May 31, 2010

Metaphysische Spitzfindigkeiten


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 4, pt 5, pt 6

Die Wiederkehr des Fetischismus im Kapitalismus: Karl Marx
S. 91 ff.)
Die eigentlichen Ursachen für die Faszination, die vom Kult materieller Objekte ausging, müssen anderswo gesucht werden. Denn offensichtlich gelangte im "Fetischismus", den man den Afrikanern und anderen außereuropäischen Völkern zuschrieb, eine Einstellung zum Ausdruck, die den Zeitgenossen im Zeitalter der beginnenden Industrialisierung entschieden vertrauter war, als sie selbst sich dies eingestehen wollten. Karl Marx hat dies erkannt. In seiner Kritik der politischen Ökonomie stellte er die These auf, dass das fetischistische Denken unter den Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise eine unerwartete Wiederkehr erfuhr.
Marx war auf den Begriff schon als junger Mann bei seiner Lektüre der seit 1785 in deutscher Übersetzung vorliegenden Abhandlung des Parlamentspräsidenten de Brosses gestoßen. In eines seiner Exzerptbücher notierte sich der damals Dreiundzwanzigjährige eine merkwürdige, bei de Brosses wiedergegebene Episode aus der frühen Entdeckungsgeschichte: Die "Wilden von Kuba" hatten einer zeitgenössischen Quelle zufolge das Gold der Spanier gesammelt und ist Meer versenkt, weil sie es für deren "Fetisch" hielten. Marx selbst verwendete den Begriff bereits ein Jahr später in seiner 1842 veröffentlichten Auseinandersetzung mit Carl Heinrich Hermes, einem Redakteur der Kölnischen Zeitung. Hermes' Auffassung, dass der "kindische Fetischismus" als "roheste Form der Religion" den Menschen bereits über die "sinnlichen Begierden" erhebe, weist Marx – hierin Hegel folgend – mit dem Argument zurück, dass der Fetischismus vielmehr selbst die "Religion der sinnlichen Begierde" sei.

In Marx' Frühschriften tauchen die Begriffe Fetisch und Fetischismus zwar hin und wieder auf, ausführlicher ist Marx auf den Fetischismus jedoch erst wieder über zwanzig Jahre später in seinem Hauptwerk zu sprechen gekommen. Als Instrument der Religionskritik interessierte er ihn damals bereits nicht mehr. Denn die Religionskritik hatte er bereits in seiner 1844 verfassten Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie und seinen Thesen zu Feuerbach im wesentlichen für abgeschlossen erklärt. Gleichwohl greift Marx in einem zentralen Kapitel des 1867 veröffentlichten ersten Bandes des Kapitals erneut auf die Sprache antireligiöser Polemik zurück, verwendet sie jetzt aber nur noch in einem übertragenen Sinn. Mit Hilfe des Begriffs des Fetischismus kritisiert er, was ihm als die zentrale Verkehrung der wirklichen Verhältnisse unter der Herrschaft des Kapitalismus erscheint. Dieses kurze Kapitel, auf das sich Marx-Exegeten immer wieder bezogen haben und das wahrscheinlich häufiger zitiert und interpretiert worden ist als jeder andere Abschnitt seines Werkes, trägt den Titel "Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis".
Was verbirgt sich hinter dieser ominös klingenden Überschrift? Worin beruht nach Marx das Geheimnis der Ware, jenes nur scheinbar "selbstverständlichen, trivialen Dings", das freilich – wie er schreibt – "ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken"? Zum Verständnis dessen, was Marx unter diesen theologischen Mucken" versteht, ist zunächst ein kleiner Exkurs in die Überlegungen notwendig, die er im Kapital zum Wesen der Ware, zu ihrem Gebrauchs- und ihrem Tauschwertaspekt angestellt hat. [...]

Gelangt der Wert einer Ware auch erst in Erscheinung, wenn sie in ein Tauschverhältnis mit anderen Waren eintritt, so ist es dennoch nicht die Zirkulation unter den Produzenten, die der Ware ihren Wert verleiht. Sofern nach Marx allein die menschliche Arbeit wertschaffend ist, existieren die Werte bereits, bevor die Waren zu zirkulieren beginnen. Was in der Zirkulationssphäre festgelegt wird, ist allein das Wertverhältnis zwischen den Waren. Es muss keineswegs notwendig dem in das einzelne Produkt investierten Quantum an Arbeit entsprechen, sondern weicht häufig davon ab. Es kann ein mehr und es kann auch ein weniger sein. Die einfachste Form dieses Verhältnisses ist, dass eine bestimmte Quantität der Ware A gegen eine bestimmte Quantität der Ware B ausgetauscht wird. Dadurch entsteht die Vorstellung, dass jede Ware von Natur aus die Fähigkeit besitzt, in sich den Wert einer jeden anderen Ware auszudrücken. Schon die einfache Äquivalentform neigt also dazu, den Ursprung des Wertes der Ware in der menschlichen Arbeit vergessen zu machen. Der Wert wird zu einer natürlichen Eigenschaft der Dinge.
Diese Tendenz verstärkt sich, je weiter die Warenproduktion fortschreitet und je komplizierter die gesellschaftlichen Verhältnisse werden.
Ist das historische Stadium erst einmal erreicht, in dem die Waren nicht mehr gegen Waren, sondern gegen das Geld als ein allgemeines Äquivalent getauscht werden, entsteht ein Zustand, in dem

"die vermittelnde Bewegung in ihrem eigenen Resultat [verschwindet] und keine Spur [zurücklässt]. Ohne ihr Zutun finden die Waren ihre eigene Wertgestalt fertig vor als einen außer und neben ihnen existierenden Warenkörper. Diese Dinge, Gold und Silber, wie sie aus den Eingeweiden der Erde herauskommen, sind zugleich die unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes."

In der kapitalistischen Gesellschaft erreicht diese Entwicklung ihren Höhepunkt. Die menschliche Arbeitskraft als Ursprung des Wertes einer Ware gerät schließlich vollends in Vergessenheit. Es entsteht der falsche Eindruck, dass das Kapital selbst wertschaffend sei. An dieser Stelle seiner Argumentation führt Marx den Begriff des Fetischismus ein:

"Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesell. Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesell. Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesell. Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen stehendes gesell. Verhältnis zu Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesell. Dinge. [...] Es ist nur das bestimmte gesell. Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregion der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist."

Das Eigenleben, das den Waren im Kapitalismus zugeschrieben wird, die fetischistische Illusion, dass von Menschen geschaffene Dinge selbst Wert schaffen könnten, stellt nach Marx also nur eine Verkehrung der wahren Verhältnisse dar. Der Warenfetischismus verdrängt das wirkliche Wesen des Wertes als geronnene menschliche Arbeit. [...]
Obgleich dem Geld in Gesellschaften mit einfacher Warenproduktion bereits besondere Bedeutung zugemessen wird, sind die Verhältnisse noch einigermaßen transparent. In Gesellschaften mit entwickelter kapitalistischer Warenproduktion gestalten sich die Dinge dagegen wesentlich komplizierter. (S. 96 f.) [...]

S. 98)
Nicht von ungefähr knüpft er auch mit seinen sprachlichen Wendungen an die religiöse Polemik der Propheten an. Der Kampf gegen das Kapital ist zugleich ein Kampf gegen dessen Selbstvergötterung, wie sie im Warenfetischismus zum Ausdruck gelangt.
Bei aller Differenziertheit und Schärfe seiner Analyse verkennt Marx den Zirkelschluss, in den er sich begibt, wenn er mit Hilfe eines Begriffs, der zu seiner Zeit zur Beschreibung fremder Gesellschaften gebraucht worden war, die Entfremdungsformen der eigenen Gesellschaft diagnostiziert. Wenn es nämlich richtig ist, dass die Verdinglichung aller Beziehungen ein Charakteristikum der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaftsformation ist, dann müsste der Schluss doch nahe liegen, dass auch das, was wir als den Fetischismus der "Anderen" wahrnehmen, im Prinzip nichts anderes als eine Projektion "unseres" eigenen Fetischismus ist. Marx hat mit seiner Analyse des "Fetischcharakters der Ware" einen Schlüssel zum Verständnis der erstaunlichen Konjunktur geliefert, die der Fetischismusbegriff in seiner Epoche erlebte. Sein eigener Text ist freilich Erklärung und Symptom dessen, was er zu erklären versucht, in einem.

Der Fetischbegriff in der Ethnologie und der Psychologie

In derselben Dekade, in der Karl Marx sein theoretisches Hauptwerk veröffentlichte, erfuhr in Europa auch die Ethnologie ihren ersten großen Aufschwung. Der Wissenschaftsgeschichte gilt diese für das Fach ungemein fruchtbare Phase als das "anthropologische Jahrzehnt". Zwischen 1859 und 1871 erschienen Theodor Waitz' Anthropologie der Naturvölker, Johann Jacob Bachofens Das Mutterrecht, Henry Maines Ancient Law, John F. McLennans The Worship of Plants and Animals, John Lubbocks The Origin of Civilisatin and the Primitive Condition of Man, Charles Darwins The Descent of Man, Lewis Henry Morgans Systems of Consanguinity and Affinity of the Human Family und Edward Burnett Tylors Primitive Culture.
Alle diese Werke waren einem neuen Paradigma verpflichtet, dem sogenannten Evolutionismus, der in Anknüpfung an die Fortschrittsidee der Aufklärung die Gesetzmäßigkeiten aufzuzeigen suchte, die der fortschreitenden Entwicklung der menschlichen Kultur von einfacheren zu immer komplexeren Formen zugrunde lag. Solche aufeinander folgende Entwicklungsstufen glaubte man in praktisch allen Bereichen der Gesellschaft nachweisen zu können. In der Wirtschaft und in der Technik, im Recht, in den sozialen und politischen Organisationsformen und in der Religion. Umstandslos wurden dabei von den Evolutionisten bestimmte außereuropäische Gesellschaften, die scheinbar auf früheren Entwicklungsstufen stehen geblieben waren, mit den Gesellschaften der Vorgeschichte gleichgesetzt. Sie galten als "Primitive", von denen man glaubte, dass sich an ihnen die Frühformen menschlicher Kultur gewissermaßen noch in situ studieren ließen. [...]
Die Evolutionisten beließen es bei der Zusammenstellung weiterer Fallbeispiele, zu einer Neubestimmung oder gar Kritik des Begriffs trugen sie aber nichts bei. Dies überrascht zwar angesichts der zahlreichen neuen ethnographischen Daten, die zu Beginn der Ära des Imperialismus aus Afrika, Asien und Amerika in die Metropolen der Kolonialreiche gelangten, doch noch waren die meisten Ethnologen Schreibtischgelehrte, von denen nur wenige Europa je verlassen hatten. Wie schon die Philosophen stellten sie sich ihre Informationen aus den Büchern von Missionaren und Kolonialresidenten zusammen. [...]

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien diese Kritik bereits so weit fortgeschritten, dass Marcel Mauss in einer 1912 veröffentlichten kleinen Abhandlung fordern konnte, den Begriff "Fetisch" ein und für allemal aus der Sprache der Wissenschaft zu verbannen:

"Wenn man einmal die Geschichte der Religionswissenschaft und der Ethnologie schreiben wird, wird man erstaunt sein über die ungebührliche und zufällige Rolle, die ein Begriff wie der des Fetischs in den theoretischen und deskriptiven Arbeiten gespielt hat. Sie entspricht nur einem ungeheuren Missverständnis zwischen zwei Zivilisationen, der afrikanischen und der europäischen. Sie gründet auf nichts anderem als auf einem blinden Gehorsam gegenüber den kolonialen Gepflogenheiten, den fränkischen Sprachen der Europäer der Westküste."

[...] Bemerkenswert bleibt, dass die Aufnahme des Begriffs des Fetischismus in das Vokabular der klinischen Psychologie durch eine ähnliche Konstellation gekennzeichnet ist wie sein Aufkommen in der Philosophie und in der Kritik der politischen Ökonomie. Ob eine Extremform des vernunftwidrigen religiösen Aberglaubens, ob ein Rückfall in eine längst überwundene Geisteshaltung, ob eine Erscheinungsform der Entfremdung im Kapitalismus oder ob ein Symptom des nationalen Sittenverfalls: in jedem Fall scheint die Verwendung des Begriffs von vornherein mit bestimmten gesellschaftskritischen Intentionen verknüpft gewesen zu sein.

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