May 26, 2010

Intellektuelle Vorhut der Gegenreformation


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 5, pt 6, pt 7

Die Kritik der Reformatoren
S. 66 ff.)
Einhalt geboten wurde dem immer extremer werdenden Reliquienkult erst mit der Reformation. Sie war in ihren Anfängen bekanntlich weniger eine volkstümliche Bewegung als vielmehr ein vom gelehrten Humanismus der Renaissance geprägter und von jüngeren Mitgliedern des Klerus getragener Versuch, zu den reinen Ursprüngen des Christentums zurückkehren. Die Berufung auf das Wort Gottes, wie es im Alten und Neuen Testament niedergelegt worden war, spielte dabei eine zentrale Rolle. Durch die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Glaubens sollte eine grundsätzliche renovatio ecclesiae herbeigeführt werden. Das Christentum von seinen weltlichen Überformungen und Auswüchsen zu befreien, war ein erklärtes Ziel der geistigen Führer dieser im Grunde fundamentalistischen Bewegung. Zu diesen Auswüchsen zählte nach Ansicht Melanchthons, Luthers, Zwinglis und Calvins nicht nur der politische und ökonomische Missbrauch, den das geistige Oberhaupt der Kirche in Rom mit der christlichen Religion betrieben hatte, sondern auch die Wiederkehr heidnischer Kultformen im christlichen Gewand. [...]

So üppig der Heiligenkult ins Kraut geschossen war, so radikal gestaltete sich nun seine Ablehnung. Im Deutschen Reich, in den Niederlanden, in Frankreich und in der Schweiz setzten die großen Bilderstürme ein, denen zahlreiche Kunstschätze zum Opfer fielen. Unter der kurzen Herrschaft der Wiedertäufer wurden in Münster sämtliche Bilder, Heiligenstatuen, Kruzifixe und Messgeräte aus den Kirchen entfernt, man schlug die bemalten Kirchenfenster ein, brach die Reliquienbehälter auf, warf die Knochen auf den Boden und zertrampelte sie mit den Füßen. [...]
Zwingli ließ im Großmünster von Zürich alle Kruzifixe, Altartafeln und Heiligenbilder abhängen, die Gräber der Stadtheiligen öffnen und selbst die steinernen Altäre abbrechen. Calvin verordnete in Genf ähnliche Maßnahmen. Der Gottesdienst ging in den reformierten Kirchen vor kahlen, schmucklosen Wänden vor sich, und die Gemeindemitglieder mussten sich der strengen Kirchenzucht beugen. Der Puritanismus der Bilderstürmerei fand im Postulat einer reinen christlichen Lebensführung sein Gegenstück. In Genf waren unter Calvins Regime Theater, Tanz und Gesang verboten. Wer sich dem Glücksspiel hingab, leichtsinnige Reden schwang oder gar fluchte, wurde bestraft. Auf Ehebruch stand der Tod. Der Ablehnung jeder Verkörperung des Heiligen, die sich bis hin zur rein symbolischen Deutung des Abendmahls in der calvinistischen Transsubstantiationslehre erstreckte, entsprach die Forderung nach einer vollständigen Verinnerlichung des Glaubens. [...]

Im 16. Jh. war das Verhaftetsein in traditionellen Glaubenspraktiken noch zu stark, als dass sich die radikalen Maßnahmen und Vorstellungen der Reformatoren gleich hätten durchsetzen können. Nach ihren beachtlichen Anfangserfolgen gingen die alten kirchlichen Autoritäten zum Gegenangriff über. Die Epoche der Gegenreformation begann. Sie führte zur inneren Erneuerung der katholischen Kirche, deren schlimmste Missstände beseitigt wurden und die sich effiziente neue Organisationsformen gab. Im Bündnis mit zahlreichen Territorialfürsten setzte sie die Rekatholisierung der von Rom abgefallenen Bevölkerungsgruppen durch. Ignatius von Loyola gründete 1540 den Jesuitenorden, der dem Papst bedingungslosen Gehorsam schwor und zur intellektuellen Vorhut der Gegenreformation werden sollte. In ihrem Kampf gegen den Protestantismus setzte die Kirche zugleich auf die populären Formen der Volksfrömmigkeit. Heiligenverehrung und Reliquienkult blühten erneut auf. Der Bilderfeindlichkeit der reformierten Kirchen wurde die katholische Bilderpracht entgegengestellt. Die Reliquiare und Altäre waren prunkvoller denn je. Die Innenräume der Barockkirchen verwandelten sich in irdische Abbilder des himmlischen Paradieses.

Langfristig konnte freilich auch die katholische Kirche dem Rationalisierungsschub, den die Reformation ausgelöst hatte, und den neuen Denkformen, die sie hervorgebracht hatte, nicht entgehen. Anders als noch im 16. Jh. sollte sich der Widerstand gegen die altüberlieferten Formen der Religiosität jedoch nicht mehr innerhalb der Kirche selbst artikulieren. Ausgerechnet in Frankreich, dem Land, dessen Könige ihre damals in Europa einmalige Machtfülle dem rigorosen Kampf gegen den Protestantismus verdankt hatten, bildete sich eine Gruppe von unabhängigen Schriftstellern und Denkern heraus, deren Kritik nicht mehr nur dem einen oder anderen kirchlichen Missstand, sondern bald der Religion überhaupt galt. Die Philosophen des Rationalismus bereiteten den Weg. Die Aufklärer des 18. Jh. gingen ihn konsequent weiter. "Écrasez l'infâme" hieß das Motto, unter das Voltaire und seine Zeitgenossen ihren Kampf gegen die Kirche und deren "Aberglauben" stellen sollten. Im weiteren Verlauf dieser Entwicklung wurde auch die katholische Kirche zu Konzessionen gezwungen. Jenem Rationalisierungsprozess, den Max Weber so treffend als "Entzauberung der Welt" bezeichnet hatte, fiel mit "allen magischen Mitteln der Heilssuche" schließlich auch der Reliquienkult zum Opfer. Die katholische Kirche hat ihn zwar nie offiziell abgeschafft, seine einstige theologische Bedeutung als ein möglicher Weg zum Heil aber sollte er ab dem 19. Jh. gänzlich verlieren.

Die Erfindung des Fetischismus, Reiseberichte und frühe Religionskritik
S. 69 f.)
Die Nachrichten über außereuropäische Religionen, die seit der Entdeckung der Neuen Welt, der Umschiffung der afrikanischen Küste und den ersten Weltumsegelungen aus Amerika und Afrika, aus Indien, China und Japan nach Europa gelangt waren, wurden im Zeitalter des Rationalismus und der Frühaufklärung von den Philosophen begierig gelesen. Sie zeigten, zu welchen Verirrungen der menschliche Geist fähig war. Die Übereinstimmung bestimmter christlicher Kulturpraktiken mit den "lächerlichen Zeremonien" fremder Völker lag auf der Hand. Offensichtlich war hier wie dort derselbe "Aberglaube" am Werk. Doch waren nicht alle Religionen gleich unvernünftig. Einige schienen dem Christentum in dieser Hinsicht sogar überlegen. So konnte man etwa in den Abhandlungen der Jesuitenmissionare über die Religion der Chinesen Erstaunliches lesen. Die Jesuiten lobten ihre philosophischen Grundsätze und verglichen ihren Gründer sogar mit dem Apostel Paulus. Hatte Konfuzius den Chinesen nicht eine Religion gegeben, die ganz nach den Prinzipien der Vernunft gestaltet war und sie zu einer ethischen Lebensführung anhielt, so fragte sich Leibniz nach der Lektüre ihrer Berichte. Und er schloss die Überlegung an, ob es nicht sinnvoller sei, konfuzianische Missionare nach Europa zu holen, anstatt katholische Missionare nach China zu senden.

Aus anderen Weltgegenden wussten die Missionare Ähnliches zu berichten. Viele Religionen glichen sich darin, dass in ihrem Mittelpunkt die Verehrung eines Höchsten Wesens stand. Sie stimmten auch in anderen Grundzügen überein, ließen die Menschen an die Vergeltung ihrer bösen und guten Taten im Jenseits glauben und leiteten sie so zu sittlichem Verhalten an. [...] Unwillentlich lieferten die Missionare und Reisenden den Freigeistern ein ganzes Arsenal von Waffen für ihren Kampf gegen die Lehren der Kirche. In Aufnahme von Überlegungen, die schon in der frühchristlichen und scholastischen Theologie eine wichtige Rolle gespielt hatten, glaubten sie von einer "natürlichen" Religion aller Menschen ausgehen zu können, die auf keinem anderen Prinzip beruhte als dem der reinen Vernunft. Was die Philosophen des 17. und frühen 18. Jh. den Beschreibungen der Reisenden und Missionare entnehmen konnten, schien diese alte Auffassung nun durch eine Fülle neuer empirischer Beobachtungen zu belegen. Sie ließen sich als Beweismaterial für die vormalige Existenz einer solchen, einmal allen Menschen gemeinsamen "Naturreligion" deuten. Die religio naturalis, die aus wenigen angeborenen Grundwahrheiten bestand, wurde von den Frühaufklärern den historischen Offenbarungsreligionen entgegengestellt, die auf den betrügerischen Machenschaften der Priester beruhten und von Wunderglauben überwuchert waren.

S. 74 f.)
Nicht ewige Weisheiten, sondern Tiere hätten die Ägypter in ihren theriomorphen Göttern angebetet. Auch die Tiergestalten, in die sich Zeus und andere olympische Götter in den Mythen verwandelten, wiesen auf einen ursprünglich fetischistischen Kult hin. Selbst vor dem Alten Testament macht de Brosses nicht halt. Sorgfältig listet er aus den Patriarchenerzählungen, der Mose-Überlieferung, den Königschroniken und den prophetischen Büchern alle Hinweise auf die Verehrung von heiligen Steinen, geweihten Höhen und tiergestaltigen Idolen auf, und immer wieder zieht er Parallelen zu den Fetischkulten Westafrikas. [...] Von Interesse war der Fetischismus vor allem als eine Waffe im Kampf gegen die Religion. Es ist das Christentum selbst, dem mit seiner Hilfe ein Zerrspiegel vorgehalten werden kann. De Brosses hütet sich in seiner Abhandlung zwar davor, auch noch diese Parallele zu ziehen und etwa auf die Verwandtschaft des afrikanischen Fetischdienstes mit dem Heiligen- und Reliquienkult zu verweisen. Dass er allerdings auch ihn vor Augen hatte, geht aus einer kurzen Bemerkung im letzten Teil seines Buches hervor. Wir verehren einen Heiligen nicht deshalb – so führt er hier aus – weil wir auf unseren Prozessionen sein Bild vorantragen, vielmehr tragen wir sein Bild voran, weil wir ihn verehren.
De Brosses bekleidete ein wichtiges öffentliches Amt, und sich offen gegen das Christentum zu äußern, wäre für einen Notabeln im Frankreich des Jahres 1760 noch zu gefährlich gewesen. Doch wies er der späteren Radikalisierung der Religionskritik den Weg. De Brosses schlägt den Sack und meint den Esel. Er wendet sich mit seiner Fetischismustheorie gegen die allegorischen Deutungen der Religion, eine Allegorie aber war auch sein Fetischbegriff selbst. An den Afrikanern konnte man die Gebräuche als kindisch abtun, die im Christentum lächerlich zu machen die Zensur verbot.

S. 78 ff.)
Kant wendet sich in ihr explizit gegen alle bloß äußerlichen Formen des Gottesdienstes wie Glaubensregeln, Observanzen und statuarische Gesetze. Dass er in diesem Zusammenhang Büßungen, Kasteiungen und Wallfahrten als "Religionswahn" verwarf, mochte als protestantische Polemik gegen die im Katholizismus populären Glaubenspraktiken noch angehen. Wenn er allerdings der Kirche insgesamt vorwarf, dem Offenbarungsglauben vor dem moralischen Prinzip dem Vorzug zu geben und den Ritus zum Selbstzweck werden zu lassen, so ließ sich dies ebenso auch auf den Protestantismus beziehen. Tatsächlich brachte der Antiklerikalismus dieser Abhandlung ihrem damals fast siebzigjährigen Autor erhebliche Schwierigkeiten mit den preußischen Zensurbehörden ein und hätte fast zu einem Veröffentlichungsverbot geführt.

Kants strenger eigener Definition zufolge ist die Religion "die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote". Subjektiv könne sie sich daher nicht in irgendwelchen religiösen Handlungen realisieren, sondern allein in einem "guten", und das meint für Kant eben "moralischen" Lebenswandel. Darüber hinaus gebe es keine weiteren Pflichten gegen Gott, "denn Gott kann von uns nichts empfangen – wir können auf und für ihn nicht wirken." Doch selbst der "gute Lebenswandel" laufe noch Gefahr, zum bloßen "Afterdienst" zu werden. In dem provokantesten Abschnitt seiner Abhandlung, der den Titel "Vom Pfaffenthum als einem Regiment im Afterdienst des guten Prinzips" trägt, schreibt Kant daher: "Der Mensch nun, welcher Handlungen, die für sich selbst nichts Gott Wohlgefälliges (Moralisches) enthalten, doch als Mittel braucht, das göttliche unmittelbare Wohlgefallen an ihm und hiermit die Erfüllung seiner Wünsche zu erwerben, steht in dem Wahn des Besitzes einer Kunst, durch ganz natürliche Mittel eine übernatürliche Wirkung zuwege zu bringen. Dergleichen Versuche man das Zaubern zu nennen pflegt, welches Wort wir aber (da es den Nebenbegriff einer Gemeinschaft mit dem bösen Princip bei sich führt, dagegen jene Versuche doch auch als übrigens in guter moralischer Absicht aus Mißverstande unternommen gedacht werden könnten) gegen das sonst bekannte Wort des Fetischmachens austauschen wollen."

Kant bezeichnet hier als "Fetischmachen", was auch schon Luther an der Werkgerechtigkeit der katholischen Lehre kritisiert hatte: die Vorstellung nämlich, durch bestimmte Handlungen übernatürliche Wirkungen erzielen zu können. Allerdings geht er noch einen Schritt weiter und weist diese Idee auch dort zurück, wo sie einer nur oberflächlichen Betrachtung von Moralregeln zugrunde liegt. Wer annähme, sich auf diesem Weg das Wohlgefallen Gottes erkaufen zu können, begebe sich auf eine Stufe mit dem heidnischen Fetischdiener. Kants Auffassung nach kann der wahre Gottesdienst nur in einer sittlichen Lebensführung bestehen, die aus sich selbst heraus motiviert ist, die im eigentlichen Sinn uneigennützig ist und die gerade nicht auf eine wie auch immer geartete Belohnung hofft. Worum es der Kantischen Religionsphilosophie im Prinzip geht, das ist wesentlich eine Verinnerlichung aller moralischen Gebote, der gegenüber jede bloß zweckdienliche religiöse Handlung als ein Rückfall in fetischistische Glaubensformen erscheint. Aus demselben Grund verwirft er auch alle "Formeln der Anrufung", "Bekenntnisse eines Lohnglaubens" und "kirchliche Observanzen" als untaugliche Versuche, den "Beistand der Gottheit gleichsam herbeizaubern zu können". In diesem Sinn heißt es daher noch einmal in aller Deutlichkeit: "Wer also die Beobachtung statuarischer einer Offenbarung bedürfender Gesetze als zur Religion notwendig und zwar nicht bloß als Mittel für die moralische Gesinnung, sondern als die objektive Bedingung, Gott dadurch unmittelbar wohlgefällig zu werden, voranschickt und diesem Geschichtsglauben die Bestrebung zum guten Lebenswandel nachsetzt (anstatt dass die erstere als etwas, was nur bedingterweise Gott wohlgefällig sein kann, sich nach dem letzteren, was ihm allein schlechthin wohlgefällt, richten muss), der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht."
Doch seien es gerade die Kleriker und die Kirche, die diese Neigung förderten. Indem sie dem Gläubigen Gehorsam und Unterwerfung abverlangten, verhinderten sie, dass er selbst zu dem freien Entschluss gelange, den sittlichen Prinzipien zu folgen: "Das Pfaffentum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Prinzipien der Sittlichkeit, sondern statuarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben ausmachen. Nun gibt es zwar manche Kirchenformen, in denen das Fetischmachen so mannigfaltig und mechanisch ist, dass es beinahe alle Moralität, mithin auch Religion zu verdrängen und ihre Stelle vertreten zu sollen scheint und so ans Heidentum sehr nahe angrenzt. Allein auf das Mehr oder Weniger kommt es hier nicht eben an, wo der Wert oder Unwert auf der Beschaffenheit des zuoberst verbindenden Prinzips beruht. Wenn dieses die gehorsame Unterwerfung unter eine Satzung als Frondienst, nicht aber die freie Huldigung auferlegt, die dem moralischen Gesetz zuoberst geleistet werden soll, so mögen der auferlegten Observanzen noch so wenig sein – genug, wenn sie für unbedingt notwendig erklärt werden – so ist das immer ein Fetischglauben, durch den die Menge regiert und durch den Gehorsam unter eine Kirche (nicht der Religion) ihrer moralischen Freiheit beraubt wird."

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