte stattdessen der politische Liberalismus dem Lauf der Geschichte hinterher.

Sowohl dem christlich-sozialen Denken als auch dem liberalen Denken kann man mit Blick auf das 19. Jh. also einerseits Fortschrittlichkeit, aber andererseits auch partielle Defizite vorwerfen oder besser gesagt: Inkonsequenzen. Denn die Idee politischer Freiheitsrechte und ebenso die Idee sozialer Grundrechte ergeben sich letztlich notwendigerweise, wenn man bereit ist, die politischen und sozialen Konsequenzen des christlichen Menschenbildes und der diesem christlichen Menschenbild eng verbundenen Anthropologie der Aufklärung zu ziehen.
Taparelli leitet als Theologe die Idee der Menschenwürde und der sich daraus ergebenden Menschenrechte aus dem Schöpfungsglauben und aus dem biblischen Verständnis des Menschen als Ebenbild Gottes ab. Die theologische Rede von der Heiligkeit des menschlichen Lebens ist aber auch säkularen Deutungen zugänglich. Philosophisch ergeben sich Menschenwürde und Menschenrechte gemäß der klassischen Begründung nach Immanuel Kant aus der Eigenschaft des Menschen als einem zur Selbstbestimmung seines Willens fähigen sittlichen Subjekt.
Es geht dabei sowohl der theologischen als auch der philosophischen Rede darum auszudrücken, dass das Leben jedes Menschen einen absoluten, inneren Wert hat und dass deshalb jedes Menschenschicksal absolut wesentlich ist – wesentlich sozusagen im Zusammenhang der ganzen Weltgeschichte, ja im Angesicht der Ewigkeit.



S. 158) Wettbewerb – geniales Instrument. Räuberbanden mit Gewaltmonopol

Im Bereich der Wirtschaft garantiert der Markt, sofern er funktioniert und nicht vermachtet ist, in hohem Maß ein faires Verfahren. Wer auf dem Markt seine Güter anbiete, muss sich dem Wettbewerb aussetzen, und die Konsumenten entscheiden gleichsam demokratisch, wer bei welchem Preis eine gute Leistung erbringt.
Deswegen hatte Franz Böhm, einer der Begründer der Sozialen Marktwirtschaft, durchaus Recht, als er den Wettbewerb das "großartigste und genialste Entmachtungsinstrument der Geschichte" genannt hat.
Aber der Markt ist blind gegenüber jenen Leistungen, die nicht marktförmig, gleichwohl aber für die menschliche Gemeinschaft lebenswichtig sind. [...]
Es bleibt dabei: Ohne Gerechtigkeit sind Staaten nichts anderes als Räuberbanden, wie Augustinus gesagt hat.

S. 162) Weltweit entstehen neue Sozialbewegungen, die sich das Ziel der Armutsüberwindung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Das begrüße ich, weil die Kirche als die älteste und wahrscheinlich heute noch größte Bewegung zur Armutsbekämpfung damit Verstärkung bekommt.



S. 170) Kardinal Giraud, Bischof Ketteler und Kanzler Bismarck

1849 wurde Ketteler Propst der Sankt Hedwigskirche in Berlin. Bereits ein halbes Jahr später ernannte ihn Papst Pius IX. zum Bischof von Mainz. In dieser Position wurde Ketteler zum sozialen Gewissen nicht nur der dt. katholischen Kirche. Der erste dt. Reichskanzler Otto von Bismarck, unter dessen Regierung die ersten sozialpolitischen Gesetze erlassen wurden, insbesondere Kranken-, Unfall-, und Rentenversicherung für Arbeiter eingeführt wurden, bekannte nach Kettelers Tod: "Ohne ihn wären wir noch nicht so weit."
Durch sein Engagement und seine Schriften wirkte Ketteler auch außerhalb Deutschlands.
Für die erste päpstliche Sozialenzyklika Rerum novarum von 1891 lieferte sein Beispiel wichtige Impulse.
Ketteler ist allerdings nicht, wie manchmal behauptet wird, der erste Kirchenführer gewesen, der die Soziale Frage aufgegriffen hat. Andere haben das bereits vor ihm getan. Etwa die französischen Bischöfe Gustave de Croy, Louis de Belmas und Pierre Giraud. Kardinal Giraud schrieb bereits 1845 einen umfangreichen Hirtenbrief über Das Gesetz der Arbeit, in dem er scharf gegen die Ausbeutung der Arbeitschaft protestierte.
Aber kein Bischof des 19. Jh.s hat in der gleichen Intensität, Tiefe und Breite die Soziale Frage analysiert und politisch deren Lösung betrieben wie der Mainzer Bischof Ketteler. Deswegen ist er heute noch ein Vorbild für mich. Aber nicht nur für mich, sondern für die ganze Kirche: Papst Benedikt XVI. würdigt in seiner Enzyklika Deus caritas est von 2005 Ketteler als einen der wichtigsten Wegbereiter der kirchlichen Soziallehre.



S. 171 f.) Ketteler und Lasalle: Bruder- und (Produktions-) Genossenschaften

Anfangs, etwa in seinen Adventspredigten von 1848, war er der Meinung, dass allein die christliche Nächstenliebe und eine auf dieser fußende christliche Eigentumsauffassung wie jene, die wir schon von Basilius von Caesarea kennen, die Soziale Frage lösen könnte. Ketteler appellierte an das Gewissen der Reichen, die Arbeiter nicht auszubeuten und sie an dem wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben zu lassen. Später erkannte er, dass moralische Appelle alleine nichts auszurichten vermögen. Er dachte deshalb auch über strukturelle, politische Lösungen für die Soziale Frage nach. Zeitweise verfolgte er die damals auch bei anderen Sozialreformern populäre Genossenschaftsidee: Die Arbeiter sollten in selbstorganisierten Produktionsgemeinschaften arbeiten und so von Opfern zu Profiteuren der neuen technischen Möglichkeiten werden.
Ketteler war derart angetan von dieser Idee genossenschaftlicher Selbsthilfe, dass er unter hohem Geldeinsatz selbst ein Experiment mit einer solchen Produktivassoziation vorbereitete. Er kontaktierte in dieser Frage mit einem anonymen Brief sogar den Sozialisten Ferdinand Lasalle, um seinen Rat und seine Meinung einzuholen. Wenn das publik geworden wäre: Ein katholischer Bischof beratschlagt sich mit einem Sozialisten – das war damals ein unerhörter Vorgang.
Schnell zeigte sich, dass das Konzept der Produktivassoziationen nicht geeignet war, die soziale Not der Arbeiterschaft zu überwinden.

Das Betreue-Monopol der Messias-Caritas


Gegen Ende der 60er Jahre des 19. Jh.s setzte sich deshalb bei Ketteler die Überzeugung durch, dass die Kirche und andere gesellschaftliche Kräfte nicht alleine in der Lage sein würden, die Soziale Frage zu lösen. Notwendig war vielmehr ein Eingreifen des Staates mit seiner Gesetzgebungsgewalt.
Auch diese Erkenntnis war damals revolutionär für einen katholischen Bischof. Bis ins 19. Jh. hinein hatte die Kirche eine Alleinzuständigkeit in karitativen Angelegenheiten. Auch angesichts der Arbeiterfrage waren weite innerkirchliche Kreise nicht bereit, dieses Monopol aufzugeben. Ketteler aber erkannte die Zeichen der Zeit und bekehrte auch viele andere Bischöfe in Dtl. und ganz Europa zu dem Programm der politischen Sozialreform. Er wurde zu einem der prominentesten Verfechter eine umfangreichen Arbeiterschutzgesetzgebung und einer staatlichen Sozialpolitik.



S. 173) Karl Marx: "Demokratische Litanei"

Mit dieser Idee der sozialen Gerechtigkeit und dem Konzept der Sozialreform stand Ketteler in krassem Widerspruch zu dem Programm seines Zeitgenossen Karl Marx.
Marx setzte nicht auf Reform, sondern auf Revolution. Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit gehörte für ihn zu den nutzlosen Parolen eines von ihm zutiefst verachteten "Vulgärsozialismus".
Als sich die sozialistischen Kräfte in Deutschland 1875 in Gotha zu einer einheitlichen Partei formierten und sich bei dem neuen Parteiprogramm die sozialdemokratisch-reformerischen Kräfte in vielen Punkten gegenüber den kommunistisch-revolutionären Kräften durchsetzten, spuckte Karl Marx im Londoner Exil Gift und Galle.
Die Forderung des Programms nach einer gerechten Verteilung des Arbeitsertrages bezeichnete er als "veralteten Phrasenkram", und die Parole vom "gerechten Lohn" hielt er erst recht für blanken Unsinn.
Für Karl Marx war "das System der Lohnarbeit ein System der Sklaverei [...] ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange". (MEW Bd. 19, S. 26)
Das Gothaer Programm mit seiner vorsichtigen Abkehr vom Revolutions- und seiner ebenso vorsichtigen Hinwendung zum Reformgedanken war für Karl Marx weder Fisch noch Fleisch.

"Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Das Programm nun hat es weder mit letzterer zu tun, noch mit dem zukünftigen Staatswesen der kommunistischen Gesellschaft. Seine politischen Forderungen enthalten nichts, außer der aller Welt bekannten demokratischen Litanei." (ebenda S. 28 f.)


S. 175) Beteiligungsgerechtigkeit erstmals in einem episko. Hirtenbrief formuliert

Angesichts der heute auf vielen gesellschaftlichen Ebenen wirksamen Mechanismen der Exklusion, des sozialen Ausschlusses, ist die erste Gerechtigkeitsforderung deshalb: Menschen dürfen bei uns nicht länger an den Rand gedrückt und herausgedrängt werden. Jeder u. jedem steht eine Chance auf Teilhabe, auf Bildung und auf Arbeit zu.
Dieses Verständnis von sozialer Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit (iustitia contributiva) ist tatsächlich erstmals in einem kirchlichen Dokument formuliert worden, und zwar in dem seinerzeit vielbeachteten Hirtenbrief der US-amerikanischen katho. Bischofskonferenz von 1986 über die Katho. Soziallehre und die ameri. Wirtschaft.



S. 177) Bindung und Rückbindung zwischen Einzelmensch und Menschen/Übermenschen-Staat

Bereits 1955 erstatteten der spätere Kardinal Joseph Höffner, damals noch Professor für Christliche Sozialethik in Münster, und drei andere prominente Sozialwissenschaftler im Auftrag von Bundeskanzler Konrad Adenauer ("Adenauer received the Magistral Grand Cross personally from SMOM Grand Master Prince Ludovico Chigi.") ein Gutachten zur Neuordnung der sozialen Leistungen, in dem sie ein eindeutiges Plädoyer für den Sozialstaat ablegten, aber auch eindringlich vor dem den Bürger entmündigenden Versorgungsstaat warnten. Der Versorgungsstaat entwöhne die Menschen ihrer Eigenverantwortung bzw. Eigentätigkeit und degradiere sie dadurch auf Dauer zum bloßen Objekt staatlicher Handlungen. [...]
Aber nicht nur die Eigenverantwortung und damit letztlich die Würde des Einzelnen haben Höffner und seine Kollegen in dem allumfassenden Versorgungsstaat in Gefahr gesehen (Denkschrift 1955, S. 30):

"Auch gefährdet ein solches System den Staat, da es die Menschen dazu verleitet, dem Staat lediglich mit Forderungen gegenüberzutreten, wodurch die im Solidaritätsprinzip verankerte wechselseitige Bindung und Rückbindung zwischen Einzelmensch und Staat gestört wird."

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