May 23, 2010

Schriftgelehrte nahmen den Platz der Priester ein


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge Geschichte und Theorie sakraler Objekte
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S. 11) Man könnte Marx' theatralische Inszenierung des Fetischbegriffs auch, wie dies neuerdings Hartmut Böhme getan hat, als Versuch einer metaphorischen Wiederverzauberung der Welt deuten.
(Hartmut Böhme: "Ursprünge und Funktionen des Fetischismus-Konzepts von Karl Marx" in "Fremderfahrung und Repräsentation", Weilerswist 2002, S. 96-124)

S. 14) "Et deos fusiles ne feceris tibi."
"Du sollst Dir keine gegossenen Götzen machen" – heißt es so zum Beispiel in Exodus 34:17

S. 29 ff.)
Was mancher katholische Gläubige insgeheim bei sich gedacht haben mochte, sprachen die protestantischen Reisenden und Kaufleute nur offen aus. Die Umstandslosigkeit, mit der Ultzheimer und Bosman eine Übereinstimmung zwischen den Religionsübungen der Katholiken und den kultischen Praktiken der westafrikanischen Küstenbewohner behaupteten oder mit der Olfert Dapper die "Fetische" der Afrikaner mit den "Heiligen" katholischer Observanz gleichsetzte, war zwar provokativ gemeint, doch verwiesen sie damit lediglich auf Gemeinsamkeiten, die den portugiesischen Seefahrern und Missionaren ebenso wenig entgangen sein dürften. Die Portugiesen selbst aber konnten auf diese Übereinstimmungen nur mit Abwehr reagieren. In der Verehrung der mit magischen Substanzen aufgeladenen anthropomorphen Kultfiguren glaubten sie ein verdrehtes, "teuflisches" Zerrbild des seit dem ausgehenden Mittelalter in ganz Europa in hoher Blüte stehenden Heiligen- und Reliquienkults zu erkennen. Der Umgang der Afrikaner mit ihren "Fetischen" entsprach den zauberischen Praktiken der feiticeiros (Teufelsdiener, Hexer) ("Picasso saw himself as a shaman.") in ihrem eigenen Land, die selbst wiederum als eine satanische imitatio der in der Kirche mit geheiligten Gegenständen vollzogenen Handlungen angesehen wurden.

Paradoxerweise aber war es gerade der Import jener katholischen Kultformen, die in Westafrika mit überlieferten Formen der Objektverehrung verschmolzen waren, der zur Herausbildung des fetischistischen Komplexes beigetragen hatte. Und auch dies war wiederum kein Zufall. Denn unter allen religiösen Phänomenen, die das Christentum im Verlauf seiner langen Geschichte hervorgebracht hat, ist es in der Tat die Heiligen- und Reliquienverehrung, die die größte Nähe zur Sakralisierung materieller Objekte in außereuropäischen Kulturen aufweist. Religionshistorisch betrachtet stellt sie eine Wiederkehr des durch das Bilderverbot der Hebräischen Bibel verdrängten Kultes sakraler Objekte dar – ein Prozess, der im folgenden Kapitel nachgezeichnet werden soll. Wie hieran anschließend zu zeigen sein wird, war es jene spezifische Form der Verkörperung des Heiligen, die auch den Erörterungen des Fetischismus in den Werken Kants, Hegels, Comtes und Marx' als heimliches Leitmotiv zugrunde liegt, seit der Aufklärungsphilosoph Charles de Brosses ihn in seiner einflussreichen Schrift über den "Kult der Fetischgötter" zur Urform von Religion überhaupt erklärt hatte.

II. Bilderverbot und christlicher Reliquienkult
Die Verwerfung der Idolatrie und der Bildverehrung im Judentum

Das in der Vulgata – der lateinischen Übersetzung der Bibel – verschiedentlich verwendete Partizip Perfekt facticitus, "künstlich gemacht", aus dem das portugiesische Wort feitico abgeleitet ist, taucht vor allem im Zusammenhang mit der Verdammung der Idolatrie und dem Verbot auf, sich ein "Bildnis" von Gott zu machen. Der eigene Gott ließ sich nicht abbilden, weshalb in den Augen der alten Israeliten die kultische Verehrung von Götterbildern zugleich immer auch "Götzendienst" war. Das erste Mal im Dekalog Exodus 20:4 formuliert und in Leviticus 26:1, in Deuteronomium 4:16 und an zahlreichen anderen Stellen wieder aufgenommen, wird das Bilderverbot in den Königschroniken und dann vor allem in den prophetischen Schriften der Hebräischen Bibel zunehmend schärfer gefasst. Religionshistoriker und Theologen haben das Verbot der Herstellung von Bildern Gottes eng an die Entstehung des reinen Monotheismus im Alten Israel gebunden. Es entspricht der Vorstellung eines transzendenten, allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Gottes, der sich nicht in ein von Menschenhand gefertigtes Bild zwingen lässt. Der unsichtbare und gestaltlose, ein und einzige Gott gilt als so übermächtig und groß, dass jeder Versuch, ihn in materieller Form darzustellen und auf diese Weise Macht über ihn gewinnen zu wollen, als Frevel erscheinen muss. War das Bilderverbot zunächst allein auf Gott bezogen, so erfuhr es im Verlauf der weiteren jüdischen Religionsgeschichte eine enorme Erweiterung. Es bezog sich bald auch auf den Menschen, von dem es in der Schöpfungsgeschichte heißt, dass Gott ihn nach seinem eigenen Bilde geschaffen habe, ja schließlich sogar auf alle lebenden Geschöpfe wie Vieh und Vögel, Gewürm und Fische (Deuteronomium 4:15-18) überhaupt.

Über den Widerstand, der im Alten Israel allen Formen der Verkörperung des Göttlichen entgegengebracht wurde, sind verschiedene Hypothesen entwickelt worden. In der älteren Forschung hat man das Verdikt gegen bildliche Darstellungen darauf zurückgeführt, dass der Gott der Geschichtsbücher der Hebräischen Bibel ursprünglich die Stammesgottheit einer nomadisierenden Gesellschaft gewesen sein, die auf den langen zyklischen Wanderungen nicht in Form von Statuen oder anderen Kultbildern mitgeführt werden konnte. Im Unterschied zu den Gottheiten der benachbarten Ethnien habe der Gott Israels keinen festen eigenen Kultort oder Tempel besessen. Verehrt worden sei er vornehmlich auf Bergen, heiligen Höhen und an anderen sakralen Orten. Dem entspricht, dass Jahwe sich in den biblischen Erzählungen oft unter Blitz und Donner offenbart, dass er auf den Wolken reitet, es regnen und Hagelmassen auf die Feinde Israels fallen lässt. Sofern er als Wettergott mit dem Himmel identifiziert wurde, schien er allgegenwärtig.
Tatsächlich sind auch für rezente pastorale Gesellschaften wie etwa die Nuer oder die Dinka in Ostafrika sehr abstrakte, bildlose Hochgottvorstellungen charakteristisch, die denen der Hebräischen Bibel zum Teil verblüffend ähneln.

Gegen diese Auffassung ist neuerdings jedoch eingewandt worden, dass die Berichte über die Zeit der Patriarchen erst im 6. Jahrhundert niedergeschrieben worden seien und man über das vorstaatliche Israel nur wenig Gesichertes wisse. Auch hätten neuere archäologische Funde Zweifel an der Überlieferung von der nomadischen Lebensweise der alten Israeliten aufkommen lassen. Möglicherweise handelte es sich daher hierbei nur um eine in die Frühzeit projizierte "pastorale Idylle".
Unbestrittener ist dagegen, dass die Konstruktion einer allgegenwärtigen Gottheit, die sich nicht in irgendein Bild oder anderes materielles Objekt fassen ließ, als ein Versuch der Abgrenzung gegenüber den Kulturen des alten Kanaan mit ihrer Vielzahl an Götterbildern und überbordenden Kulten gedeutet werden kann. In ähnlicher Weise mag der abstrakte monotheistische Gottesbegriff auch gegen die an materiellen Verkörperungen des Göttlichen so reiche Religion Ägyptens gerichtet gewesen sein. In einer polytheistischen Umwelt festigte der Glaube an den unsichtbaren einen Gott, der mit den eigenen Vorvätern einen ewigen Bund geschlossen hatte, die Gemeinschaft. Er wurde zum einigenden und identitätsstiftenden Band der "Kinder Israels". Abgrenzung nach außen und Stärkung des ethnischen Einheitsgefühls bedingten sich gegenseitig. Nach den Worten von Jan Assmann wird in der Geschichte Israels die Religion "zu einer ehernen Mauer, mit der sich das ihr anhängende Volk gegen die umgebende, als fremd diagnostizierte Kultur abgrenzt".

Die prophetischen Bücher und die Königschroniken der Hebräischen Bibel folgen dieser Intention. Die großen Katastrophen, von denen Israel in historischer Zeit heimgesucht wurde, werden von ihnen als Strafe Gottes für den Abfall in die idolatrischen Praktiken seiner Umwelt gedeutet. Die Erzählungen über die Patriarchen, den Auszug aus Ägypten, die Eroberung des Gelobten Landes und die Philisterkriege erzählen dagegen eine andere Geschichte. Aus mündlichen Überlieferungen hervorgegangen, sind sie im Zuge ihrer Verschriftlichung zwar immer wieder mit Hinzufügungen versehen worden, in die spätere religiöse Auseinandersetzungen und Polemiken Eingang gefunden haben. Doch haben sie als heilig zu haltende Überlieferungen zugleich Erinnerungsspuren an frühe Bräuche und an historische Ereignisse bewahrt, die durch die zahlreichen späteren Redaktionen nie restlos getilgt worden sind. Auch wenn sie alles andere sind als Abbildungen von Realgeschichte, zeigen sie doch, dass auch das alte Israel nie ohne materielle Verkörperungen des Göttlichen ausgekommen ist.

S. 35 ff.)
Die Herstellung von Bildern Gottes fiel unter die Verdikte des Dekalogs, den Mose selbst auf die Gesetzestafeln aufgezeichnet haben soll. Nimmt man auch in diesem Fall die biblischen Überlieferungen als Erinnerungsspuren des kollektiven Gedächtnisses ernst dann scheinen die beiden Gesetzestafeln selbst zum Ersatz eines solchen Gottesbildes geworden zu sein, zur Verkörperung des Heiligen in einem wörtlichen, ja in diesem Fall "buchstäblichen" Sinn. Dies ist zumindest die logische Konsequenz aus den biblischen Berichten über die Bundeslade, die zur Aufbewahrung der mosaischen Gesetzestafeln diente und als heiligster Gegenstand der vorexilischen Religion galt. Der ausführlichen Beschreibung in Exodus 25:10-25 zufolge hat es sich bei der Bundeslade um einen aus Akazienholz gefertigten Kasten gehandelt, der auf beiden Seiten mit goldenen Tragestangen und Ringen versehen war. Die Deckplatte soll ebenfalls aus purem Gold bestanden und zwei Cherubim gezeigt haben, die ihre Flügel über die Lade breiteten. Die Bundeslade wurde im Allerheiligsten des salomonischen Tempels aufbewahrt, galt aber nach dessen Zerstörung im Jahre 587 v. Chr. als verschollen. Ihre Existenz kann als gesichert gelten. Wie sie tatsächlich aussah, lässt sich freilich nicht sagen. Verschiedentlich ist die These vertreten worden, dass sie wie einer der "leeren Götterthrone" der Nachbarvölker Israels gestaltet worden sei. Möglicherweise waren ihr Vorbild aber auch kultische Tragsessel zum Transport von Steinidolen, wie sie etwa aus dem vorislamischen Arabien bekannt sind.

Obgleich die Vorstellung, dass Gott in der Bundeslade präsent sein könnte, dem theologischen Denken des Alten Israel eher fern lag, wurde sie als ein mit göttlicher Macht geladener Gegenstand angesehen, dem das Volk der biblischen Überlieferung zufolge zahlreiche Siege verdankte. Als die Israeliten den Jordan überquerten, sollen die Wasser vor ihr zurückgewichen sein (Josua 3:6-17) Bei der Eroberung von Jericho ließ Josua sie unter Posaunenklängen sieben Mal um die belagerte Stadt tragen, deren Mauern daraufhin fielen. Auch noch in der Zeit der Philisterkriege soll das Heer sie auf seinen Feldzügen mit sich geführt haben. Dass ihr eine gleichsam personenhafte Wirkkraft zugeschrieben wurde, geht aus einer Episode hervor, die sich während dieser Kriege ereignet haben soll. In der Schlacht von Aphek fiel die Bundeslade in die Hände der Philister, die sie in die Stadt Asdod brachten und dort im Tempel ihres Meeresgottes Dagon aufstellten. Am folgenden Tag fanden die Priester die Statue ihrer Gottheit mit dem Antlitz auf dem Boden vor der Lade liegen. Die Philister richteten sie erneut auf. Doch am nächsten Morgen mussten sie ihr Götterbild wieder umgestürzt vorfinden, dieses Mal freilich mit abgeschlagenem Kopf und abgehauenen Händen. Auch die Menschen selbst blieben vom Unglück nicht verschont, denn zur gleichen Zeit sollte im Reich der Philister die Beulenpest ausbrechen. Die Priester und Wahrsager beschlossen daraufhin, die Bundeslade den Israeliten zurückzugeben. Zusammen mit reichen Sühnegeschenken, fünf nachgebildeten Pestbeulen und Mäusen aus reinem Gold, wurde sie über die Grenze in die Priesterstadt Beth-Semes gebracht. Wie es in der Erzählung weiter heißt, fielen der Bundeslade dort weitere siebzig Menschen zum Opfer, da sie ihr nicht genug Achtung entgegenbrachten (1. Samuel 4-6).

Die Bundeslade wies nach den Vorstellungen der alten Israeliten also ganz ähnliche Heil und Unheil bringende Eigenschaften auf wie die "Fetische" der Bewohner der westafrikanischen Küste. Aus der Sicht der Priester ein Zeugnis der Erinnerung an den ewigwährenden Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hatte, galt sie dem Volk als ein selbstwirksamer und selbstmächtiger Gegenstand, der ganze Stadtmauern zum Einsturz bringen konnte, der die Überlegenheit der eigenen Religion durch einen Kampf mit einem fremden Götterbild unter Beweis gestellt hatte und der überdies jeden strafte, der ihr den gebührenden Respekt verweigerte. Zieht man in Betracht, dass die Bundeslade der Aufbewahrung der heiligen Worte jenes Gottes diente, der seinem Volk ausdrücklich die Herstellung von bildlichen Darstellungen seiner selbst verboten hatte, so gelangt in den "fetischistischen" Vorstellungen, die man mit ihr verband, ein in der Geschichte der Religionen häufig zu beobachtender Vorgang zum Ausdruck: die Wiederkehr des Verdrängten im Verdrängenden selbst. Es war denn auch die "Lade Jahwes", die Generationen später im Tempel Salomons den Platz einnehmen sollte, der in den Kultstätten der benachbarten Völker den Bildern der Götter vorbehalten war.

Eine Radikalisierung des Bilderverbots, die langfristig seine endgültige Durchsetzung bewirkte, erfolgte in der Zeit der Propheten. Die Verkündigung des bald bevorstehenden Untergangs Israels wird bei Hosea mit dem Abfall vom wahren Glauben begründet, der sich für ihn sowohl in der "Hurerei mit fremden Göttern" als auch im Überhandnehmen der götzendienerischen Opferkulte auf Bergen und heiligen Höhen äußerte. Ähnlich wettert der Prophet Amos gegen die Götterbilder, "welche ihr auch selbst gemacht hattet" (Amos 5:26) Und Jesaja beklagt, dass das Land voll sei von Götzen: "Sie beten an ihrer Hände Werk, das ihre Finger gemacht haben" (Jesaja 2:8). Aus der Zeit des Exils stammt eine weitere Passage im sogenannten Deutero-Jesaja, in der der Prophet seinen Spott über diejenigen ausgießt, die sich aus Eisen oder Holz selbst einen Gott machen und dann vor ihm niederknien um ihn anzubeten (Jesaja 44:9-20, vgl. auch Jeremia 12:10) Der prophetische Protest richtete sich jedoch nicht nur gegen den eigentlichen Götzendienst und den synkretistischen Baal-Jahwe-Kult (Jeremia 2) sondern auch gegen die Verehrung von vielen anderen Verkörperungen des Göttlichen, der heiligen Höhen, der Sonnensäulen und der Steinmäler. Als eine Reminiszenz an heidnische Bräuche werden selbst die vor den Altären üblichen Brand- und Blutopfer abgelehnt: "Was soll die Menge eurer Opfer? Ich bin satt der Brandopfer von Widdern und des Fettes von den Gemästeten und habe keine Lust zum Blut der Farren, der Lämmer und Böcke", lässt Jesaja den Herrn reden, der statt des Opfers von den Menschen fordert, dass sie vom Bösen ablassen und dem Recht zu seiner Geltung verhelfen sollten (Jesaja 1:10-17).

Philosophen und Religionshistoriker haben in der prophetischen Kritik am Bilderkult und am Opfer den entscheidenden Schritt vom rein äußerlichen Kult zur Verinnerlichung und Ethisierung der Religion gesehen, der um den Preis eines Verzichts auf die materiellen Repräsentationen des Heiligen erfolgte. Die Kritik der Propheten stand in der Tradition der "Jahwe-allein-Bewegung", deren Anfänge bis in das frühe 8. Jahrhundert zurückreichen und deren Anhänger die Bannung aller Kulte forderten, die nicht dem einen Gott galten. Einige neuere Historiker sehen in ihr den eigentlichen Anfang des jüdischen Monotheismus. Wahrscheinlich handelte es sich bei ihren Anhängern nur um eine kleine Minderheit, doch haben sie die biblische Historiographie und die spätere Religionsgeschichte entscheidend geprägt.

S. 38)
Zu einer vollständigen Abkehr vom Bilderkult haben die Forderungen der Propheten erst geführt, nachdem die von ihnen für das Volk Israel vorausgesagten Katastrophen tatsächlich eingetroffen waren. Durch die Eroberung Jerusalems unter Nebukadnezar und die Zerstörung des ersten Tempels im Jahre 587 v. Chr. war die jüdische Religion ihres kultischen Zentrums beraubt worden. Im religiösen Umfeld des Babylonischen Exils mit seiner Vielzahl von Göttern und Götterbildern entfaltete der Glaube an den einen, unsichtbaren und gestaltlosen Gott erneut seine identitätsstiftende Wirkung. Die zum Teil an lokale Kultorte gebundene israelitische Volksreligion, gegen deren "heidnische" Symbole und Zeremonien die Propheten polemisiert hatten, konnte nicht weiter praktiziert werden. Um so bedeutender mussten die mitgeführten Zeugnisse der eigenen Religion werden, mit deren Aufzeichnung wahrscheinlich bereits knapp vierzig Jahre vor der Zerstörung Jerusalems unter König Josia begonnen worden war. Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der beiden alten Reiche – der verdienten Strafe für den Rückfall des Volkes in die Idolatrie – wurde die Verschriftlichung der mündlichen Überlieferungen weitergeführt. Seit dem 5. Jahrhundert wurden die Heiligen Schriften kanonisiert. Die Offenbarung der Tora Gottes galt als beendet. Kein Wort sollte mehr entfernt, keines hinzugefügt werden. (Deuteronomium 4:2) Der Text selbst war zu einem heiligen Korpus geworden. Aus einer Kultreligion verwandelte sich das Judentum so im Lauf der Jahrhunderte in eine reine Buchreligion. Die Zerstreuung der Juden in der Diaspora seit der hellenischen Zeit und die Zerstörung des zweiten Tempels im Jahre 70 n. Chr. setzte den lokal gebundenen Kultformen schließlich für immer ein Ende. Die Schriftgelehrten nahmen den Platz der Priester ein.

S. 39)
Die mystischen Ausdeutungen der Schriftzeichen standen im Mittelpunkt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kabbalistik. Magische Wirkungen schrieb ihr wohl auch der Volksglaube schon immer zu. Ein bekanntes Beispiel ist die bereits seit dem frühen Mittelalter belegte Sage von Golem – einem aus Lehm geschaffenen menschengestaltigen Wesen von übernatürlicher Kraft. Unterschiedlichen Formen der Legende zufolge konnte der Golem nur durch mystischen Buchstabenzauber zum Leben erweckt werden, entweder indem sein Schöpfer ihm das heilige Tetragramm JHWH auf die Stirn schrieb, oder indem er ihm einen Zettel auf die Zunge legte, die mit einer Formel aus der Heiligen Schrift beschrieben war.
Als Verkörperung des Heiligen machte das geschriebene Wort Gottes schließlich alle übrigen Kultobjekte überflüssig. Seine Lesung ersetzte selbst das Opfer. "Die kulturelle Mnemotechnik wird zur Grundlage der Religion, der Opferkult wandelt sich zum reinen Wortgottesdienst." So war es nicht zuletzt die Schrift, die als Ersatz des Bildes die Bilderlosigkeit zu einem der zentralen Charakteristika der jüdischen Religion werden ließ. An Radikalität sollte sie in der Ablehnung der bildlichen Darstellung der Schöpfung nur noch vom sunnitischen Islam übertroffen werden, der auch hinsichtlich der Verwerfung jedes "heidnischen" Götzenkultes ganz in ihrer Tradition steht.

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