Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge
Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 3, pt 4, pt 5, pt 6, pt 7
Findet das Bilderverbot des jüdischen Monotheismus seine theologische Begründung darin, dass er sich zur "restlosen Transzendenz Gottes, seinem alles Vorstellen und Erkennen übersteigendes Sein außer Raum und Zeit bekennt", so steht im Mittelpunkt des christlichen Glaubens die Überzeugung von der Menschwerdung Gottes. In Jesus Christus, Gottes eingeborenem Sohn, ist nach der christlichen Trinitätslehre der Geist Fleisch geworden. Die bildliche Darstellung des sichtbar gewordenen Gottessohns, der sich in menschlicher Gestalt verkörpert hat, widerspricht daher nicht unbedingt der christlichen Dogmatik. Dennoch ist mit den Offenbarungsschriften der Hebräischen Bibel, die dem Christentum als Zeugnis des Alten Bundes gilt, in den ersten Jahrhunderten auch das Bilderverbot übernommen worden: "denn wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen" – so heißt es schon bei Paulus (1. Korinther 5:7).
Außerhalb Palästinas fanden sich die frühen Christen in einer ähnlichen Situation wie die alten Israeliten in Ägypten, Kanaan oder Babylon. Ob in Kleinasien und Nordafrika, in Syrien, Griechenland oder Rom, überall sahen sie sich mit den unterschiedlichsten Formen polytheistischer Kulte konfrontiert, deren "Götzendienerei" nicht nur den Judenchristen ein Greuel war. Auch in diesem Fall wurde die Berufung auf den allgegenwärtigen einen Gott, der sich in kein Bild fassen ließ, zu einem Mittel der Abgrenzung von einer feindlichen Außenwelt. Zugleich diente sie dem inneren Zusammenhalt der christlichen Gemeinden der frühen Kirche, die sich als das erneuerte und wahre Israel verstand.
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In seiner bedeutenden, auch heute noch lesenswerten Studie über "Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten" (Leipzig 1924) hat der protestantische Kirchenhistoriker Adolf von Harnack das Christentum, wie es seit dem Ende des 3. Jahrhunderts Gestalt anzunehmen begann, als eine im Grunde "synkretistische Religion" bezeichnet. Es war der Synkretismus einer Universalreligion, der es erfolgreich gelungen war, Elemente unterschiedlichster Herkunft in sich aufzunehmen. Die Erlösungslehren und der Mysterienkult des Vorderen Orients, die ethischen Grundsätze der antiken Philosophie und die Institution eines streng hierarchisch gegliederten Priesterstandes wurden mit dem monotheistischen Erbe des Judentums verknüpft. Allen konkurrierenden Religionen des Mittelmeerraumes konnte das Christentum so allmählich den Boden entziehen. Und selbst im Kampf gegen den antiken Polytheismus, dem sich die ersten Märtyrer und die frühen Kirchenväter bis zur Selbstaufopferung verschrieben hatten, kam es schließlich zu Konzessionen.
Heilige und Nothelfer, also Halbgötter, dringen in die Kirche ein. Lokalkulte und lokale heilige Stätten werden gegründet. Die Gebiete des Lebens werden an Schutzgeister aufs Neue verteilt, die alten Götter ziehen ein, nur mit neuen Masken. Rauschende Jahresfeste werden gefeiert, Amulette und Sakramentalien, Reliquien und heilige Knochen werden begehrenswerte Gegenstände. Die Religion – einst als streng geistige jede Materialisierung verbietend und bekämpfend – materialisiert sich in jeder Beziehung. Sie hat die Welt und Natur getötet, nun aber beginnt sie sie wieder zu erwecken.
Ähnlich wie die Bilderverehrung stellten auch die Märtyrerkulte der frühen Kirche nur eine christliche Spielart, ja eine Übernahme der in Griechenland, Kleinasien, Israel und Rom weitverbreiteten Toten- und Heroenkulte dar. Im antiken Griechenland hatte man die Heroen dort verehrt, wo ihre sterblichen Überreste bestattet worden waren. Ihre Grabmäler galten als Heiligtümer, in denen die halbgöttlichen Helden qua ihrer materiellen Substanz anwesend schienen. Auch die den olympischen Gottheiten geweihten Tempelanlagen hatten innerhalb des témenos, des umgrenzten heiligen Bezirks, oft noch eine zweite, chthonische Kultstätte, die der Verehrung eines dort begrabenen Lokalheros diente. Die Heroengräber waren Orte der Opferhandlungen der Mitglieder der jeweiligen Lokalgemeinden. Ein Tier wurde rituell geschlachtet und von den Kultteilnehmern gemeinsam verzehrt. Auch der etruskische und der römische Totenkult wiesen ganz ähnliche Formen auf. Die Angehörigen versammelten sich um das Grab des Verstorbenen zu einem gemeinsamen Mahl, an dem man auch den Toten teilnehmen ließ, indem man ihm Trankopfer darbrachte oder einen Teil der Speisen auf sein Grabmal legte.
Die antiken Zeremonialformen wurden in den frühchristlichen Märtyrerfesten übernommen. Am Todestag des Märtyrers fanden sich die Mitglieder der Gemeinde vor dessen Grab an, rezitierten die Geschichte des Heiligen, sangen und beteten und nahmen anschließend ein gemeinsames Mahl ein. Der Todestag des Märtyrers galt als sein eigentlicher Geburtstag, da er an diesem Tag nach der christlichen Lehre im Gegensatz zu den gewöhnlichen Verstorbenen, die sich noch vor dem Jüngsten Gericht zu verantworten hatten, direkt zu Gott eingegangen war.
Die Märtyrer hatten ein vorbildhaftes Leben in Christo geführt und sich schließlich selbst für den Glauben geopfert. Sie waren verehrungswürdig. Menschen anzubeten verbot der Glaube jedoch.
Die eigentliche Grundlage für den Kult, den man ihnen entgegenbrachte, war daher die Vorstellung ihrer unmittelbaren Nähe zu Gott. Sie gab eine auch theologisch akzeptable Begründung dafür ab, dass sich die Gläubigen an ihre Heiligen mit einem Gebet wenden konnten. Denn es waren lediglich "Fürbitten", die man an sie richtete. Ora pro nobis – "Bete für uns" – lautete die klassische Formel, mit der der jeweilige Heilige aufgefordert wurde, das Gebet an den allmächtigen Herrn und Gott weiterzuleiten. Heilige waren Vermittler zu Gott. Und die Wirksamkeit ihrer Vermittlerdienste wurde durch die Präsenz ihrer sterblichen Überreste garantiert. In den Augen der Gläubigen bewirkten die Reliquien, dass die Heiligen in ihren Grabstätten, auf welche Weise auch immer, anwesend waren. Eine ausgefeilte theologische Lehre, die auf dem Boden des jüdischen Eingottglaubens und Totengedenkens entstanden war, der polytheistische Heroenkult der Antike und ein magischer Vorstellungskomplex der zweifellos noch entschieden älter war, gingen im frühchristlichen Märtyrerkult eine synkretistische Verbindung ein. Das spirituelle Gedenken an die Blutzeugen des frühen Christentums fand in der Verehrung ihrer Reliquien sein materielles Gegenstück.
Als eine der vielen Übernahmen altüberlieferter Glaubensmuster und Ritualformen hatte der Märtyrerkult erheblich zum Erfolg der neuen Religion und zur Ausbreitung der Kirche beigetragen. Zum einen lieferten die Heiligenlegenden den frühen Christen die Helden, mit deren Kampf gegen das Heidentum sich der einzelne identifizieren konnte. Ihr Tod war nur eine scheinbare Niederlage, in Wirklichkeit aber ein Sieg, da er mit dem unmittelbaren Eingang in das Reich Gottes belohnt worden war. Zum anderen – und dies war wahrscheinlich entscheidender – bot der Märtyrer- neben dem Marien- und Apostelkult die Möglichkeit, unter der Oberfläche des christlichen Bekenntnisses an überlieferten religiösen Praktiken festzuhalten. Zahlreich sind die Fälle, in denen die Kulte, die älteren Lokalgottheiten gewidmet waren, mit denen christlicher Heiliger verschmolzen.
Fast gleichzeitig mit der Lockerung des Verbots der Bilderverehrung hat sich seit Anfang des 3. Jahrhunderts der Brauch durchgesetzt, das Heilige Abendmahl – die zentrale kultische Handlung einer jeden christlichen Gemeinde – über der Grabstätte eines Heiligen zu feiern. Auch hier zeigt sich wiederum eine Parallele zu antiken Kultformen.In Griechenland wurden den olympischen Hochgöttern und den chthonischen Halbgöttern oft in denselben Tempelanlagen Opfer dargebracht. Beim frühchristlichen Herrenmahl wurden das Brot und der Wein der heiligen Wandlung auf einen Tisch gestellt, den man in Entsprechung zu antiken Opferfeiern zunächst mit dem griechischen Begriff thysiasthérion für Opferpodest und später mit dem aus dem Spätlateinischen altare abgeleiteten Wort "Altar" bezeichnete. Der Brauch, die Eucharistiefeier über einem Heiligengrab zu begehen, führte dazu, dass die ersten christlichen Kirchen über Märtyrergräbern errichtet wurden. Dabei achtete man darauf, dass der Abendmahlstisch immer mit den sterblichen Überresten des Heiligen in Verbindung blieb. Da aber nicht jede Kirche über einem Märtyrergrab erbaut werden konnte, ging man in diesen Fällen dazu über, die Gräber von Heiligen zu öffnen, ihre Gebeine in einer feierlichen Prozession zu ihrer neuen Ruhestätte zu überführen und entweder unter dem oder auch im Kirchenaltar selbst beizusetzen. Die Altäre wandelten seit dem 6. Jahrhundert ihre äußere Form. Ursprünglich einmal Tische aus Holz oder Stein, wurden sie zur Aufnahme der heiligen Gebeine als kastenförmige Würfel ausgeführt. Kleinere Heiligenreliquien wurden bisweilen auch in die sogenannte confessio gelegt, eine im Altar angebrachte Höhlung, die mit einem vergitterten Fenster versehen war, um den Gläubigen den Zugang zur Reliquie zu ermöglichen. Der Altar erhielt auf diese Weise nun selbst den Charakter eines Heiligengrabes. Einst nur ein gemeinsamer Esstisch, wurde er zum eigentlichen Mittelpunkt des Gemeindelebens: Platz der heiligen Wandlung, des Opfergedenkens und Reliquienbehälter in einem.
Bereits Ende des 6. Jahrhunderts scheint im Bereich der Westkirche kaum mehr eine Kirche ohne Reliquien gewesen zu sein. Jede Gemeinde drängte darauf, ihre eigenen Heiligenreliquien zu besitzen. Der fromme Wunsch wurde schließlich Gesetz. 787 fasste das Konzil von Nicäa den Beschluss, dass künftig jeder geweihte Altar Reliquien enthalten müsse. Zwischenzeitlich war es freilich zu einer Verknappung der Märtyrerleichen gekommen. Waren die frühen Blutzeugen Christi auch zahlreich, so verfügte doch nicht jede christliche Gemeinde über einen Heiligen, der in der Nähe ihres Wohnorts für den christlichen Glauben gestorben war. Auch hatte das Christentum seit seiner Erhebung in den Rang einer Staatsreligion kaum mehr neue Märtyrer hervorgebracht. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Sendboten des Glaubens, die bei der Erfüllung ihrer missionarischen Aufgaben ums Leben gekommen waren. Erst später sollte man dazu übergehen, auch besonders vorbildhafte Männer und Frauen, Kirchenväter, Eremiten, Asketen und andere Fromme in den Rang von Heiligen zu erheben. Andererseits hatte sich das Christentum immer schneller ausgebreitet. Allenthalben waren neue Kirchen errichtet worden. Der Bedarf an Märtyrerleichen nahm stetig zu, ihre Zahl aber blieb begrenzt. Eine mögliche und vor allem später häufig praktizierte Lösung des Problems bestand darin, dass man die Leichen der Heiligen zerstückelte und ihre Körperteile an die neugegründeten Gemeinden schickte. Im oströmischen Reich schon relativ früh üblich, blieb das Aufteilen der Märtyrerleichen im Westen und vor allem in Rom selbst bis in das 10. Jahrhundert hinein untersagt. Es galt als frevelhaft, kam aber dennoch hin und wieder vor.
Vielerorts versuchte man den Mangel dadurch zu beheben, dass man nach noch unbekannten Märtyrergräbern suchte. Dabei folgte man in der Regel übernatürlichen Hinweisen, die den Gemeindemitgliedern durch Träume oder Visionen eingegeben worden waren. Heiligenreliquien waren wertvoll, und die Versuchung, sich betrügerischer Manipulationen zu bedienen, dementsprechend groß. Um einem Missbrauch vorzubeugen, wurde daher seit dem frühen Mittelalter ein ganzer Katalog von Maßregeln entwickelt. Eine Grabstätte galt nur dann als echtes Heiligengrab, wenn sich bei dessen Entdeckung – der inventio – etwas Außergewöhnliches ereignet hatte, am besten ein Wunder. Der Leichnam des Heiligen sollte nach Möglichkeit kaum Spuren der Verwesung tragen, er sollte aussehen, als würde er eigentlich nur schlafen. Ein weiteres Indiz für die Authentizität eines Heiligengrabs war der "himmlische Wohlgeruch", den es bei seiner Öffnung ausströmte. Oft wird auch von einem Lichterschein berichtet, der den Sarg des Heiligen umgab. Ursprünglich bei der Aufdeckung verborgener Märtyrergräber entwickelt, wurden diese Indizien nach der Erweiterung des Kreises der Heiligen um hervorragende fromme Menschen als Beweis dafür angesehen, dass Personen, die schon zu ihren Lebzeiten im "Geruch der Heiligkeit" gestanden hatten, sich tatsächlich der besonderen Gnade Gottes erfreuten. Nach der Graböffnung folgten die ELevatio, die Erhebung und feierliche Ausstellung des Leichnams zur öffentlichen Verehrung, seine translatio, die in einer Prozession begangene festliche Überführung zu seinem neuen Aufbewahrungsort, und seine depositio oder Neubestattung in der Kirche. Diese zeremoniellen Akte, bei denen man weitere Wunder erwartete, wurden zum Gegenstand eines ganzen liturgischen Regelwerks. Da sie der Zustimmung des Bischofs oder anderer Autoritäten bedurfte, kamen sie einer faktischen Heiligsprechung gleich. Erst seit dem Hochmittelalter beanspruchten die Päpste das Vorrecht der Kanonisation der Heiligen für sich und entwickelten hierzu das in Teilen auch heute noch gültige juristische Verfahren.
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