Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge
Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 4, pt 5, pt 6, pt 7
Der Religionswissenschaftler Friedrich Pfister hat in einem bereits 1930 veröffentlichten Artikel zwei Formen des Reliquienkultes unterschieden, die er als "animistisch" und "orendistisch" bezeichnete. Die von Pfister verwendete Terminologie orientierte sich am wissenschaftlichen Diskussionsstand seiner Zeit und mag daher heute etwas antiquiert wirken, doch trifft die mit ihrer Hilfe vorgenommene Unterscheidung die beiden mit der Reliquienverehrung verbundenen Vorstellungskomplexe recht gut. Der "animistische" Reliquienkult ist nach Pfister immer nur mittelbar. Ihm liegt die Vorstellung zugrunde, dass der Heilige in seinen sterblichen Überresten weiterhin präsent ist. Er beseelt sie gewissermaßen, ohne dass dabei seine Person ganz in ihnen aufgeht. Der Gläubige ist daher der Auffassung, dass der Heilige zum Handeln veranlasst werden kann, wenn er sich an ihn über seine Reliquie mit einer "Fürbitte" wendet. Der "orendistische" Reliquienkult ist dagegen unmittelbar. Er gilt nicht dem Heiligen, sondern den Reliquien selbst.
Er basiert auf der Vorstellung, dass im Heiligen zu dessen Lebzeiten eine mystische Kraft wirksam war, die seine irdischen Überreste auch noch nach seinem Tod erfüllt. In dieser Vorstellungsvariante dient die Reliquie nicht mehr der Vermittlung zwischen dem Gläubigen, der Person des Heiligen und Gott. Vielmehr geht in diesem Fall vom sakralen Objekt selbst die heiligende Wirkung aus. Mittels der ihr innewohnenden Kraft kann die Reliquie Wunder verrichten. Die irdischen Überreste von Heiligen besitzen oder sie auch nur zu berühren, ermöglicht dem Gläubigen überdies, an ihrer Kraft teilzuhaben.
In einem anderen Artikel führt Pfister als besonders illustratives Beispiel für diese Form des Reliquienkults die Verwendung von Heiligenschädeln als Trinkgefäße an, wie sie seit dem 6. Jahrhundert bezeugt ist. Dieser Brauch folgte der Vorstellung, dass die Kraft des Heiligen von seinem Schädel auf das Wasser und vom Wasser wiederum auf den Gläubigen übergeht. Dem Schädel ist im Volksglauben schon immer eine besondere Kraftfülle zugeschrieben worden. Die Beispiele für Schädelkulte aus den vorchristlichen Kulturen des Mittelmeerraumes und aus nicht-christlichen Kulturen sind zahlreich. Auch im christlichen Reliquienkult finden sich neben den Schädelbechern weitere Varianten des Schädelkults. Als besonders wirkmächtig galten die Köpfe Johannes des Täufers, des heiligen Jakobus, des heiligen Dionysius und anderer Märtyrer, die der Legende zufolge enthauptet worden waren. Meist wurden sie zu Heilzwecken gebraucht, wie zum Beispiel die in Würzburg aufbewahrte Schädeldecke des heiligen Makarius. Hatte jemand ein Kopfleiden oder auch nur gewöhnliche Kopfschmerzen, dann wurde er dadurch erlöst, dass er sich die Schädeldecke des Heiligen auf den Kopf legte.
("Doch der Reliquienkult mit seinem Wunderglauben blieb immer Teil der Volksreligiosität, obwohl er kritischen Theologen seit Mitte des 19. Jh.s zunehmend peinlich wurde. Moderne Theologen wollen eine Religion, die sich verbinden lässt mit der Aufklärung und ihrer Entzauberung der Welt. [...] Da wird der Kopf aus dem Schrein genommen und jeder kann sich den Kopf aufsetzen lassen, den Original-Schädel, der wird einem auf den Kopf gesetzt und dabei wird einem vom Priester versprochen, dass das also gut ist gegen Kopfweh und andere Geisteskrankheiten, und ich habe noch nie gehört, dass jemand, der mit dem Kopf in Berührung gekommen war, dass der später krank geworden sei. Dementsprechend habe ich mir auch den Kopf letztes Jahr aufsetzen lassen. Es war eine tolle Sache, die mich sehr bewegt hat. [...] Da auch durch Zerlegung der Knochen der Reliquienbedarf nicht zu decken war, kamen gewiefte Theologen auf eine Idee: Die Reliquienmultiplikation. Das ging so: Bleiben wir beim Kreuz und in Hildesheim: Hier gibt es heiliges Öl vom Kreuz: Olivenöl wird zur Reliquie, wenn es mit dem echten Kreuzesholz in Berührung gekommen ist. Ein Stück Baumwollstoff wird zur Reliquie, wenn man es eine Weile über den Schädel des Heiligen Dionysius legt. Öl und Stoff haben dann die gleiche "virtus" – also die gleiche Macht – wie das Original." Rolf Cantzen)
Es handelt sich bei diesen und zahlreichen anderen Bräuchen des Volksglaubens um klassische Fälle einer Kombination von kontagiöser Kraftübertragung und sympathetischer Magie. Die mystische Kraft des Heiligen west in dessen Überresten fort. Durch Berührung wird sie auf den Kranken übertragen. Und nach dem Prinzip, dass nur Gleiches Gleiches heilen kann, dienen die einzelnen Körperteile des Heiligen dazu, die Leiden der entsprechenden Körperorgane zu lindern. Ähnliche Vorstellungskomplexe fanden sich nahezu überall, wo Reliquien zur Heilung von Krankheiten verwendet wurden. Dabei spielte oft auch die Legende des entsprechenden Heiligen eine Rolle. An die Reliquien des heiligen Rochus, der der Legende zufolge an der Pest erkrankt war, wandte man sich, wenn Seuchen drohten. Die Reliquien des heiligen Blasius, der zu seinen Lebzeiten ein Kind, das eine Gräte verschluckt hatte, vor dem Erstickungstod bewahrt haben sollte, wurden bei Hals- und Erkältungskrankheiten angerufen. Reliquien von Märtyrerinnen, die als Jungfrauen gestorben waren, wurden von schwangeren Frauen in ihren Gürtel gelegt, um auf diese Weise das ungeborene Kind zu schützen. In der Hoffnung, durch die bloße Berührung mit den sterblichen Überresten von Heiligen von ihren Gebrechen geheilt zu werden, unternahmen Kranke mühevolle Pilgerfahrten zu den Wallfahrtsorten, deren Heiligenreliquien als besonders wundertätig galten. Und wer immer sich dies leisten konnte, versuchte, sich kleinere Reliquien zu verschaffen, die er in ein Amulett fassen ließ und als Schutzmittel ständig bei sich trug.
Doch nicht nur einzelne Gläubige erwarteten sich von den Reliquien die Abwendung von Gefahren, auch Dörfer und Städte stellten sich unter ihren Schutz. Weit verbreitet war der Glaube, dass sie der Abwehr von Epidemien, Missernten, Viehseuchen und von anderen Naturkatastrophen dienten, die Gemeinde vor feindlichen Überfällen und selbst vor der Ausbeutung durch den eigenen Feudalherrn schützten. Von bestimmten Reliquien nahm man sogar an, dass von ihnen die Wohlfahrt ganzer Königreiche abhinge.
Als Königin Mathilde, die Ehefrau Heinrich V., nach dessen Tod in ihr Geburtsland England zurückkehrte, führte sie auch die Hand des Heiligen Jakobus mit sich. Ein zeitgenössischer Chronist beklagte den "unersetzlichen Schaden", der dem Reich der Franken durch diesen Verlust widerfahren sei. Die Versuche Friedrich Barbarossas, die Rückgabe der Reliquie zu erlangen, schlugen allerdings fehl. Sie blieb in England, wo sie als eine Art Nationalheiligtum verehrt wurde. Im Deutschen Reich nahm die Heilige Lanze des Longinus, die Heinrich I. für seine Reliquiensammlung hatte erwerben können, eine ähnliche Sonderstellung ein. Wie die alten Israeliten die Bundeslade, trugen die kaiserlichen Heere Ottos I. auf ihren Feldzügen das Leidenswerkzeug Christi als Banner voran.
Die schützende Wirkung von Reliquien wurde als um so wichtiger erachtet, je unsicherer die politischen Zustände waren. In Zeiten schwacher Zentralregierungen scheint die Reliquienverehrung geradezu sprunghaft zugenommen zu haben. Und sie verlor an Bedeutung, wenn die politischen Verhältnisse über längere Zeit stabil blieben und man auf einen starken Herrscher rechnen konnte.
Ähnlich wie die Fetissos an der westafrikanischen Küste dienten die sterblichen Überreste der Heiligen auch als Zeugen bei Vertragsabschlüssen. Man legte auf die Reliquien einen Eid ab und glaubte, dass sie über die Einhaltung der Abmachungen wachen würden. In dem Ausdruck, etwas "auf Stein und Bein" zu beschwören, hat sich die deutsche Sprache die Erinnerung an diesen Brauch bis heute bewahrt.
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Ein weit besserer und auch sicherer Weg, in den Besitz einer Heiligenreliquie zu gelangen, war die Schenkung. Die Echtheit wurde in einem solchen Fall zwar durch die eindeutige Herkunft der Reliquie verbürgt, doch war die Schenkung dafür mit einem anderen Nachteil verknüpft. Nach Marcel Mauss' klassischer Theorie schafft die Annahme einer Gabe immer auch die Pflicht zur Erwiderung. Je größer der Wert des Geschenkes ist, desto größer sind auch die Obligationen, die der Empfänger der Gabe eingeht. In diesem Sinne wurde die Schenkung von Reliquien im Mittelalter oft systematisch dazu eingesetzt, Abhängigkeiten und Verpflichtungen zu schaffen. Die meisten und bedeutendsten Märtyrer waren bekanntlich in Rom gestorben. Doch konnte man ihre irdischen Überreste im Handel kaum mehr erwerben, nachdem die Päpste ihre Ausfuhr mit einem Verbot belegt hatten. Allerdings stand es ihnen selbst frei, sie an Könige und Mitglieder des Hochadels zu verschenken. Der Heilige Stuhl nutzte daher den Reichtum der Katakomben und Friedhöfe Roms – wahre "Steinbrüche, aus denen Überreste von Heiligen in großer Zahl zutage gefördert wurden" – um sich die Beschenkten zu verpflichten und seinen politischen Einflussbereich zu erweitern. Die Könige taten es den Päpsten bald nach. Sie sicherten sich die Loyalität der großen Fürsten ihres Reiches, indem sie diese mit Reliquien aus ihren eigenen Sammlungen beschenkten. Auch förderten sie den Kult von Lokalheiligen und deren Reliquien, um das römische Monopol zu brechen. Dass die Päpste seit Ende des 10. Jahrhunderts das Recht der Heiligsprechung für sich beanspruchten, war daher sicher auch eine Reaktion auf die Politik, die ihre königlichen und fürstlichen Widersacher mit dem Reliquienkult trieben.
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Neben Gabentausch, Diebstahl und Raub gab es noch einen weiteren Weg, in den Besitz von echten Reliquien zu gelangen. Aus heutiger Sicht mutet er eher grauenhaft an, bestand er doch schlicht aus Leichenfledderei. Der bekannteste Fall ereignete sich nach dem Tod von Elisabeth von Thüringen, die wegen ihrer vielen guten Tagen schon zu ihren Lebzeiten als Heilige verehrt worden war. Als sie am 17. November 1231 starb und in der Hospitalkirche zu Marburg aufgebahrt wurde, sollen zeitgenössischen Berichten zufolge die Gläubigen über ihren Leichnam regelrecht hergefallen sein, ihre Haare, ihre Ohren, ihre Finger, und ihre Brustwarzen abgeschnitten haben. Selbst das Totenhemd ließ man ihr nicht. Fünf Jahre später erfolgte unter Anwesenheit Kaiser Friedrichs II. die feierliche Graberhebung, bei der ihr Haupt vom Leib getrennt und in ein kostbares Reliquiar gelegt wurde. Die Knochen der heiligen Elisabeth, ihre Kleidungsstücke und Gebrauchsgegenstände waren bereits nach wenigen Dezennien in zahlreichen Kirchen und fürstlichen Sammlungen zu finden.
Thomas von Aquin wiederfuhr ein ähnliches Schicksal. Aus Angst davor, von den kostbaren Überresten eines Mannes, der ebenfalls bereits zu seinen Lebzeiten im Geruch eines Heiligen gestanden hatte, auch nur einen Teil zu verlieren, haben die Mönche von Fossanova den Leichnam des großen Gelehrten regelrecht eingemacht, nachdem er 1274 in ihrem Kloster verschieden war. Sie trennten den Kopf vom Leib, lösten die Knochen heraus und präparierten das Fleisch ...
Weit schlimmer noch als die heilige Elisabeth oder Thomas von Aquin aber traf es den Eremiten Romuald (952-1027). Nach der Gründung eines eigenen Ordens hatte er sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und lebte in den umbrischen Bergen in der Nähe eines Dorfes. Als bekannt wurde, dass er die Absicht hatte, die Gegend zu verlassen, fürchteten die Bewohner, nicht nur den Heiligen sondern auch dessen wertvolle sterbliche Überreste zu verlieren. Sie taten sich zusammen und beschlossen, ihn gemeinsam zu ermorden.
Der Heiligen- und Reliquienkult des Mittelalters kann ähnlich wie die Verstöße gegen das Bilderverbot in der Frühgeschichte der jüdischen Religion als ein volkstümlicher Protest gegen einen abstrakten und allzu fernen Gottesbegriff gedeutet werden. In sinnfälliger Weise gelangt in ihm nicht nur die Sehnsucht nach einer Verkörperung des Heiligen zum Ausdruck, sondern auch das Unbehagen an jenem Gefühl persönlicher Ohnmacht und Nichtigkeit, das eine Theologie erzeugen musste, die Gott in den Rang eines allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Wesens erhob. Die in ihren Reliquien präsent gedachten Heiligen stellten dagegen ein persönliches Gegenüber dar. Man konnte sich ihnen gläubig unterwerfen und man konnte mit ihnen rechten, man konnte sich ihrer bemächtigen und man konnte sie sogar bestrafen, wenn sie den eigenen Erwartungen nicht entsprachen.
Reliquienkulte waren populär. Sie wurden nicht nur im einfachen Volk geschätzt, sondern fanden auch unter den Adligen, den hohen Klerikern und den Königen ihre Anhänger. [...] Im ausgehenden Mittelalter und in der Renaissance sollte er noch extremere Ausmaße annehmen. Die Verehrung von Reliquien wurde zur Manie, ihr Sammeln aber zu einer regelrechten Obsession.
Große Reliquiensammlungen hatte es auch schon im Hochmittelalter gegeben. Sie galten als Ausdruck der Frömmigkeit. Der persönliche Besitz von Reliquien gab emotionale Sicherheit. Er schützte vor irdischen Gefahren, er war eine Garantie für das künftige Seelenheil und bewahrte vor den Strafen der Hölle. Das Bedürfnis, sich mit einem ganzen Schutzwall sakraler Objekte zu umgeben, musste aber in einer Zeit noch zunehmen, in der die Menschen von verheerenden Pestepidemien heimgesucht wurden, die durch politische Unsicherheiten geprägt war, in der die Kirche eine schwere Krise durchlebte und in der sich die großen sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Umwälzungen der kommenden Epoche bereits ankündigten. Die Wiederentdeckung der antiken Religion mit ihrer Vielzahl von materiellen Verkörperungen des Numinosen trug ihren Teil dazu bei, dass in der Frührenaissance das Sammeln von Heiligenreliquien zu einer Leidenschaft wurde, der sich zahlreiche Fürsten, Kaufleute und Gelehrte hingaben.
In Deutschland war es Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen und Beschützer Martin Luthers, der wahrscheinlich die umfänglichste private Reliquiensammlung aller Zeiten zusammengetragen hatte. Eine Inventarliste aus dem Jahr 1520 zählt nicht weniger als 18.970 Einzelstücke auf. Zu ihr gehörte ebenfalls der Leichnam eines der Opfer des bethlehemitischen Kindermords. [...] Neue Wallfahrtsorte entstanden über Nacht, wenn das Gerücht von einer besonders wunderkräftigen Reliquie in Umlauf kam. Tausende von Pilgern machten sich auf den Weg. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts waren Wallfahrten zu einem Massenphänomen geworden. Die Teilnehmer versprachen sich von der Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten und der Berührung der Reliquien Ablass von ihren Sünden, tatsächlich aber waren sie Orte enormer religiöser Erregung. Die Gläubigen agierten vor den Heiligenstatuen wie Besessene, drehten sich in Verzückungen oder fielen mit Schaum vor dem Mund auf den Boden. Es ist für diesen Zeitraum von einer regelrechten Wallfahrtshysterie gesprochen worden.
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