May 31, 2010

Erstes geistiges Regime der Menschheit


Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge

Geschichte und Theorie sakraler Objekte pt 1, pt 2, pt 3, pt 4, pt 5, pt 7

Le Grand-Fétiche: Auguste Comte
S. 86 ff.)
In seinem 1842 abgeschlossenen sechsbändigen Hauptwerk, dem Cours de philosophie positive, knüpft Comte an die von de Brosses entwickelten Überlegungen an und ordnet den Fetischismus in ein allgemeines Fortschrittsmodell des menschlichen Denkens ein. Den Ausgangspunkt bildet dabei der Positivismus als die von ihm verkündete höchste Form der Philosophie überhaupt. Er beruht auf der Grundidee, dass der Mensch weder das Wesen noch den Ursprung noch gar den Zweck der ihn umgebenden Phänomene erkennen könne. Sinnvoll beschäftigen könne man sich allein mit den Beziehungen zwischen den Phänomenen. Seien diese nicht zufälliger Natur, sondern dauerhaft und konstant, so ließen sie hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit die Bildung von Begriffen, hinsichtlich ihrer Abfolge aber die Bildung von Gesetzen zu. Erst das Wissen um die gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den Phänomenen macht nach Comte Prognosen möglich – das vorrangige Erkenntnisziel des Positivismus. Was zunächst auf dem Gebiet der "abstrakten" und "konkreten" Wissenschaften, der Arithmetik und der Geometrie, der Mechanik, der Chemie und der Biologie gelungen sei, nämlich die Gesetze aufzudecken, die den elementaren und den komplexeren Naturtatsachen zugrunde liegen, werde schließlich auch die Soziologie erreichen, obgleich sie mit den komplexesten Phänomenen überhaupt zu tun hätte: den Beziehungen zwischen den Menschen. Als Schöpfer dieser neuen Wissenschaft, der er den Namen gab und als deren Gegenstand er nicht nur einzelne Gesellschaften, sondern die gesamte Geschichte der Menschheit ansah, verstand Comte sich selbst.
Die Bescheidung der Philosophie auf die Anerkennung der Erscheinungen als Tatsachen ist nach Comte Resultat eines langen Lernprozesses, den die Menschheit als ganze durchlaufen hat. Der Positivismus steht am Ende eines Weges, der voll war von Fehlmeinungen und Irrtümern.

Comte ordnet die verschiedenen Etappen dieses Weges einem Dreistadienmodell zu:

"Jeder Zweig unserer Erkenntnisse durchläuft der Reihe nach drei verschiedene Zustände, nämlich den theologischen oder fiktiven Zustand, den metaphysischen oder abstrakten Zustand und den wissenschaftlichen oder positiven Zustand."

Innerhalb dieser drei Stadien unterscheidet Comte wiederum verschiedene Zwischenstufen. So beginnt für ihn das "theologische Zeitalter", in dem die Menschen die Unveränderlichkeit der Gesetze noch nicht entdeckt hatten und die Welt von belebten Wesen beherrscht glaubten, mit dem Fetischismus, auf den der Polytheismus und schließlich der Monotheismus folgt. Im "metaphysischen Zeitalter" verwandeln sich die Götter in abstrakte "Kräfte", "Gewalten" und "Eigenschaften". Doch erst im "positiven Zeitalter" werden die der Natur zugeschriebenen Eigenschaften und Handlungen in ihrer Scheinhaftigkeit erkannt. Erst in diesem Stadium der Gattungsgeschichte gelangen die Menschen zur Einsicht in die Gesetzmäßigkeiten, die den Beziehungen zwischen den Phänomenen zugrunde liegen.
De Brosses folgend, hält also auch Comte den Fetischismus für das früheste Stadium der Entwicklung des menschlichen Geistes, dem er in seiner Abhandlung fast achtzig Seiten widmet. Im Rahmen seines Dreistadienmodells stellt der Fetischismus die unterste Stufe des "theologischen Zeitalters" dar. Für Comte ist er das "erste geistige Regime der Menschheit" überhaupt. Charakteristisch sei für diese Phase "die Entwicklung unserer ursprünglichen Tendenz, alle natürlichen oder künstlichen Körper der Außenwelt als von einem Leben beseelt aufzufassen, das, die bloßen wechselseitigen Unterschiede des Intensitätsgrades abgerechnet, dem unseren wesentlich analog ist." Bemerkenswert ist, dass Comte hier ausdrücklich von "unserer ursprünglichen Tendenz" redet. Nicht nur der frühe Mensch neigte seiner Meinung nach dazu, seine Umwelt zu beseelen. Vielmehr handelte es sich um ein universelles Phänomen. Falle es uns auch in der Regel schwer, den Fetischglauben zu verstehen – so schreibt er in einem anderen Zusammenhang – so müsse ein jeder in seiner eigenen Biographie nur weit genug zurückgehen, um zu entdecken, dass auch wir manchmal ganz ähnlich dächten. Comte demonstriert an einem, im Zeitalter der Computertechnik wieder überraschend aktuell anmutenden Beispiel, was er mit diesem Hinweis meint:

"Diejenigen z.B., die am geringschätzigsten über die Naivität des Wilden gelächelt haben werden, der die Uhr, deren Spiel er betrachtet, unwillkürlich beseelt, könnten ihrerseits sich selbst mehr als einmal in einer kaum überlegenen Geistesverfassung überraschen, wenn sie, mit der Uhrmacherei völlig unbekannt, die unvermuteten und oft unerklärlichen Zufälle betrachten, die irgend einer unbemerkten Störung dieses sinnreichen Apparats zuzuschreiben sind. Es wäre uns ohne Zweifel sehr schwer, alsdann die natürliche Neigung hinlänglich im Zaum zu halten, die uns verleitet, diese Veränderungen als ebenso viele Anzeichen von Affekten oder Launen eines chimärischen Wesens anzusehen, wenn uns nicht die endlich überwiegende Macht einer früheren, bereits sehr ausgedehnten Analogie jetzt dazu führte, unsere intellektuelle Erregung durch die unmittelbare allgemeine Annahme einer gewissen, mechanischen Beschädigung zu mäßigen."

Selbst der Klügste sei nicht dagegen gefeit, in einem Zustand extremer Erregung dem nächstbesten Gegenstand Leben und einen eigenen Willen zuzuschreiben. Die fetischistische Grundhaltung äußert sich seiner Auffassung nach nicht nur in solchen, aus einer augenblicklichen Gefühlslage hervorgegangenen spontanen Fehlschlüsseln, sondern grundsätzlich in jeder Form eines Analogiedenkens, das in natürlichen Erscheinungen menschliche Eigenschaften wahrnehmen zu können glaubt. Die Sprache sei voll von sinnbildlichen Ausdrücken, die Personifizierungen von toten Objekten darstellten. Comte geht sogar noch einen Schritt weiter. Auch die Analogielehren der zeitgenössischen Philosophie, die auf reinen Spekulationen beruhten, sieht er vom selben fetischistischen Denken geprägt. Dies gelte insbesondere für den "dunklen Pantheismus" gewisser deutscher Metaphysiker. Er sei im Prinzip "nichts anderes als der Fetischismus, verallgemeinert und systematisiert, eingehüllt in einen gelehrten Apparat, geeignet, das gemeine Volk irrezuführen."

Bei der Beantwortung der Frage, weshalb die "natürliche Theologie" des Fetischismus die Menschheit so lange beherrschen konnte, bleibt Comte dann jedoch eher konventionell. Wie de Brosses und Hegel macht auch er hierfür einen Zustand verantwortlich, in dem die Affekte und Leidenschaften noch über die Vernunft herrschten. In diesem Stadium der Gattungsgeschichte seien die theologischen Ideen noch ganz an die spontanen Emotionen und Empfindungen gebunden gewesen. Dem frühen Menschen war "die Welt voll von Körpern [...], deren ein jeder Gegenstand eines bestimmten Aberglaubens war." Anders als de Brosses oder Hegel bleibt Comte jedoch weit davon entfernt, in diesem Zustand nur einen der vielen Irrwege des menschlichen Geistes sehen zu wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Für ihn ist die "vollkommene Harmonie", in der sich damals dem Beschauer die "äußere Welt" darbot, der "intensivste theologische Zustand" überhaupt. Der Fetischismus lieferte den Menschen eine vorläufige Synthese, die, so illusorisch sie auch gewesen sein mochte, ihr Selbstvertrauen stärkte und der Suche nach invarianten logischen Gesetzen den Weg bahnte. Gattungsgeschichtlich habe er dazu beigetragen, den "Menschen aus seinem tierischen Stumpfsinn herauszureißen". Die Anbetung der Dinge seiner Umwelt habe den frühen Menschen fest and die heimatliche Erde gebunden, seine Sesshaftwerdung befördert und die Bildung von Eigentumsvorstellungen vorangetrieben. In Vorwegnahme bestimmter Doktrinen des modernen Ökologismus – einer Bewegung, deren Aufkommen Comte bereits vorausgesagt hatte – sieht er in der kultischen Verehrung der Tiere und Pflanzen ein Mittel des frühen Naturschutzes. In einer Zeit, in der die Menschen sich noch in einem Krieg aller gegen alle befanden, habe die Heilighaltung der Schöpfung die Natur vor der menschlichen Zerstörungswut bewahrt. Auch im Polytheismus habe man die Tiere und Pflanzen noch unter den Schutz der Gottheiten gestellt. Erst unter der Herrschaft des Monotheismus, der letzten Stufe des theologischen Zeitalters, hätten die Menschen begonnen, ihre Pflichten gegenüber der Natur zu vernachlässigen, sie auszubeuten und sich rücksichtslos zu unterwerfen.

Der Fetischismus musste dem Polytheismus dennoch weichen, da er als "Zivilisationsmittel" wenig taugte. Zum einen verhinderte ein Zustand, in dem "alle Ideen notwendig besondere und konkrete sind", die Entwicklung abstrakten Denkens. Zum anderen erwies der Fetischismus sich als Hemmschuh bei der Herausbildung eines Priesterstands, sei er doch "im wesentlichen persönlicher und direkter Kult, dessen unmittelbarer Diener jeder Gläubige sein kann, ohne irgendeine Vermittlung gegenüber seinen besonderen Gottheiten zu brauchen, die ihrer Natur nach fortwährend zugänglich sind.“ Dies änderte sich mit dem Polytheismus. Erst der Glaube an unsichtbare und allgemeine Götter, die nicht mehr in einzelnen Gegenständen materiell präsent waren, habe eine eigene Klasse von religiösen Spezialisten entstehen lassen, die zwischen den Gläubigen und ihren Gottheiten vermittelten. Priester, die ihre Muße zum Nachdenken über die Zusammenhänge der Natur nutzten, erste technische Errungenschaften hervorbrachten, zur sozialen Kohäsion beitrugen und den Fortschritt vorantrieben.

Insgesamt aber geraten Comtes Ausführungen zu einer überraschenden Apologie des Fetischismus. Weit davon entfernt, ihn zur Denkform der "Primitiven" zu erklären, weist er nach, dass es sich bei der spontanen Beseelung von Gegenständen um eine universelle Neigung handelt, die tendenziell jedem Menschen zu eigen ist. Der Fetischismus beruht zwar auf einer Illusion, doch bildet er "den wahren, uranfänglichen Kern des theologischen Geistes, in seiner reinsten elementaren Einfalt und dennoch in seiner ganzen intellektuellen Vollkommenheit betrachtet." Im Fetischismus der Frühzeit sieht Comte ein in sich stimmiges System, das die Kohärenz bereits vorwegnimmt, die sich, wenngleich auch auf einer weit höheren Ebene, erst im Endstadium des Positivismus wieder einstellen wird. Mit seinem Spätwerk dem Système de politique positive aus den Jahren 1851 bis 1854, hat Comte den Positivismus selbst in den Rang einer neuen Religion zu heben versucht. In ihm erweist er dem Fetischismus denn auch ein weiteres Mal besondere Reverenz. Es sind drei große transzendente Entitäten, die er anstelle der christlichen Trinität in das Zentrum dieser neuen, menschheitsumfassenden Glaubenslehre rückt: das Grand-Être, das die gesamte Menschheit umfasst, das Grand-Milieu als Repräsentation des Weltraums, und der Grand-Fétiche, der symbolisch für die Erde steht, von der die Menschen leben.

Obgleich sich Comte bei der Konzipierung seines Hauptwerkes vom Katholizismus seiner Jugend bereits weit entfernt hatte, enthalten seine Ausführungen über den Fetischismus eine implizite Auseinandersetzung mit den Lehren des Protestantismus. Einerseits lobt er den tiefen Respekt des Fetischismus vor der Natur, dem Buch Gottes, als das sie selbst noch die Kirchenväter angesehen hatten. Dass es ihm dabei auch um eine Verteidigung katholischer Traditionen geht, zeigt eine kurze Bemerkung, die in diesem Zusammenhang fällt, und in der er den Vorwurf des Bilderkultes zurückweist, der gegen den Katholizismus von Seiten der Protestanten erhoben worden war. Andererseits betrachtet Comte es als entscheidenden Mangel des Stadiums des Fetischismus, dass er so lange Zeit das Aufkommen des Priesterstands verhindert habe. Da der Fetischdiener sich einbildete, über einen unmittelbaren Zugang zu den transzendenten Mächten zu verfügen, habe es erst im Stadium des Polytheismus zur Entstehung jener Klasse spekulativer Denker kommen können, die im weiteren Verlauf der Geschichte so viel zum Fortschritt der Menschheit beitragen sollte. Auch dieses Argument hat offensichtlich einen theologischen Hintergrund. In den Kontroversen zwischen den Reformatoren und der Amtskirche hatte die Auseinandersetzung über die Position der Priesterschaft eine zentrale Rolle gespielt. Für die römische Kirche waren die Priester Mittler zwischen Mensch und Gott. Die protestantischen Kirchen hatten dagegen die Auffassung vertreten, dass der einzelne Christ nur durch die Gnade Gottes, nicht aber durch den Priester den Weg zur Erlösung finden könne. Die Geistlichen waren lediglich Vorsteher ihrer Gemeinden, die sie zu sittsamem Handeln anleiten sollten. Der Vermittlung durch den Priesterstand bedurfte es nach dieser Lehre nicht. Schließt Comte sich auch nicht den theologischen Argumentationen der Gegenseite an, so bleibt seine Stellung zur Priesterschaft doch eindeutig affirmativ. Für ihn stellt die protestantische Lehre, dass der einzelne Christ unmittelbar zu Gott sei, einen Rückfall in die Illusionen des Fetischismus dar.

Warf Kant dem "Pfaffentum" selbst noch der lutherischen Amtskirche vor, es würde den Christen seiner moralischen Freiheit berauben und durch seine "Fetischmacherei" die Wiederkehr längst überwundener religiöser Verhaltensweisen begünstigen, so steht umgekehrt für Comte der Gläubige, der sich einbildet, auf die Vermittlung des Klerus verzichten zu können, wieder auf einer Stufe mit dem primitiven Fetischdiener. Beide wissen zwar um das Bedürfnis des Gläubigen nach materiellen Manifestationen des Transzendenten. Doch während Kant in diesem Bedürfnis das entscheidende Hindernis auf dem Weg zu einer wirklichen Ethisierung der Religion erkennen zu können glaubt, will Comte es in der "heiligen Trinität" der neuen Religion des Positivismus aufgehoben sehen. Deutlich wird so an den unterschiedlichen Bewertungen der beiden Denker, wie anhand des Fetischismus religiöse Kontroversen verhandelt werden, die die Gemüter auch noch im Zeitalter der Säkularisierung heftig bewegten. Der Vorwurf des Fetischismus ist die Waffe, mit der man die jeweils andere Seite bekämpft. Fetischisten – das sind immer nur die anderen, gleichgültig of Katholiken, Protestanten oder Afrikaner.

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